Kapitel XII: Zwischen Angst und Hoffnung
"Hallo? Idalia? Rhun?" Schon zum dritten Mal versucht der Sandmann, die beiden anzusprechen, jedoch vergebens. Mit einem genervten Seufzen lehnt sich der Wächter zurück. Mit den Fingern trommelt er auf den Tisch, um irgendwie die Stille erträglicher zu machen. Rhun und Idalia starren sich seit sicherlich einer Minute an, ohne zu blinzeln.
Zeke lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, während ihn eine Welle der Langeweile überkommt. Er war noch nie gut, Stille auszuhalten. Um ehrlich zu sein, hasst er sie sogar. Umso stiller es im Raum ist und er nichts zu tun hat, desto mehr schweifen seine Gedanken umher. Am ende endet er immer bei ihr - Iris.
Die Wände sind nicht wirklich besonders, wie jede Wand in der Sandburg, doch etwas daran zieht seine Aufmerksamkeit auf sich. Kleine Risse durchziehen die Wand neben ihm, kaum mehr als haarfeine Linien, die wie zögerliche Spinnenfäden entlang der Oberfläche verlaufen. Bis jetzt sind sie noch unbedeutend. Mit einem leichten Schulterzucken wendet sich Zeke ab, offensichtlich wenig beeindruckt von den feinen Rissen.
Als ihm auch beim umgucken langweilig wird, dreht er sich wieder zu seinem Bruder und seiner Nichte. Leicht überrascht ziehen sich seine Augenbrauen hoch, als er die Tränen sieht, die über die Wangen der Zahnfee laufen. Es gibt zwei Möglichkeiten, die Zeke in den Sinn kommen: Entweder tränen Rhuns Augen, weil er echt lange nicht mehr geblinzelt hat, oder er durchlebt gerade dasselbe, was der Sandmann vorhin durchmachen musste.
Ein lautes Ausatmen entkommt Idalia, und Rhun zieht schnell seine Hand von ihrer Schulter. Mit großen, geschockten Augen schaut er die junge Frau an. Wie als hätte sie gerade jemanden umgebracht und er hätte es gesehen.
"Endlich! Ich habe schon gedacht, ihr seid versteinert oder so", sagt Zeke und lehnt sich wieder nach vorne, "Ihr habt euch sicher zwei Minuten lang angestarrt, ohne irgendetwas zu tun. Das war echt gruselig."
Zekes Blick schweift zu Rhun, und sein Lächeln verschwindet.
"Alles gut?", möchte der Sandmann wissen. Der amüsierte Ton in seiner Stimme ist verflogen. Sein Bruder verkraftet es deutlich schwerer als er. Diese Vermutung bestätigt sich, als Rhun einfach aufsteht und das Zimmer verlässt.
Ein schuldiges Gefühl macht sich in Idalias Bauch breit.
"Es war nicht mit Absicht. Ich wollte ihm das nicht zeigen!", entkommt es ihr hastig.
Wegen ihr musste Rhun das sehen. Wegen ihr ist er nun traurig und weint. Er wird sie nie wieder mögen.
"Das weiß ich, Ida. Rhun weiß das auch. Er ist dir nicht böse. Lass ihn das nur kurz verarbeiten. Rhun Schmuhn war noch nie gut mit Gefühlen", beschwichtigt Zeke die Braunhaarige ruhig. Idalia nickt und schaut auf den Tisch. Betrübt beißt sie sich auf die Lippe und knetet ihre Hände. Eine leicht angespannte Stille breitet sich im Raum aus, während die beiden auf die Zahnfee warten.
Rhun steht nicht weit von der Tür entfernt, durch die er eben gegangen war. Er atmet tief ein und aus, dabei versucht er, nicht noch weiter zu weinen. Die spöttischen Kommentare von Dark in seinem Kopf machen es ihm jedoch nicht leicht.
"Sei leise, Dark!", zischt die Zahnfee mit zitternder Stimme. Sein Griff um das Zepter verfestigt sich.
"Zu bereuen, dass du mit Nayeli im Streit auseinandergegangen bist, hilft weder dir noch jemand anderem weiter. Also hör jetzt auf zu heulen und beruhige dich endlich!", erwidert Dark in einem ernsten Ton, "Wir sollten uns eher an denen rächen, die Nayeli umgebracht haben. Sie haben es nicht anders verdient."
Rhun schüttelt den Kopf und lehnt sich an die Wand.
"Rache würde Nayeli nicht wollen. Wir sollten Idalia ausbilden und ihr helfen, ihre Kräfte zu verstehen. Sie könnte stärker als Eos sein, und sie ist auf unserer Seite. Das ist ein großer Vorteil", murmelt Rhun und wischt sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. Danach stellt er sich wieder gerade hin und nimmt eine straffe Haltung an. Er darf nicht schwach sein.
Der Wächter atmet noch ein letztes Mal tief durch, bevor er die Tür öffnet und wieder zu den anderen beiden geht. Sofort drehen sich die Köpfe von Idalia und Zeke zu ihm. Ohne etwas zu sagen, setzt sich die Zahnfee neben seinen Bruder.
"Geht's jetzt wieder?", möchte Zeke wissen und legt seine Hand auf Rhuns Schulter. Dieser ignoriert die Frage jedoch und schaut Idalia an. Von ihrer sonst so fröhlichen Art ist nichts zu erkennen. "Idalia", spricht Rhun seine Nichte an. Langsam blickt sie nach oben, nimmt jedoch keinen Augenkontakt auf. "Du musst lernen, deine Kräfte zu kontrollieren, sonst kannst du zu einer Gefahr werden", meint Rhun mit sehr ernster, fester Stimme.
Idalia schluckt hart. Angst überkommt die Braunhaarige. Sie will niemandem wehtun, keine Gefahr sein.
