1- Samuel
*Sechs Monate zuvor*
Er hasste Hochzeiten. Aber diese ganz besonders. Seine Schwester war seit gestern noch unausstehlicher als während der übrigen Hochzeitsvorbereitungen. Heute Früh hatte sie es allerdings auf die Spitze getrieben.
„Warum hast du denn nicht das angezogen, das ich dir rausgelegt habe? Das würde dir viel besser stehen", fragte sie nach einem kurzen Blick durch den Spiegel auf ihn.
„Das war ein Kleid", stellte Samuel das Offensichtliche fest.
„Und? Lilo ..."
„Sammy", unterbrach er seine Schwester. Seine Stimme klang müde, erfüllt von dem Seufzer, den er unterdrückte.
Seine Schwester verdrehte die Augen. „Sam-my." Sie überbetonte jede Silbe, als wäre er, der sich daneben benahm. Nur, weil sie nicht verstand, dass er sich in dem Körper, in dem er geboren wurde, nicht wie er selbst fühlte. Er war keine Lieselotte. Aber Samuel fühlte sich richtig an. Samuel, der einen Anzug zu der Hochzeit seiner Schwester trug. Samuel, der später bei der Zeremonie die Ketubba als einer der Trauzeugen unterschrieb, weil er erwachsen und ein Mann war.
Als ob, schalt er sich. Aber man darf noch hoffen.
Vielleicht hatte sein Vater sich für ihn stark gemacht vor Sarah. Schließlich hatte er zumindest versucht, Verständnis für Samuel zu zeigen. Im Gegensatz zu seiner Schwester.
„Du siehst sehr hübsch aus", lenkte Samuel ein. Weil Sarah seine Schwester war und weil es ihr Hochzeitstag war. Und weil es stimmte. Sie trug ein Kleid, das sich bis zu ihrer Taille an sie schmiegte, um in einem langen Rock zu Boden zu fließen. Samuel war sich sicher, dass dieser Schnitt einen besonderen Namen hatte, aber es interessierte ihn nicht. In ihr Haar eingeflochten war der Schleierreif. Da Sarah Sarah war und glaubte, eine Hochzeit wäre ein einmaliges Lebensereignis, ergoss sich der Schleier in einer Schleppe. Samuel stolperte fast über den weißen Tüll, als er näher zu Sarah trat.
„Mach es nicht kaputt", zischte sie und zog den Stoff zu sich. Ohne viel Erfolg. Es lag immer noch eine lange, weiße Bahn quer durchs Zimmer. Die ersten Takte zu „When will my life begin" aus „Tangled" spielten in Samuels Kopf und er lächelte. In Sarahs Fall wäre die Antwort: heute.
Und du musst nur noch sechs Monate durchhalten, dann kannst du all dem hier entfliehen, erinnerte er sich. Seit seiner Entscheidung, seinen Traum zu verwirklichen und Schauspieler zu werden, zählte er die Tage. Das unwichtige Detail, dass er noch nirgends angenommen worden war, ignorierte er gekonnt. Er wollte nur weg aus diesem Kaff, in dem ihn niemand als den sah, der er war. Keiner bis auf seinen Opa Hans.
Seit dem Moment, als Samuel sein Coming-Out vor ihm hatte, hatte er ihn so akzeptiert, wie er war. „Du bist mei' Enkerl und i hab di' liab. Da ändert si nix", hatte er gebrummt. Vielleicht würde der heutige Tag doch nicht so schlimm, Samuel würde ihn einfach mit Hans verbringen.
Samuel legte eine Hand auf Sarahs Schultern und lächelte sie im Spiegel an. Sie erwiderte es kurz und ein wenig von der Anspannung, die er seit Betreten des Raums gefühlt hatte, wich aus seinen Schultern.
„Bist du nervös?"
Sie blinzelte ihn aus braunen Augen an, die er mit ihr teilte und schüttelte den Kopf.
„Bist du bereit?" Daraufhin brach ein wahres Strahlen auf ihrem Gesicht aus.
Hochzeiten würde er wohl nie mögen, aber diese Art von Liebe war beneidenswert. Er wünschte sich, die Person zu finden, die ihn so aufblühen ließ und mit der er sein Leben (in welcher Art auch immer) verbringen konnte.
