✗ 26. | E V E L I N E

Irritiert blinzelte ich und ließ die Menschen an mir vorbeiziehen. Eine ungewöhnliche Ruhe beherrschte meine Gedanken. Ich war in der Stadt. Warum war ich nochmal dort? Meine Erinnerungen kehrten, wage zurück. Ich wollte Lebensmittel kaufen, die es im Dorfladen in der Nähe des Ferienhäuschens meiner Eltern, nicht gab. Meine Schläfen begannen zu pochen. Ich blickte verwundert auf ein Kästchen in meiner rechten Hand. Zögerlich öffnete ich das Samt-Kästchen und fand eine goldene Kette vor. Zwei Flügel, die sich kreuzten, zierten sie als Anhänger.

Warum hatte ich das gekauft? Ich war doch nur wegen Lebensmittel hier, oder?

Das Pochen meiner Schläfen wurde stärker. Mit schmerzverzerrtem Gesicht steckte ich das Kästchen in meine Jackentasche.

»Hey! Eveline! Ist alles in Ordnung?« Erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr herum. Mit besorgter Miene schaute mich meine Abteilungsleiterin Frau Ral an. »Du wurdest plötzlich so still. Ich habe einen richtigen Schreck bekommen«, erklärte sie und lächelte. Da war sie nicht die einzige. Ich stand vollkommen neben mir. Als wäre ich aus einem Traum erwacht, doch mein Verstand würde weiterhin schlafen.

Seit wann sprach sie mich mit Vornamen an? Hatten wir uns zufällig getroffen?

»Ich ... bin mir nicht sicher«, antwortete ich brüchig. »Mir geht es plötzlich nicht so gut.«

»Ist dir schwindelig? Soll ich dich nach Hause begleiten, oder in das Ferienhaus deiner Eltern?«, erkundigte sich Frau Ral besorgt und wollte meine Schulter streicheln. Ein innerer Impuls ließ meinen Körper zurückweichen. Irgendetwas sagte mir, dass etwas nicht stimmte. Aber ich wusste absolut nicht, was.

Verwirrt blinzelte meine Abteilungsleiterin. »Ich mache das gerne, Eveline. Das Wohlergehen meiner Kollegen ist mir wichtig. Das weißt du doch.«

Ich schluckte schwer. Was war das für ein Druck in meiner Brust? Ich fühlte mich benommen und eine unbeschreibbare Schwere erfüllte meinen Kopf. »I-Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen«, entgegnete ich und versuchte gefasst zu klingen. »Aber ich schaffe es schon. Ich rufe mir einfach ein Taxi.«

Frau Ral zog ihr Handy aus der Hosentasche. »Nichts da! Ich will dich sicher zu Hause wissen, Eveline.« Ihre Finger tippten auf das Display. »Ich rufe uns ein Taxi und dann begleite ich dich. Keine Sorge, die Rechnung geht auf mich.«

In meinem Kopf drehte sich alles. Kein Gedanke war klar sortierbar. Angestrengt versuchte ich mich daran zu erinnern, wo ich Frau Ral in der Stadt getroffen hatte. Ich hatte noch nie einen Blackout gehabt. Nun ja, früher vielleicht nach ein paar übertriebenen Partys, aber sonst. Sicher, ich war das Wochenende zu dem Ferienhaus meiner Eltern gefahren, um den Kopf freizubekommen. Doch so überarbeitet war ich nicht, oder? Weswegen war ich sonst dort? Ich wollte meine Gedanken sortieren. War Stress auf der Arbeit der wirkliche Grund gewesen? Ich erinnerte mich nicht. Jedoch wusste Frau Ral, dass ich im Ferienhaus war, also musste es wegen Überarbeitung sein, oder? Was für einen Grund sollte es sonst geben?

