Kapitel IX: Die Bürde der Erinnerung
Mit zusammen gebissenen Zähnen und einem Keuchen steigt Idalia aus ihrem Auto aus. Das war die schmerzhafteste Fahrt, die sie jemals gehabt hat. Das Blut an ihrer Wange ist in der Zeit schon leicht angetrocknet. Das T-Shirt ist an der Wunde in Rot getränkt. Idalias Gesicht ist noch leicht gerötet, ein Hinweis darauf, dass sie die ganze Fahrt geweint hat.
Diese ganze Situation ist so surreal. Ein Tag vorher hat Idalia noch fröhlich mit ihren Freunden gefeiert und vergaß die ganze Welt. Doch dann wurde mit einem Schlag ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt. Plötzlich wird Idalia von ihrer eigenen verstorbenen Mutter erzählt, sie hätte magische Kräfte und ist mit ihrem Boss und seinen Brüdern verwandt. Dazu ist noch eine Sekte hinter ihr her.
Langsam geht sie auf den Eingang der Sandburg zu. Bei jedem Schritt durchzieht sie einen stechenden Schmerz.
Ein verwirrter Zeke taucht in der Tür auf. Wer kommt denn bitte sonntags hier her, dachte er sich, als er ein Auto anfahren hörte. Seine Augen weiten sich in Sekundenschnelle, als er die Verletze, Idalia sieht.
Große Besorgnis macht sich in ihm breit und schnell läuft er auf seine Angestellte zu. "Idalia, was ist passiert?", stellt er die Frage, die ihm sofort in den Kopf stieg. Tränen sammeln sich in den Augen der jungen Frau, als sie Zeke sieht. Er erinnert sie daran, was Nayeli zu ihr gesagt hat. "I-Ich", ihre Stimme bricht und ein Schluchzen entkommt Idalias Lippen. Die Braunhaarige fängt wieder an zu zittern und weinen.
Zekes Gesichtsausdruck zerfällt, als er sieht, wie aufgelöst Idalia ist. Er hätte sich nie vorstellen können, dass diese fröhliche, lebensfrohe junge Frau so zusammenbrechen könnte. Schnell nimmt Zeke Idalia in den Arm. Schluchzend vergräbt sie ihren Kopf in seiner Schulter. "Alles wird wieder gut", murmelt der Sandmann und streicht Idalia beruhigend über den Rücken. Kurz schließt er auch seine Augen, um sein Inneres zu beruhigen. Was auch immer passiert ist, er wird sich an demjenigen rächen, welcher Idalia etwas angetan hat. Das schwört Zeke sich.
Ein Kichern erweckt Zekes Aufmerksamkeit und auch Idalia hört langsam auf zu schluchzen. Verwirrt öffnet der Sandmann seine Augen, welche sich auch sofort weiten.
Anstatt gelber Sand ziert grünes frisches Gras den Boden. Vereinzelt ragen kleine Gänseblümchen auf. Das ist es aber nicht, was den Wächter so schockiert. Es ist das Gebäude, von dem sich die beiden im Garten befinden. Die Wand besteht aus alten, grauen Steinen, welche einem das Gefühl gibt, dass sie niemals zerstört werden kann. Zeke erstarrt, als er sich unweigerlich an die Zeit im Waisenhaus erinnert.
Dieses Haus wollte er nie wieder sehen. Seine Vergangenheit wollte er vergessen. Das Waisenhaus wiederzusehen, lässt ein Chaos an Gefühlen in ihm ausbrechen. Furcht, Zorn, Hass und Trauer. Doch wieso fühlt er Trauer? Nichts hier hat ihn jemals traurig gemacht.
Da ist es wieder. Dieses naive und unschuldige Kichern eines Kindes. Inzwischen hat sich Idalia auch aus seinen Armen gelöst und guckt sich nun ebenfalls verwirrt um.
Zeke dreht sich von dem Gebäude, das ihm so viel Schmerzen bereitet hat, weg und erblickt nun mehrere kleine Kinder. Das Mädchen fällt dabei am meisten auf. Ihre Lippen sind in einem glücklichen Grinsen verzogen, als sie barfuß lachend durch das Gras rennt. Dabei sind ihre Arme ausgestreckt, als würde sie gleich losfliegen, und ihr schwarzes Haar schwingt hin und her. Trauer überkommt den Wächter wieder.
Der Blick des Sandmanns schweift nun zum Sandkasten, wo ein weiterer Junge sitzt. Seine Haare sind sehr kurz und angestrengt formt er einen Turm auf seiner Sandburg. Ein Lächeln bildet sich auf Zekes Gesicht. Er weiß ganz genau, wer das ist. "Was- Was ist das hier?", durchbricht Idalia die Stille. Zeke geht auf sein kleines 'Ich' zu. "Hier bin ich aufgewachsen und das da", er zeigt auf den Jungen im Sandkasten, "bin ich."
