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In der nächsten Woche kommen die Jungs sogar schon teilweise gemeinsam zusammen zur Therapie und lassen sich auf die kleinen Sofas im Warteraum fallen, weil sie noch eine viertel Stunde Zeit haben, bis sie an der Reihe sind. Sie begrüßen sich ein erneutes Mal mit einem Handschlag, als die anderen hineinkommen und sich ihre Jacken ausziehen. Macieks erster Gang ist jedoch nicht zur Garderobe, wie es bei den anderen der Fall ist, sondern der Gang zu der Toilette, um seine Wasserflasche wieder aufzufüllen.
„Alles okay, Mann?", fragt Bo ihn, als er zurück kommt und sich neben ihn plumpsen lässt.
„Ja, wir sind jetzt auch dran. Da ist Frau Silverstone", entgegnet dieser bloß. Die Jungen gehen nacheinander durch die enge Tür, um sich dort wieder auf die Stühle zu setzen und auch dieses Mal sitzen sie wieder, wie das letzte Mal.
„Wie war eure Woche, ist etwas neues bei jemanden passiert?", fragt die Therapeutin die Gruppe und lässt es offen, wer nun sprechen mag.
„Das Verfahren findet heute statt und ich bin verdammt nervös", erklärt Zak ihr.
„Das brauchst du nicht sein. Wann genau heute fängt es denn an?", fragt sie.
„Jetzt gerade. Ich darf nicht dabei sein. Meine Mutter will das nicht. Sie meint, es wäre zu belastend."
„Darf ich fragen, wie so etwas abläuft oder triggert ihn das?", fragt Arlo nun die Therapeutin, doch sie kann ihm darauf keine Antwort geben, weshalb er die Frage an Zak weitergibt.
„Es ist okay. Ich weiß es auch nicht zu hundert Prozent. Aber so viel kann ich dir sagen. Meine Eltern waren mit der Inobhutnahme nicht einverstanden, weshalb nun vorm Gericht eine Entscheidung getroffen werden muss. Leider bin ich ja noch nicht achtzehn. Es geschieht jetzt gerade alles im Familiengericht und sie haben sich dafür mit meinen Eltern, dem Jugendamt und einem Anwalt, sowie einem Sozialarbeiter und einem Psychologen zusammengesetzt. Die entscheiden nun darüber, ob ich aus der Familie genommen werde beziehungsweise wurde ich dies ja schon. Es geht darum, ob ich eben draußen bleibe oder weiter in der Hölle schmore. Ich hoffe das Beste. Ich hoffe, sie treffen die richtige Entscheidung und ich muss nie wieder zurück. Die Verhandlungen sind nicht öffentlich und ich muss sagen, dass ich froh bin, dass meine Mutter gesagt hat, ich solle herkommen. Ich habe herausgefunden, dass sie von all dem hier schon lange weiß und meinem Vater nie etwas gesagt hat. Ich habe verdammt große Angst um sie. Sie muss sich von ihm trennen, dieses Arschloch. Ich denke trotzdem, dass mein Vater einen Aufstand machen wird und nicht einverstanden sein wird. Er wird mit allen Mitteln versuchen mich zurückzubekommen und dann werden andere Richter meinen Fall prüfen. Meistens sind diese Entscheidungen lebenslang, wenn man aus einer Familie rausgenommen wird, weil es vor Gefahr Zuhause geschützt werden muss. Ich hoffe so sehr, dass dies passiert und ich nie mehr zurück muss.", erklärt Zak seinen Freunden.
„Wir sind für dich da", sagt Maciek.
„Sollen wir bei dir bleiben, bis die Entscheidung getroffen wurde? Also nach der Therapie?", fragt Arlo und Zak nickt leicht. Es ist ihm immer noch ein wenig unangenehm.
„Es braucht dir nicht peinlich zu sein. Wir sind immer für dich da und das ist wirklich nicht einfach. Im Grunde genommen verlierst du deine Eltern und das ist verdammt schwer", sagt Bo und schluckt seinen Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hat, herunter.
„Freunde halten zusammen", lächelt Drew.
„Freunde halten zusammen", sagen alle gemeinsam im Chor.
