Zweites Kapitel

„Du hast wirklich Nerven, Luke", sagte ich und richtete meinen Speer auf ihn. „Warum sollte ich dir überhaupt zuhören?"

Luke stand da, ruhig und fest, als würde er wissen, was er sagen musste, um mich zu erreichen. „Weil du genau weißt, dass du die einzige bist, die verstehen kann, was hier auf dem Spiel steht", sagte er ruhig. „Du hast das gleiche durchgemacht wie ich. Du weißt, wie es sich anfühlt, von den Göttern im Stich gelassen zu werden."

Ich biss die Zähne zusammen und versuchte, mich nicht von seinen Worten treffen zu lassen. „Du hast uns verraten, Luke. Und jetzt kommst du hierher und redest von ‚Verstehen'? Was willst du von mir?"

„Ich will nicht, dass du dich wieder in den Schatten zurückziehst", sagte er und trat einen Schritt näher. „Ich will, dass du erkennst, was du bist, was du werden kannst. Du hast alles, was es braucht, Thalia. Die Götter haben dich im Stich gelassen, genau wie mich. Aber du hast nie aufgehört zu kämpfen. Und du kannst immer noch gewinnen."

„Gewinnen?" Ich schnaubte und drehte mich weg, als der Schmerz der alten Erinnerungen wieder in mir aufstieg. Die Erinnerungen an die Götter, die uns einfach ignoriert hatten, als wir jung und verwundbar waren. Die Erinnerungen daran, wie sie uns nicht beschützten, als wir Hilfe am meisten gebraucht hätten. „Du hast uns einfach verraten. Du hast dich für die Titanen entschieden und uns allen den Rücken zugewendet. Und jetzt stehst du hier und versuchst, mir zu erklären, warum du das getan hast?"

Luke seufzte leise und sah mich an, als würde er wissen, dass meine Wut nicht wirklich gegen ihn gerichtet war. „Du hast das nie wirklich verstanden, oder?", sagte er ruhig. „Du hast es nie wirklich verstanden, warum ich gegangen bin. Warum ich mich den Titanen angeschlossen habe."

„Weil du an den Göttern gezweifelt hast.", sagte ich. „Und klar, das tue ich auch, aber das ist kein Grund, mich den Titanen anzuschließen. Sie würden uns doch nicht besser behandeln, wenn sie die Macht erst einmal haben."

„Vielleicht.", sagte er leise. „Aber immerhin haben sie uns im Gegensatz zu den Göttern nie benutzt. Die Götter haben uns nie wirklich als etwas anderes als Werkzeuge gesehen. Du bist mehr als das, Thalia. Du weißt, dass du das bist. Du solltest nicht Spielball der Götter sein. Niemand sollte das."

„Ich weiß", flüsterte ich, als eine Erinnerung hochkam. Der Tag, als ich in den Baum verwandelt wurde. Wie Zeus - mein eigener Vater - mich zu seinem eigenen Vorteil benutzte, anstatt mich zu retten. 

„Du hast das nie verdient", fuhr Luke fort, als er den Schmerz in meinen Augen sah. „Du warst ein Kind, Thalia. Ein Kind, das sich nach Familie und Liebe sehnte. Und was haben die Götter getan? Sie haben dich in einen Baum verwandelt, anstatt dich zu retten. Sie haben dich dort gelassen, in einem Zustand, der schlimmer war als der Tod."

„Hör auf", flüsterte ich, meine Stimme brüchig. „Hör einfach auf, mir das zu sagen."

„Warum?", fragte er, seine Stimme sanft, aber fest. „Weil du es nicht hören willst? Du weißt, dass es die Wahrheit ist. Du hast gelitten, Thalia. Sie haben dich im Stich gelassen, und doch kämpfst du noch für sie, in der Hoffnung, etwas zu bekommen, was sie dir nie geben werden. Respekt. Anerkennung. Freiheit."

„Und was hat das mit dir zu tun?", fragte ich, meine Stimme zitterte, aber ich konnte die Frage nicht zurückhalten. „Was hast du dir verdient, Luke? Was hast du bekommen? Du bist der, der uns verraten hat, der uns verlassen hat."

„Ja", sagte er leise, „aber ich habe mich entschieden, nicht für die Götter zu kämpfen. Und auch nicht für die Titanen, wenn du es genau nimmst. Ich kämpfe für uns, für all die, die genauso gelitten haben wie wir. Die genau so von den Göttern ignoriert wurden. Du bist eine von uns, Thalia. Du hast das gleiche erlebt wie ich. Und du verdienst es, zu entscheiden, was du tun willst. Du verdienst es, zu wählen, nicht als Spielball der Götter, sondern als jemand, der sein eigenes Schicksal bestimmt."

„Und du willst, dass ich an deiner Seite stehe, weil du glaubst, dass ich das verdiene?", fragte ich, als mein Herz schneller schlug.

„Weil ich weiß, dass du das verdienst", sagte er, seine Stimme hatte einen fast vertrauten Klang. „Weil ich weiß, dass du der Einzige bist, der es verstehen kann. Wir könnten alles verändern, Thalia. Wenn du es willst."

Ich schwieg, die Worte in meinem Kopf wirbelten wie ein Sturm. Ich wusste, dass er recht hatte, aber es fühlte sich so falsch an, so endgültig. Und dennoch...

„Du warst damals für mich da", sagte er plötzlich, „du warst immer für mich da. Ich war nicht der Einzige, der an dich geglaubt hat. Wir haben nie geplant, die Welt zu verändern, Thalia. Wir waren einfach Kinder, die nur überleben wollten, weil die Götter uns im Stich gelassen haben. Du hast dich nie an mich gewandt, aber du weißt, was ich meine. Wir haben einfach versucht, irgendwie zu leben."

„Du warst... für mich da?", fragte ich, der Schmerz in meiner Brust wuchs.

„Ja", sagte Luke sanft. „Ich war verliebt in dich, Thalia. Und ich dachte, du würdest es vielleicht auch so fühlen. Aber die Welt hat uns auseinandergerissen, und jetzt... jetzt kämpfe ich nicht nur für uns, sondern für das, was wir zusammen hätten haben können. Bitte. Komm mit mir."

Ich fühlte, wie sich etwas in mir veränderte, als ich in seine Augen sah, die so viel Schmerz und Hoffnung trugen. Und dann, fast wie ein Wispern im Wind, hörte ich die Stimme in meinem Kopf – die, die mich nie verlassen hatte. Warum tust du es nicht einfach? Warum nicht? Warum verrätst du nicht einfach diejenigen, die dich schon vor Jahren verraten haben?

Ich schloss die Augen, zögerte einen Moment. Es war keine einfache Entscheidung. Aber tief in mir wusste ich, dass es der einzige Weg war, der mir noch blieb.

„Okay.", hörte ich mich selbst sagen. 

„Nein!", fuhr Percy dazwischen. „Thalia, das kannst du nicht tun!"

Ich drehte mich um und sah Percy in die Augen, sah, wie geschockt er von meiner Entscheidung war. „Es tut mir leid, Percy.", sagte ich und ging. „Aber Luke hat Recht. Wir sind den Göttern egal. Und ich habe meinen Glauben in sie verloren."

„Thalia, bitte!", flehte Grover. „Du gehörst doch zu uns!"

Ich drehte mich ein letztes Mal um und flüsterte kaum hörbar: „Vielleicht bin ich ja genau da, wo ich wirklich hingehöre."

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