Überrascht hebt Idalia beide ihre Augenbrauen und folgt Zeke. "Nur frage ich mich, wie wir hierhergekommen sind oder was das hier überhaupt ist", analysierend hockt er sich neben sein junges 'Ich'. "Sehen können sie uns schon mal nicht", murmelt der Wächter und stellt sich wieder hin.
Idalia schluckt hart und ein ungutes Gefühl macht sich in ihr breit. War sie es? Hat sie Zeke und sich hierher gebracht? Nun konzentrierter guckt sich die junge Frau um. Vier weitere Jungs befinden sich im Garten. Alle sehen genau gleich, wie Zeke aus. Das müssten dann also seine Brüder sein. Dann kann dieses Mädchen nur Nayeli, Idalias Mutter, sein. "Das hier sind meine Brüder", bestätigt Zeke Idalias Vermutung und zeigt grinsend auf die Jungen, "Aber ich hab kein Plan, wer dieses Mädchen ist."
Ohne dass die beiden Erwachsenen es bemerken, schleicht sich der kleinste der Brüder an klein Zeke ran. "Ich erinnere mich an jedes Kind aus dem Waisenhaus, aber ich weiß einfach nicht, wer sie ist", überlegend verfolgt er das Kind mit seinen Augen.
Ein wütender Schrei ertönt aus dem Nichts. "Du Idiot!", wütend stellt sich klein Zeke auf, "Weißt du, wie lange ich für diese Burg gebraucht habe?" Erschrocken weicht der Kleinere zurück. "E-Entschuldige Zeke, ich wollte doch nur einen kleinen Scherz machen", stottert er und entfernt sich etwas von Zeke. Der Erwachsene Zeke rollt mit seinen Augen und erklärt: "Das ist mein kleiner Bruder Fips. Er war schon früher so nervig."
Zorn ist klein Zekes Augen zu sehen und bedrohlich geht er auf Fips zu. "Das wirst du bereuen", zischt er und will sich schon auf seinen Bruder stürzen, doch er wird von einer kleinen, zierlichen Hand aufgehalten. Nayeli, das kleine Mädchen, hält ihren Bruder sanft, aber bestimmt fest. "Zeke, Fips wollte das doch gar nicht. Nimm ihn das nicht so übel", ihre Stimme ist ruhig. Verängstigt nickt Fips. Immer noch wütend dreht sich Zeke zu seiner Schwester: "Wegen diesem Schisser ist meine ganze Sandburg zerstört! Ich saß den ganzen Tag daran!"
Nayelis Lippen verziehen sich zu einem verständnisvollen Lächeln. "Ich verstehe, wieso du auf Fips sauer bist, aber es war ein Versehen. Wir beide können die Burg sicherlich wieder aufbauen. Dann wird sie noch größer und schöner als vorher!", Nayeli nimmt ihre Hand von Zekes Schulter. Grummelnd nickt Zeke und geht wieder zum Sandkasten.
Verwirrt betrachtet der Sandmann die Szene. "Daran kann mich gar nicht erinnern", sagt er. Klein Fips lächelt Nayeli an: "Danke Schwesterchen, du bist eine Heldin!" Damit geht der zukünftige Osterhase zurück zu seinem anderen Bruder.
Nun noch verwirrter und leicht überrascht verzieht der große Zeke sein Gesicht. "Hat der sie gerade Schwester genannt?", fragt er und überkreuzt seine Arme, "Ich wusste ja das Fips schon immer ein wenig dumm war, aber das toppt alles."
Währendessen ist Nayeli zu klein Zeke in den Sandkasten gegangen. Langsam schüttelt Idalia ihren Kopf: "Nein." Der Sandmann dreht sich zu Idalia. "Was hast du gesagt?", möchte er wissen. Starr schaut die junge Frau zu ihrer Mutter. "Fips ist nicht dumm. Das Mädchen ist eure Schwester", haucht sie nun realisierend. Ja, ihre Mutter hatte es Idalia gesagt, aber es in echt zu sehen und noch einen Beweis zu bekommen, ist etwas anderes. Das hier ist alles echt. Ihre Mutter sagte die Wahrheit.
Zekes Augen verrenken sich. "Und woher willst du das Wissen?", verlangend nach einer Antwort, greift er nach Idalias Arm, um sie aus ihrer starre zu reißen. Dieses Chaos in seinem Inneren wird immer schlimmer. Mit traurigen Augen guckt Idalia zu Zeke hoch. "Das Mädchen ist meine Mutter, sie hat es mir gesagt. Du kannst dich nicht an sie erinnern, weil sie deine- eure Erinnerungen gelöscht und verändert hat", erklärt Idalia mit einer in Mitleid getränkter Stimme.
