Teil 21

*Liljas Sicht*

Ich musste schmunzeln, als er sich, sichtlich überrascht, aufs Frühstück stürzte. Die ganze Zeit musste ich lächeln. Hatte mit einmal einfach nur noch gute Laune und fühlte mich stark. So unglaublich stark. Hatte das Gefühl, das mich heute nichts erschüttern kann. Nachdem essen räumten wir zusammen die Küche auf. Ich übernahm das abwaschen. Denn ich hasste abtrocknen. Halt. Woher? Das konnte ich doch eigentlich gar nicht wissen. War es das erste, an was ich mich erinnern konnte? Das ich abwaschen hasste?

"Worauf hast du heute Lust? Wollen wir ein bisschen draussen spazieren gehen? Ein paar Spiele vor dem Kamin spielen? Oder einfach nur auf der Couch lümmeln und ein Film schauen?" wurde ich da von Jukka aus meinen Gedanken gerissen. Ich sah mich kurz um, konnte aber keinen Block finden und überlegte, was ich heute machen wollte. Ich sah gedankenverloren aus dem Fenster und da fiel mir die Situation wieder ein, als Tapsi raus musste. Ich hatte mich nicht getraut. Würde ich mich nun trauen? Ich wollte es probieren. Mit Jukka an meiner Seite konnte nichts schief gehen. Ich hob mein Arm und zeigte aus dem Fenster.

"Möchtest du raus gehen?" fragte Jukka mich und ich nickte langsam. Ja, ja ich wollte raus. Ich wollte es versuchen und mir selber zeigen, das ich es schaffen kann. Ich habe heute ein Wort gesprochen, ich habe mich, auch wenns eigentlich unwichtig war, an etwas erinnert. Da wird das doch ein Spaziergang werden. Im wahrsten Sinne des Wortes.

"Dann werden wir das tun. Es ist herrlich draussen, auch wenn es eiskalt ist" grinste er mir zu. Nachdem wir in der Küche fertig waren, gingen wir hoch um uns warm anzuziehen. Ich setzte mich aufs Bett und atmete tief durch. Soviel erlebt. Soviel erreicht. Und es war noch nicht mal mittags.

Da fiel mir wieder ein, das ich ja Rafa geschrieben hatte. Ich nahm das Handy und schaute drauf. Er hat geantwortet. Ich öffnete, ohne zu zögern, die Sms und las sie mir durch.

"Hallo Lilja. Warum nicht? Ein Freund kann man doch immer gebrauchen. Zum Reden. Zum Spaß haben. Zum kuscheln. Einfach, um nicht alleine zu sein ;) Lg Rafa" Irgendwie ließ mich diese Nachricht schmunzeln. Er hatte schon recht. Jukka war so ein Freund. Doch konnte Rafa mir auch so ein Freund werden? Oder nur ansatzweise? Jukka und Tapsi mochten ihn, warum also nicht, wie er so schön schrieb.

Ich antwortete, "Dann lass uns versuchen, Freunde zu werden. Doch erwarte nicht zu viel und nicht zu schnell. Erwarte am besten gar nichts. Aber ich geb mir mühe. Versprochen" und schon schickte ich sie ab. Hoffentlich sorgte das nicht, für Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Ich legte das Handy wieder weg und zog mich endlich an. Die Jacke war etwas zu groß, doch so hielt sie bestimmt sehr warm. Nachdem ich fertig war, ging ich lächelnd die Treppe runter zu Jukka, der schon auf mich wartete. Tapsi natürlich brav an seiner Seite.

Vor dem Türrahmen blieb ich jedoch wie angewurzelt stehen und auch das lächeln war verschwunden. Was tat ich hier eigentlich? Das geht nicht. Ich konnte da nicht raus. Ich war noch nicht so weit. Ich spürte wieder dieses kribbeln. Langsam schlich es an meiner Wirbelsäule hoch und breitete sich von dort im ganzen Körper aus. Meine Atmung wurde etwas schneller und der Punkt in der Landschaft draussen, den ich die ganze Zeit anstarrte, wurde langsam wieder schwarz. Meine Beine und Arme fühlten sich an, als ob sie eingeschlafen wären. Alles kribbelte und juckte. Wo war mein Mut hin? Die Zuversicht, heute alles schaffen zu können. Weg. Als wäre es nie da gewesen. Ich spürte, wie jemand meine Hand nahm und wollte meine entziehen, doch es ging nicht. Mein Körper hörte nicht auf mich.

"Lilja. Schau mich an" hörte ich Jukka und es klang, als ob er weit weg wäre. Er legte seine Hand vorsichtig unter mein Kinn und hob mein Gesicht hoch. So das ich, wie von alleine, in seine Augen schauen musste. In diese grünen Augen, in denen soviel Wärme lag.

Seinen Augen strahlten mich förmlich an. So viel Lebensfreude war in ihnen zu erkennen und auch sorge. Sorge um mich? Sein Blick fesselte mich regelrecht.