„Es freut mich wirklich sehr, dass ihr schon ein so großes Bündnis und eine tiefgreifende, wie ich wahrgenommen habe, Freundschaft entwickelt habt. Das ist ein sehr großer Fortschritt. Dass ihr euch so vertraut und miteinander umgeht und für den anderen da seid. Ich bin wirklich sehr stolz auf euch, Jungs. Auf euch alle, auch wenn ihr noch nicht alles übereinander wisst", sagt sie und schaut den Jungen reihenweise mit einem Lächeln in die Augen.
„Ich glaube, ich bin nun auch so weit, euch von meiner Erkrankung zu berichten.", sagt Maciek und alle schauen ihn erwartungsvoll an.
„Ich habe Bulimie. Keine Magersucht, Bulimie", sagt er gerade heraus und es fällt ihm ein riesengroßer Stein vom Herzen, da er nun kein Geheimnis mehr mit sich herumtragen muss. Es ist ein erster Schritt, es den Jungen anzuvertrauen. Ein zweiter, es seiner Mutter sagen zu wollen. Ein dritter, es seiner Mutter wirklich zu sagen.
„Maciek, das ist wirklich stark, dass du das den anderen Jungen nun mitteilen konntest", lobt Frau Silverstone ihn.
„Es fühlte sich irgendwie richtig an, es den Jungs jetzt zu sagen. Ich habe genug Vertrauen aufgebaut. Es war genau der richtige Zeitpunkt", sagt er und lächelt sie an.
„Das ist sehr schön. Hier soll sich in keiner Weise jemand unter Druck gesetzt fühlen, seine Erkrankung den anderen Jungen nach so und so einer bestimmten Zeit preiszugeben. Ihr müsst dies nicht tun. Ihr tut es erst, wenn ihr euch dazu bereit fühlt, okay?", fragt sie und schaut dabei Bo und Drew an. Die beiden schauen auf den Boden, weil sie sich insgeheim schämen, dass sie noch nichts von sich preisgegeben haben, obwohl die anderen ihr ganzes Leben offen gelegt haben. Doch daran ist nichts verkehrt, denn der eine braucht länger, um jemanden zu vertrauen, als die anderen. Diese beiden Kandidaten waren in diesem Kreis nun einmal Bo und Drew und es hat etwas mit ihren Geschichten zu tun.
„Wie fühlt es sich an, nicht mehr zu schwimmen?", fragt Bo nun Maciek.
„Es fühlt sich gut an. Ich glaube, es macht meine Krankheit ein bisschen besser. Ich glaube, ein Trigger war unter anderem das Schwimmen. Vielleicht bin ich dadurch sogar in die Bulimie hineingerutscht, denn ich habe dem Druck nicht mehr standhalten können. Ich habe die Kontrolle verloren und durch das kontrollierte Essen habe ich die Kontrolle zurückbekommen. Allerdings verliere ich die Kontrolle durch die Krankheit immer mehr, was ich zu spät eingesehen und bemerkt habe, denn ich habe Fressattacken, an denen ich ganze Schränke aufesse und mich danach stundenlang übergebe. Ich bin wirklich nicht stolz darauf und hasse mich dafür, dass ich dort hineingerutscht bin", erklärt er.
„Maciek, solche Dinge sagen wir in diesem Raum nicht"
„Entschuldige. Ich wusste nicht, wie ich es anders beschreiben kann"
„Versuche es so, ich bin wirklich nicht stolz darauf und ärgere mich, dass ich in diesen Teufelskreis hinein gerutscht bin. Und es ist eine Sucht, die ich nicht kontrollieren kann, weshalb ich bisher noch nicht hinausgekommen bin. Doch wir arbeiten an mir"
„Ich bin nicht süchtig"
„Es ist eine heimliche Sucht, Maciek. Ihr müsst wissen, dass man bei Bulimikern oft und lange nicht erkennt, dass sie Bulimie haben. Deshalb nennt man sie heimliche Sucht. Oft kann man die Bedrohung nicht sehen", erklärt Frau Silverstone ihnen.
„Ich weiß noch, wie ich hergekommen bin. Das erste Mal" , schwelgt Maciek in Erinnerung.