Die Umgebung um die beiden verändert sich. Nun befinden sie sich nicht mehr draußen, sondern in einem kleinen Zimmer. Ein großes Bett ist das einzige Möbelstück in dem Raum. Doch was die Aufmerksamkeit der beiden auf sich zieht, sind die Personen vor ihnen.
Fünf jugendliche Jungen stehen nebeneinander, vor ihnen ein jugendliches Mädchen. Ihre schwarzen Haare reichen ihr bis zur Hüfte. Um ihren Hals trägt sie einen grauen Umhang und feste Stiefel sind an ihren Füßen. "Du darfst nicht gehen!", kommt es von einem der Jungen, er trägt eine rote Weste. "Unsere Bestimmung", kommt es von Rhun. Idalia hat ihn sofort an seiner einen Gesichtshälfte erkannt. Nur ist diese noch nicht so ausgeprägt wie in der Zukunft.
Man hört ein tiefes Einatmen von Nayeli. Sprachlos läuft der erwachsene Zeke auf die Seite seiner Brüder. "Ich kann hier nicht länger bleiben! Dieser Ort erdrückt mich. Ich möchte die Welt sehen, neue Menschen kennenlernen. Mein Leben genießen!", ihre Stimme klingt keineswegs wütend, eher flehend. Nayeli fleht ihre Brüder nach Verständnis. "Aber was ist mit uns? Du kannst uns doch nicht allein lassen", wendet nun der Kleinste von allen, Fips, um genau zu sein, ein.
Trauer ist in Nayelis Augen zu sehen. "Sie wird uns die Erinnerungen an sie nehmen", sagt Zeke synchron mit seinem jüngeren Ich.
Realisierend und mit einem schmerzerfüllten Gesichtsausdruck stolpert er einige Schritte zurück. Die Augen der ganzen Brüder weiten sich. "Nein! Bitte tu das nicht! Ich kann dich nicht verlieren! Lass mich hier nicht zurück!", bettelt der ganz linksstehende Junge. Er hatte bis jetzt noch nichts gesagt.
Er geht ein Schritt auf Nayeli zu und hält sie am Arm fest. Allen steigen die Tränen auf. "Ich kann mich wieder an sie erinnern, an alles", bemerkt Zeke und stellt sich nun neben seinen Bruder. Seine Lippen beben leicht und die einzige Emotion, die man in Zekes Gesicht sieht, ist eine so tiefe Trauer.
Die Szene hält an und nun bewegt sich Idalia das erste Mal, seitdem sie in dem Zimmer sind. "Sie hat euch die Erinnerungen genommen, damit ihr sie nicht verfolgt und euch dabei selber in Schwierigkeiten bringt", äußert sich die junge Frau mit mitleidiger Stimme.
Mit zusammen gebissenen Zähnen guckt Zeke auf den Boden. Seine Fäuste sind geballt und er versucht die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Nach Jahrhunderten erinnert er sich endlich an seine Schwester und kann sie dann nicht mal mehr wiedersehen. Er wusste von ihrem Tod eher, als das sie seine Schwester ist.
Vorsichtig geht Idalia zu Zeke und zieht in etwas abseits von den Jugendlichen. Länger kann der Wächter seine Tränen nicht unterdrücken und er lässt sie stumm seine Wange herunterfließen. Behutsam legt Idalia ihre Hände um Zekes Gesicht und streicht die Tränen, mit ihren Daumen, von seiner Wange.
Leicht hebt der Sandmann seinen Kopf an. Seine braunen Augen glitzern leicht. Stumm schauen sich die Beiden in die Augen. Doch Worte benötigt keiner von beiden. Idalia und Zeke haben jemanden wichtigen in ihrem Leben verloren. Doch in diesem Moment trifft es Zeke deutlich härter, als Idalia und das weiß sie. Also tut sie das einzig richtige und umarmt den Wächter.
Das erste Mal in seinem ganzen Leben lässt Zeke seine Gefühle offen zu. Noch nie hat er sich so verletzt gezeigt, doch auch hatte er sich noch nie so geborgen und in Sicherheit gefühlt, wie jetzt. Schluchzend schließt der Wächter seine Augen. Genauso wie Zeke vorhin streichelt Idalia ihm beruhigend den Rücken. Der Raum verschwimmt und nun sind die beiden wieder vor der Sandburg. "Alles wird wieder gut. Es dauert vielleicht ein bisschen, aber irgendwann ist es so weit."
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Auf dieses Kapitel bin ich so unfassbar stolz! Ich hoffe, ihr findet es genauso gut wie ich. Ich glaube, es ist sogar das bisher längste Kapitel von "Lost Family" XD
Fips, Klaus und Eos kommen auch das erste Mal vor. Zwar in jung, aber ich sage, es zählt trotzdem XD
Lasst mal gerne eure Meinung zum Kapitel da. Ich freue mich über jeden einzelnen Kommentar von euch! <3
Ich sag dann mal bis zum nächsten Kapitel :D
~ Tamia ~
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