»Eveline ...«

Ein innerlicher Schreck fuhr durch meine Glieder. Überfordert schaute ich mich um. Es war jedoch nur Frau Ral in meiner Nähe, die gerade telefonierte. Aber ich hatte deutlich gehört, wie mich jemand beim Namen genannt hatte. Es war eine männliche Stimme gewesen. Eine Stimme, dessen Klang mein Herz seltsamerweise schneller schlagen ließ. Doch woher kam sie? Was war nur los mit mir?

Das Pochen meiner Schläfen wurde schlagartig intensiver, so stark, dass ich kurzzeitig die Augen zusammenkniff.

»Das Taxi holt uns am Markt ab. Alles andere klären wir, wenn du drinnen sitzt«, meinte Frau Ral, nachdem sie das Telefonat beendet hatte.

»Sagen Sie ... war ... war ich in Begleitung?«, erkundigte ich mich mit matter Stimme.

Frau Ral hob irritiert die Brauen. »Was? In Begleitung? Nein Eveline. Warum auch? Wir hatten uns doch hier verabredet, um über deinen eventuellen Ausstieg beim neuen Projekt zu sprechen«, erklärte sie. »Du bist die letzten Wochen so gestresst gewesen.«

»Ach, ist das so ...?« Ungläubig senkte ich den Blick und fragte mich seit wann ich und Frau Ral so eine Beziehung zueinander hatten, dass sie mich schon duzte. Hatte ich mich mit ihr in der Stadt verabredet, obwohl es mir offensichtlich nicht gut ging? Ein Telefonat wäre doch ausreichend, um etwas zu besprechen, oder? Ich fühlte mich von Minute zu Minute unbehaglicher.

»Eveline, du musst dich nicht verstellen. Bitte sei ehrlich. Es ist keine Schande, zuzugeben, überfordert zu sein. Du leistest exzellente Arbeit«, versuchte Frau Ral mir beruhigend zuzusprechen. Meine Überforderung galt auch nicht irgendwelchen Stress auf der Arbeit, sondern vielmehr der momentanen Situation. Diese erschien mir surreal, wie eine Wahnvorstellung. Aber ich träumte nicht. Der Stadtlärm, die Menschen, die kalte Luft, ich nahm alles bewusst wahr. Doch warum erschien mir irgendetwas suspekt?

»Ich danke Ihnen, wirklich. Doch ich ... schaffe das schon allein. Sie müssen mich nicht begleiten, geschweige denn das Taxi bezahlen«, sagte ich bestimmend und wollte mich der Situation so schnell wie möglich entziehen. Bis zum Markt würde ich es noch allein schaffen und dann war ich wieder im Ferienhaus meiner Eltern. Wenn ich erst einmal zur Ruhe kommen würde, würden die Kopfschmerzen und das seltsame Gefühl in meinen Inneren verschwinden. Ohne weiter auf Frau Ral zu achten, wandte ich mich um und ging Richtung Markt.

»Nichts da! Ich habe eine Verantwortung!«, untermauerte Frau Ral ihren Standpunkt hartnäckig und schloss zügig zu mir auf. »Sollte dir jetzt auf dem Weg etwas passieren, oder du brichst vielleicht sogar zusammen, kann ich das nicht mit meinen Gewissen vereinbaren. Lass mich dich wenigstens begleiten, bis du sicher im Taxi sitzt, Eveline, bitte.«

Ich presste die Lippen zusammen. Natürlich konnte ich ihre Sorge nachempfinden, aber Frau Rals Art mir gegenüber kam mir seltsamerweise anders vor. In der Mensa wirkte sie zwar freundlich und fürsorglich, aber dennoch autoritär. Nun kam sie mir mehr wie eine befreundete Kollegin vor als eine Abteilungsleiterin. Oder war das schon immer so gewesen und mir wurde es jetzt erst wirklich bewusst? Mir fiel kein weiteres Argument ein, Frau Rals Hilfe abzulehnen, also akzeptierte ich es wohl oder übel dass sie mich bis zum Markt begleitete.