„Meine Mutter hatte mich damals, als ich angefangen habe, einmal hergeschickt, wegen irgendeines Testes, den ich wegen des Trainings machen musste. An einem Tiefpunkt, als ich dachte, dass mir mit dem Schwimmen alles zu viel wird und ich vor einem Wettkampf stand, da bin ich hergekommen, weil ich mich an die Worte damals erinnerte, die jemand zu mir sagte. Es waren Mut machende Worte und diese brauchte ich in diesem Moment. Da litt ich schon an Bulimie und Frau Silverstone hat dies sofort erkannt. Sie hat mir wöchentliche Termine gemacht und seitdem komme ich her", sagt Maciek und lächelt dabei sogar ein bisschen. Als er jedoch bemerkt, dass ihn alle anstarren, fährt er sich nervös durch seine Haare und will von seiner Persönlichkeit ablenken, doch niemand anderes sagt etwas. Alle schauen ihn erwartungsvoll an. Schließlich denkt er auch, dass noch etwas bei seiner Geschichte fehlt und beginnt erneut zu reden.
„Ich muss immer der Beste beim Schwimmen sein, immer den ersten Platz machen, denn ich bin der beste Schwimmer im Team meiner Schule. Alle erwarten das von mir und ich habe dem Druck einfach nicht mehr standgehalten. Ich konnte es nicht und so wurde ich ein erstes Mal in meinem ganzen Leben zweiter. Meine Mutter war so enttäuscht, dass sie geweint hat und mich nicht mehr ansehen konnte. Ich habe mich geschämt, wie noch nie in meinem Leben und wollte mich bestrafen. Ich habe mich nicht mehr gut genug gefühlt , doch dann hat mir Frau Silverstone klar gemacht, dass man nicht immer der Beste sein muss und ich auch so etwas wert bin" , erklärt er.
„Das ist meine Geschichte", sagt er und atmet erleichtert aus.
„Wow. Das ist wirklich heftig", ergreift Arlo als einziger das Wort, nachdem es eine Weile still war.
„Hast du es denn jetzt im Griff? Also das Essen?" , fragt Bo vorsichtig. Maciek schüttelt den Kopf.
„Erst vorhin habe ich mir wieder den Finger in den Hals gesteckt", sagt er und schaut auf den Boden, weil er sich schämt.
„Es ist dämlich. Ich weiß ganz genau, was sie Auswirkungen sind. Meine Zähne werden ekelhaft aussehen, wenn ich das weiterhin tue, aber ich kann nicht damit aufhören. Wenn ich esse, muss ich mich danach übergeben. Denn nichts essen halte ich nicht durch. Ich habe Fressattacken und das jedes Mal nach dem Schwimmen. Ich hoffe es wird nun besser, wenn ich mit dem Schwimmen aufhöre."
„ Es tut mir Leid", entschuldigt er sich.
„Es ist okay", versucht Arlo zu sagen, ist sich aber unsicher, ob es okay ist, so etwas zu sagen, denn Maciek schadet sich selbst und er will ihn nicht darin bestärken. Aber nichts zu sagen findet er auch blöd.
„Aber es ist besser geworden. Ich habe das Gefühl, ich breche weniger"
„Das is ein gutes Zeichen", sagt Frau Silverstone.
„Ich habe gute und schlechte Phasen. Deshalb bin ich in Therapie. Eine Weile ging es mir wirklich sehr gut und ich habe kaum gebrochen", erklärt Maciek.
„Das wird alles werden" , versucht Arlo ihn zu ermutigen und schon ist die Stunde wieder vorbei, auch wenn Frau Silverstone an dieser Stelle nicht begeistert von dem Ende der Stunde ist, denn sie hätte gerne noch weiter mit den Jungen geredet. Es lief alles gerade sehr schön, denn Maciek hatte sich das erste und vermutlich auch einzige Mal geöffnet, denn er hatte sehr viel von sich preisgegeben, was mit seiner Erkrankung zusammenhängt. Sie ist sich nicht sicher, ob er dies noch einmal tun würde.
„Wir bleiben jetzt bei Zak, richtig?", fragt Arlo in die Runde und alle nicken.