Wieso ist ihr noch nicht eingefallen, dass sie mit ihren Kräften anderen Schaden zufügen könnte? Wie dumm und naiv kann sie bitte sein?
"Ja, oder du wirst wie Fips", kommentiert Zeke wieder mit dieser Leichtigkeit. Rhun rollt mit den Augen. Nicht mal in so einer ernsten Situation kann er es lassen, seinen kleinen Bruder zu beleidigen. Nie nimmt der Sandmann etwas ernst.
"Zeke, das ist nicht lustig. Wenn Idalia einmal die Kontrolle verliert, könnte sie was weiß ich zerstören. Nayeli war schon immer stärker als wir alle, und wenn Idalia das geerbt hat, dann will ich mir gar nicht ausmalen, was passieren könnte", erklärt Rhun und lässt dabei seinen Blick nicht von der Braunhaarigen ab.
Als der Sandmann seine Nichte sieht, sagt er: "Du bist viel zu hart, Rhun. Idalia würde so etwas nie machen. Nicht mal aus Versehen. Ich stimme dir zu, dass sie trainiert werden muss, aber noch nicht jetzt." "Wann dann? Zeke, deine Gefühle zu Idalia beeinflussen dein objektives Denken! Sie ist eine Gefahr, bis sie gelernt hat, diese Kräfte zu kontrollieren, und je länger das anhält, desto größer wird auch die Gefahr", entgegnet Rhun nun etwas lauter und bestimmter.
Zekes Augenbrauen ziehen sich zusammen. "Sie wurde vorhin erst abgestochen und hat erfahren, dass sie Kräfte hat. Lass Idalia das erst mal verarbeiten!", verlangt der Sandmann.
"Die Wunde ist doch schon längst verheilt, und verarbeiten kann sie auch während des Trainings", ist Rhun der Meinung.
"Du erinnerst mich gerade echt stark an die Nonnen. Du hast dir wohl doch mehr von ihnen angewöhnt, als dir lieb ist", schießt Zeke plötzlich ziemlich wütend.
"Was hast du da gerade gesagt?", knurrt Rhun leise und bedrohlich.
"Du hast mich schon verstanden, Zahnstocher", antwortet der Sandmann und ballt die Fäuste.
Still bleibt Idalia auf ihrem Platz. Sie hasst streitende Menschen. Noch nie konnte sie das leiden. Wieso seine Zeit verschwenden, indem man wütend aufeinander ist, anstatt Spaß miteinander zu haben? Doch sie tut nichts dagegen, dafür ist sie viel zu sehr in ihren eigenen Gedanken.
Ist sie wirklich eine so große Gefahr, wie die Zahnfee sagt? Könnte sie damit die Welt zerstören?
Ein beklemmendes Gefühl macht sich in ihr breit, ein Gemisch aus Zweifel, Angst und einer seltsamen, schmerzhaften Ungewissheit. Sie wagt kaum, den Gedanken zu Ende zu führen. Ich will nicht zerstören, denkt sie leise, fast flehend.
"Ich bin bereit zu trainieren", entkommt es der Braunhaarigen. Man könnte es fast eingeschüchtert nennen, genauso schaut sie zu den beiden Wächtern.
Überrascht wendet sich der Sandmann zu ihr. "Idalia, du hast heute so viel durchgemacht. Du musst das noch nicht tun, nur weil Rhun das sagt. Ich höre auch nie auf ihn", wendet er besorgt ein.
"Nein, ich möchte das. So kann ich vielleicht auch anderen helfen", Idalia zwingt sich ein leichtes Lächeln auf. Sie muss die positiven Seiten an den Kräften sehen, und das müssen die anderen auch.
Zeke nickt verstehend, auch wenn er das nicht wirklich gutheißen kann.
"Gut, dann müssen wir aber erstmal herausfinden, welche Kräfte du überhaupt noch hast", meint Rhun und mustert Idalia. "Hat Nayeli dir zufällig irgendwas erzählt?"
Idalia erinnert sich kurz an das Gespräch zurück und schüttelt dann den Kopf: "Nichts Genaues. Sie hat nur gesagt, dass ich Kräfte habe und auf Erinnerungen zugreifen kann. Das war's."
Rhun lehnt sich in die Stuhllehne zurück. "Wir müssen davon ausgehen, dass du dieselben Kräfte wie deine Mutter hast. Da können Zeke und ich dir aber leider nicht alleine helfen", brummt die Zahnfee.
Zekes Augen weiten sich. "Nein", murmelt er und guckt seinen Bruder an, als hätte der gerade gesagt, die Welt würde untergehen.
Rhun nickt nur leidend: "Doch."
Dramatisch schlägt der Sandmann auf den Tisch und legt seinen Kopf darauf. Verwirrt und leicht amüsiert blickt Idalia zu den Brüdern.
"Wer muss denn noch helfen?", fragt sie, realisiert es dann aber selbst. "Oh mein Gott."
"Wie kann sie sich so freuen?", wendet sich Rhun an Zeke, als er Idalias Gesichtsausdruck sieht.
"Ich habe keine Ahnung", erwidert der andere Wächter und hebt seinen Kopf wieder.
"Endlich lerne ich eure beiden Brüder kennen. Darauf habe ich mein ganzes Leben gewartet!"
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Nur ein kurzes Kapitel heute, sorry, aber mir ist echt nicht viel eingefallen. Ich hoffe, es gefällt euch trotzdem! <3
Wie hat euch eigentlich der kleine Streit zwischen Rhun und Zeke gefallen? Und freut ihr euch schon auf Fips und Klaus? XD
Naja, das war's dann von mir. Bis zum nächsten Kapitel!
~ Tamia ~
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