»Sag mal, dieses Schmuckkästchen, dass du vorhin eingesteckt hast. Die Kette sah schön aus«, merkte Frau Ral kontextlos nach einigen Minuten an. »Ich muss ja auch zugeben, nicht an Schmuck vorbeigehen zu können«, fügte sie kichernd hinzu.

Ich schob nachdenklich die Brauen zusammen. Das Kästchen. Hatte ich mir diese Kette gekauft? Sie sah ziemlich teuer aus. Normalerweise überlegte ich doch immer viermal, ob ich mir so etwas kaufen sollte. Aber ich erinnerte mich daran, vor der Vitrine gestanden zu haben, dabei erregte die Kette sofort meine Aufmerksamkeit. Der Anhänger hatte ein Gefühl in mir ausgelöst. Doch was für eines war es, und warum?

Ich entgegnete auf Frau Rals Bemerkung nur ein Lächeln. Dass ich eigentlich nicht mal genau wusste, warum ich den Schmuck gekauft hatte, behielt ich für mich. Sonst würde sie mich noch womöglich direkt ins Krankenhaus fahren. Aber, dass ich solche enormen Erinnerungslücken hatte, bereitete mir selbst Sorge. Jedoch wollte ich mich nicht hineinsteigern. Ruhe war das einzige, das mir als erstes sinnvoll erschien, um die Situation weiter zu beobachten. Nach wenigen Minuten waren wir am Markt angekommen und setzten uns auf eine Bank, die vor den Parkplätzen für Taxis und Krankenfahrten reserviert waren. Frau Ral schien die Stille zwischen uns unbehaglich zu sein, denn sie versuchte krampfhaft Gesprächsthemen aufzubauen. Selbst meine Abwesenheit, während ich mein Handy rausholte, um Nachrichten zu überprüfen, hielt sie nicht davon ab, wenigstens für fünf Minuten ruhig zu sein.

»Ach, Eveline, dürfte ich vielleicht die Kette betrachten, bitte?«, erkundigte sie sich schwärmend. Auf das Display meines Handys starrend, übergab ich ihr gedankenverloren das Kästchen. Denn ich war froh, dass mir eine Person geschrieben hatte, die ich nicht als nervig empfand. Jedoch, betonte auch Erwin in seiner Nachricht, denn Stress bei mir, weswegen er mich gerne beim Ferienhaus meiner Eltern besuchen würde. Es war im Grunde schön zu wissen das sich die Menschen um mich herum um mein Wohlergehen sorgten, doch warum hinterließ es bei mir den Eindruck, als sei es Scheinheilig?

Ich antwortete Erwin kurz und knapp, wann ich ungefähr am Ferienhaus ankommen würde. Seine Anwesenheit war mir tausendmal lieber als Frau Rals.

»Argh!« Irritiert schaute ich vom Display auf, als Frau Ral ein Zischen von sich gab und das Schmuckkästchen auf den Steinboden fiel. Mit verzerrtem Gesicht hielt sie sich die Hand, als ob sie etwas verletzt hätte.

Zögerlich hob ich das Kästchen auf und steckte es zurück in meine Jackentasche. »Alles in Ordnung?«

Frau Ral schien zunächst nachdenklich, bis sie peinlich berührt lächelte. »J-Ja, es tut mir leid. Irgendwie ist es mir aus der Hand gefallen. Ich hoffe, die Kette ist nicht beschädigt«, sagte sie und rieb sich ihre Hand. Skeptisch schob ich die Brauen zusammen. Die Haut an Frau Rals betroffener Hand war gerötet, fast wie bei einer Verbrennung.

»Ist wirklich alles in Ordnung? Ihre Hand wirkt -«

»Nein, nein, alles in Ordnung, Eveline«, schnitt sie mir das Wort ab. »Es ist jetzt wichtig, dass du gut zu Hause ankommst. Soll ich dich nicht doch lieber begleiten?«

»Nein, das brauchen Sie wirklich nicht. Ein guter Freund von mir schaut nachher nach dem Rechten. Sie müssen sich also keine Sorgen machen«, erklärte ich und versuchte krampfhaft höflich und gefasst zu klingen, denn allmählich wurde mir Frau Rals Fürsorge zu aufdringlich.