„Bleiben wir hier im Wartezimmer, oder was ist unser Plan? Drews Auto?" , fragt Bo.
„Wo wohnst du denn jetzt?", fragt Drew. Drauf weiß Zak keine Antwort. Er weiß nicht, ob er es den Jungen sagen soll, dass er bei Bo wohnt oder es für sich behalten soll. Er versucht der Frage aus dem Weg zu gehen.
„In einem Kinderheim. Da würde ich jetzt eher weniger hinwollen. Das würde mich nur nervös machen", sagt er und sie beschließen, im Wartezimmer zu warten, nachdem sie mit Frau Silverstone abgemacht hatten, dass dies okay sei, wenn sie nicht zu laut wären und keine anderen Patienten belästigen würden. Das Kinderheim würde Zak jetzt nur an all das erinnern, weshalb er nervös war. Nach einer viertel Stunde betritt das Mädchen den Raum, welches Maciek letzte Woche gefunden und wieder aufgerappelt hatten. Die fünf Jungs grüßen sie freundlich, doch sie flüchtet sich schnell ins Bad, um nicht mit ihnen in Kommunikation treten zu müssen.
„Haben sie schon etwas geschrieben?", fragt Bo das hundertste Mal.
„Nein und ich traue mich auch nicht raufzuschauen. Nimm du mein Handy", sagt er und legt es in Bos Hand.
„Das Ding macht mich noch ganz verrückt. Es ist auf Vibration gestellt, ich werde also merken, wenn ich eine neue Nachricht bekomme und trotzdem schaue ich andauernd drauf. Es macht mir wirklich Angst, dass da gerade über meine ganze Zukunft entschieden wird, einfach ohne mich", erklärt er den anderen Jungen.
Nach einer Weile kommt Frau Silverstone aus ihrem Behandlungszimmer.
„Habt ihr Edda gesehen?", fragt sie, als sie nur mit dem Kopf aus der Tür schaut, was ein ziemlich lustiges Bild darstellt.
„Edda. So war also ihr Name" denkt sich Maciek.
„Sie ist im Badezimmer", sagt er.
„Seit wann?", fragt seine Therapeutin und ihre Stimme klingt ein wenig panisch.
„Seit sie angekommen ist"
„Was habt ihr gemacht?", fragt sie.
„Nichts. Die Jungs haben sie bloß begrüßt", erklärt Maciek ihr. Nur die beiden führen ein Gespräch, denn Maciek war inzwischen aufgestanden und zu ihr gekommen. Nun hetzt sie ins Badezimmer.
„Ist alles okay mit Edda?", fragt Maciek besorgt. Die anderen Jungen scheinen nichts von dem Drama mitzubekommen, welches sich neben ihnen abspielt, doch dies ist vermutlich auch genau richtig so, denn sie haben genug mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Maciek läuft Frau Silverstone jedoch nach und die beiden finden Edda zusammen gekauert auf dem Badezimmerboden.
„Was ist passiert, Edda?", fragt Frau Silverstone besorgt und versucht das Mädchen zu beruhigen.
„Warum sagst du ihm meinen Namen?", fragt sie schnappatmig.
„Tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass Maciek deinen Namen nicht wissen soll", entschuldigt sie sich mit einem Verständnis in der Stimme, welches er noch nie zuvor bei seiner Therapeutin wahrgenommen hatte.
„Maciek. Geh jetzt bitte. Ich würde gerne mit Edda alleine reden, okay?", fragt sie.
„Ja, ich schaue mal nach den anderen Jungen. Tut mir Leid", sagt er und geht hinaus.
„Wo warst du?", fragen die Jungs, als er wieder aus dem Badezimmer kommt. Er muss ziemlich lange weg gewesen sein, denn wenn er sonst auf die Toilette geht fragen sie nicht, da sie wissen, dass er seine Wasserflasche auffüllen geht, doch die hatte er dieses Mal gar nicht dabei.
„Auf dem.. Ich habe...", sagt er, doch kommt gar nicht mehr weiter, denn die Jungen springen auf und kreischen, wie wildgewordene Hühner im Chor.
„Zak muss nicht zurück nach Hause!" Nur Zak sitzt immer noch auf dem Sofa und starrt in die Leere.
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