"Bleib hier. Bei mir. So wie ich bei dir bin" hörte ich ihn leise reden. Die Hand drückte meine etwas fester und es konnte nur Jukka seine sein. Langsam bewegten sich meine Finger und verschränkten sich in Jukkas. Ich kämpfte gegen das verlangen, mich einfach fallen zu lassen, an. Zurück in das schwarze Loch, wo irgendwie alles einfach war und sich doch falsch anfühlte, wollte ich nicht. Es war kalt dort, einsam. Niemand war dort, um mir zu helfen. Doch hier war ich nicht allein. Nicht einsam. Nicht hilflos. Kalt. Ja, das war es hier. Aber eine andere Kälte. Eine Kälte, gegen die man sich schützen konnte. Die einem nicht die Luft zum atmen abschnürte. Die einem nicht spüren lässt, wie das Herz immer langsamer und leiser schlägt. Bis es irgendwann ganz stehen bleibt. Nein, dorthin wollte ich nicht zurück. Nicht heute. Nicht morgen. Nie wieder. Tief in mir spürte ich, wie die Wärme zurück kam. Wie das kribbeln langsam nachließ. Und dieses starke Gefühl von vorhin zurück kehrte. Dieses Gefühl, der Unbesiegbarkeit. Dieses Gefühl, alles schaffen zu können. Dieses Gefühl, nicht allein zu sein. Dieses Gefühl, frei zu sein. Das Gefühl, meinen Weg selbst zu bestimmen und die nötige Kraft zu haben, um eben diesen Weg zu gehen. In genau diesem Moment fasste ich einen Entschluss. Ich wollte Leben. Wollte mich nicht mehr verkriechen. Und meinen leeren Kopf würde ich mit neuen Erinnerungen füllen. Es war, als wäre mit einmal alles einfach. Alles möglich. Ich weiß, ich würde es schaffen. Wer weiß, vielleicht eines Tages, sogar ohne Hilfe... Tapsi's Gebelle holte mich in die Wirklichkeit zurück. Sie stand hechelnd vor mir und schaute mich erwartungsvoll an. Ich spürte Jukkas Hand nicht mehr und sah mich ängstlich um. Was ich sah, ließ mich das atmen vergessen und ich sackte, kniend, in den Schnee.

*Jukkas Sicht*

Sie kam lächelnd die Treppe runter. Dick eingemurmelt, in einer viel zu großen Jacke. Doch das schien sie nicht zu stören. Immer noch lächelnd, kam sie auf mich zu. Je dichter sie kam, umso mehr konnte ich das strahlen in ihren Augen erkennen. Ich war fasziniert von ihnen. Dieses strahlen sah ich zum ersten mal. Doch innerhalb einer Sekunde wechselten ihre Augen die Farbe. Sie wurden dunkel. Fast schwarz. Das strahlen war weg und nur noch die pure Angst und Panik war erkennbar. Sie stand wie eingefroren da und starrte hinaus.

"Lilja. Schau mich an" sprach ich leise zu ihr, legte mein Finger unter ihr Kinn und hob, vorsichtig, ihren Kopf hoch zu mir, das sie mich anschauen musste. Mit der freien Hand nahm ich ihre Hand und hielt diese einfach nur fest.

"Bleib hier. Bei mir. So wie ich bei dir bin" flüsterte ich und sah ihr tief in die Augen. Sie sah mich an und doch sah es aus, als wenn sie durch mich hin durch sah. Zaghaft spürte ich, wie sie ihre Finger bewegte und diese mit meinen verschränkte. Sie machte den Eindruck, als wenn sie, innerlich, einen harten Kampf ausfechten würde. Kämpfe kleine Lilja und komm zurück. Bleib hier bei mir in der Wirklichkeit. Auch wenn hier nicht immer alles toll ist. Ich werde dich beschützen. Mit einmal setzte sich ihr Körper in Bewegung. Noch immer schien sie weit weg zu sein. Zentimeter für Zentimeter schlich sie vorwärts.

Ihre Finger lösten sich aus meinen. Ängstlich und doch Entschlossen ging sie weiter. Die Veranda lang, die zwei Stufen hinunter. Ich blieb vorsichtshalber dicht hinter ihr. Auch wenn ich den Eindruck hatte, das dies gerade unnötig war. Sie lief immer weiter. Sehr langsam und zögerlich. Doch sie lief. Wie in Trance. Kurz vor dem Tor stellte Tapsi sich vor Lilja und bellte. Kurz darauf drehte sich Lilja um. An ihrem Blick konnte ich erkennen, das sie wieder anwesend war. Ich lächelte ihr zu, während sie sich umsah. Ich sah, wie ihr der Atem stockte. In ihren Augen fing es an zu glänzen und sie sackte, kniend, in den Schnee. Ich hockte mich neben sie, berührte sie jedoch noch nicht.

"Vergiss das atmen nicht" flüsterte ich.

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