Zum Glück bog auch schon ein Taxi zu den Parkplätzen ein. Ob es das war, dass Frau Ral bestellt hatte, war mir im Moment relativ egal. Ich wollte nur weg von diesem Menschen belegten Ort und in Ruhe meine Gedanken sortieren. Frau Ral stand mit mir zusammen von der Bank auf und ging zielstrebig zum Taxi vor. Ihrem Lächeln und Gestikulation entnahm ich, dass es das war, was sie bestellt hatte. Ohne dass ich zum Wort kam, drückte Frau Ral dem Fahrer Scheine in die Hand und sagte ihm die Adresse des Ferienhauses meiner Eltern.

»Dass Sie mir die junge Frau ja gut nach Hause bringen«, ermahnte Frau Ral den Fahrer spielerisch. Dieser nickte nur und machte ein Gesicht, als würde Frau Ral anzweifeln, dass er einem Navi folgen könnte. Hastig öffnete ich die Tür des Wagens, ehe ich mein Portemonnaie herausholte. Keinesfalls wollte ich meiner Abteilungsleiterin etwas schuldig bleiben.

Doch Frau Ral winkte ab und umarmte mich stattdessen. »Alles gut. Ich mache das gerne, Eveline. Mir ist wichtig, dass du gut ankommst und dass es dir bald besser geht«, sagte sie ruhig, während sie die Umarmung auflöste. Ich wusste nicht recht, was ich erwidern sollte. Überfordert lächelte ich und bedankte mich, dann stieg ich ins Taxi. Als der Fahrer den Motor startete und den Wagen in Bewegung setzte, wurde mir schlagartig leichter. Alle Anspannung wich aus meinem Körper. Tief seufzend lehnte ich mich tief in den Sitz zurück und sah gedankenverloren aus dem Fenster.

»Na, den Stadtbummel beendet?«, fragte der Fahrer amüsiert nach. Irritiert schaute ich zu ihm nach vorne und unsere Blicke trafen sich kurzzeitig im Rückspiegel. Ich erinnerte mich, der gleiche Fahrer hatte mich heute auch in die Stadt gefahren.

»J-Ja so ziemlich«, antwortete ich leise.

»Hatten Sie heute so eine Art Klassentreffen? Die Frau an Ihrer Seite war bestimmt Ihre beste Freundin von damals, oder?«

Die Kommentare des Fahrers waren zwar seltsam, aber ich empfand sie noch lange nicht so unangenehm wie bei Frau Ral. »Nein«, entgegnete ich. »Das ist meine Chefin. Ich habe sie zufällig in der Stadt getroffen.«

»Ah, verstehe. Und Ihr Freund ist in der Stadt geblieben?«

Ungläubig schob ich die Brauen zusammen. »Meinen ... Freund?«

»Ja, ich habe Sie doch zusammen mit einem jungen Mann heute Mittag in die Stadt gefahren. Das weiß ich genau. Sie wollten ihn partout nicht die Rechnung bezahlen lassen«, schmunzelte der Fahrer. Ich blinzelte irritiert. Ich hatte keinen Freund, geschweige denn einen Lover, oder so etwas! Erwin war der einzige männliche Freund in meinem Umfeld.

»Ähm ... ja ... er ist dageblieben. Er ... er wohnt dort ganz in der Nähe«, log ich. Zu meinem Glück ließ der Fahrer meine Aussage stehen und hinterfragte nichts weiter. Was hatte das zu bedeuten? Frau Ral meinte, ich sei mit keiner Begleitung da gewesen. Meine Schläfen begannen erneut zu pochen. Ich brauchte dringend Ruhe und eine Person, mit der ich über dies alles reden musste!

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