*
Nachdem sein Vater Sarah siebenmal um den Bräutigam geführt hatte und sie sich rechts neben ihn stellte, verlas der Rabbi den Ehevertrag, die Ketubba. Samuel verstand kein Aramäisch und ließ stattdessen den Blick über die Hochzeitsgäste schweifen. Durch den weißen Schleier der Chuppa sah er die Gesichter nicht genau, aber die Synagoge war brechend voll. Gefühlt die gesamte jüdische Gemeinde Eisenstadts war anwesend. Davids Familie war groß und Sarah hatte viele Bekannte durch ihre ehrenamtlichen Engagements in ihrer Synagoge. Ein Meer aus Kippas, Gebetschals und zurechtgemachten Perücken oder Hüten. Da fiel er aus der Reihe mit seinem weinroten Jackett. Zwar trug er ebenso wie die anderen Männer eine Kippa, aber er erntete viele abschätzende Blicke. Vielleicht hättest du doch traditionell bleiben sollen. Aber keines der schwarzen Sakkos, die er probiert hatte, waren groß genug geschnitten. Er hätte seinen Binder tragen müssen und das wäre an einem Tag wie heute gefährlich geworden. So verdeckte das Jackett alles. Er durfte es nur nicht ausziehen.
„Mit diesem Ring bist du mir angeheiligt, nach dem Gesetz vor Moses und Israel", riss die tiefe Barritonstimme Davids Samuel aus den Überlegungen.
Er hörte Tuscheln. Eigentlich steckte der Bräutigam der Braut den Ring vor der Ketubba an. Doch Sarah wollte es umgekehrt.
„Ist doch viel romantischer auf die Weise. Denn dann weiß er schon, worauf er sich einlässt und verspricht trotzdem bei mir zu bleiben", hatte sie eines Abends erklärt, als sie bis tief in die Nacht Einladungen verpackten.
David steckte Sarah den Ring an den rechten Ringfinger, während der Rabbi den Ehevertrag auf einem Klemmbrett vor sie hielt. Ihr Vater trat vor und streifte Samuels Schulter. Unwillkürlich spannte er sich an. Seine Haut war zu eng und spannte. Dieser Körper war nicht seiner und Berührungen erinnerten ihn daran. Selbst so flüchtige.
Samuel steckte eine Hand in die Hosentasche und fuhr mit dem Daumen Konturen eines Pins nach. Sein Opa hatte den für ihn gemacht. Nachdem er sich als trans geouted hatte, war Hans ein paar Tage später zu ihm gekommen und hatte ihm den Pin mit der Flagge für Transgeschlechtlichkeit in die Hand gedrückt. Samuel hatte damals Tränen unterdrücken müssen, auch jetzt schluckte er gegen einen Kloß im Hals.
Als Nächstes trat einer von Davids Brüdern zum Rabbi und nahm den Stift von ihm entgegen. Warte. Erst sein Vater und nun der Bruder? Samuel linste über Sarahs Schulter auf die Ketubba. Davids Sauklaue befand sich am untersten Rand neben Papas sauberem Namen. Und nun dem des Bruders. Das waren drei. Etwas sank in ihm, als würde ein Stein in seinen Magen fallen und liegen bleiben. Samuel bekam keine Luft mehr und er spürte das Gewicht seiner Brüste mehr denn je. Falsch. So falsch. Er in diesem Körper. Ihm schwindelte und er sah Sternchen, hielt sich aber aufrecht. Sein Vater, der nichts gegen sie sagte. In seinen Augenwinkeln brannte es, aber er würde nicht vor versammelter Menge weinen. Er weinte nicht. Stattdessen drehte er sich um und schlüpfte unter dem Chuppa hervor. Erregte er Aufmerksamkeit? Tuschelten sie über ihn? Es war ihm zu viel, er musste hier weg.
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Ich bin mal wieder zu ungeduldig. Eigentlich ist diese Geschichte mein erster Versuch mit der Schneeflocken-Methode zu blocken, aber da mich mein Körper gerade zu einer Auszeit zwangsbeglückt (gesundheitlich und psychisch) veröffentliche ich doch das erste Kapitel jetzt schon. Zumindest zum Teil.
Ich hab versucht, Samuels Gefühle so zu beschreiben, wie ich es nach Gesprächen mit Transgender-Menschen oder Texten über ihre Erfahrugen verstanden habe, was es heißt, sich nicht in dem Körper zu Hause zu fühlen, in den man geboren wurde. Aber ich habe es selbst nicht erlebt, wenn ihr andere Erfahrungen gemacht habt und die teilen wollt (ob in den Kommentaren oder privat, falls ihr euch dann sicherer fühlt), könnt ihr mir gerne schreiben und ich werde sie einfließen lassen oder berücksichtigen. Auch wenn ihr sonst irgendetwas zu sagen habt, schreibt es in die Kommentare. Ich will wissen, was ihr so vom ersten Kapitel und der Idee haltet ^^
Eure drachenelfe
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