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Am nächsten Termin der Therapie sind wieder alle Jungs im Raum und dieses Mal reden sie, während sie warten, sogar miteinander. Der Ausflug von letzter Woche scheint den Jungs wirklich gut getan zu haben und dies merkt auch Frau Silverstone, als sie die fünf Patienten in das kleine, enge Zimmer hinein bittet. Inzwischen krampfen sie nicht mehr zusammen, wenn sie nah aneinander sitzen müssen, so wie in der ersten Sitzung.

Auch dieses Mal sitzen die Jungen wieder wie gewohnt auf ihren alten Plätzen. Zak wird noch einmal ermutigt, etwas zu erzählen, da die anderen noch nicht warm genug sind, um ihre eigenen Geschichten preis zu geben.

„Ich bin fürs erste raus. Ich muss nicht mehr Zuhause wohnen", erzählt er. Dass er bei Bo wohnt erzählt er jedoch keinem, da er Angst hat, dass seine Therapeutin sie sonst aus der gemeinsamen Therapie nimmt.

„Mein Vater hat einen gewaltigen Fehler gemacht. Normalerweise hat er mich immer geschlagen, wo es niemand sehen kann. Er ist immer davon gekommen, sodass er meinte, ich hätte mich geprügelt oder gestoßen. Er hatte eine ganze Liste voller Ausreden, manchmal denke ich, dass er sich wirklich ganz viele ausgedacht und aufgeschrieben hat, um sie das nächste Mal zu erzählen, falls jemand fragt, was jedoch meist nicht passiert ist, eben weil man die blauen Flecken und Wunden nicht gesehen hat. Nun ist er ausgerastet und hat mir das verpasst", sagt er und zeigt dabei auf sein Gesicht, welches immer noch angeschwollen ist. „Er dachte, ich bin ohnmächtig und bleibe das auch erst einmal. Das habe ich genutzt und bin wieder einmal zum Jugendamt. Die haben mich dann endlich vor diesem Arschloch gerettet. Warum ich euch das erzähle? Weil es bald einen Prozess geben wird. Mein Vater ist natürlich nicht einverstanden, weshalb es so einen Prozess geben soll. Sie meinten, dass kann zwei bis fünf Wochen dauern. Bis dahin bin ich sicher, aber was ist, wenn er sich wieder rausreden kann und ich in die Hölle zurück muss?", fragt Zak in die Runde.

„Du meinst, er ist erst jetzt ausgerastet? Er misshandelt dich seit Jahren. Er ist das erste Mal ausgerastet, als er dich das erste Mal geschlagen hat", gibt Drew seinen Senf dazu, der ein liebevolles Elternhaus gewohnt ist und sich die Ausmaße nicht vorstellen kann, in denen Zak seit seiner Geburt steckt.

„Es tut mir wirklich leid, was dir passiert ist und wir sind natürlich für dich da. Sollen wir mit zu dem Prozess kommen?", fragt Maciek ihn.

„Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob das geht. Diese Prozesse sind nicht öffentlich", erklärt Zak ihm und schaut ratlos seine Therapeutin an, doch auch diese weiß es nicht besser, als Zak selbst.

„Aber es wäre schön, wenn ihr mitkommen würdet und dann eben draußen wartet. Ich brauche irgendeine Unterstützung und ich denke, meine Mutter hält zum Arschloch. Ich weiß nicht, ob er sie auch schlägt", sagt er und nun kommen ihm wieder die Tränen.

„Tut mir Leid", sagt er schluchzend und hält seine Hand vor sein Gesicht, sodass er versteckt wird.

„Ich wollte mich noch einmal bei euch bedanken. Dass ihr letzte Woche bei meiner Chemo dabei wart, mich besuchen wart. Das hat mir wirklich sehr viel Kraft gegeben und seit einer langen Zeit habe ich mich das erste Mal wieder wie ein normaler Teenager gefühlt, der normale und tolle Freunde hat. Wir sollten auch für Zak da sein und auf jeden Fall zu dem Prozess mitkommen. Ich denke, dass macht ihn stark", erklärt Arlo in die Runde und alle nicken zustimmend.

„Ich glaube solche Gruppenaktivitäten helfen uns viel mehr, als über unsere Probleme zu sprechen. Was meinen sie Frau Silverstone?", fragt Maciek in die Runde.

„Nein. Ihr könnt gerne außerhalb der Therapie als Gruppe Unternehmungen machen und diese dann in der nächsten Woche berichten. Doch hier müssen wir miteinander sprechen. Auch wenn es manchen von euch nicht einfach fällt", erklärt sie dem Jungen.

„Ich habe eine Idee. Wir können in jeder Therapie ein Problem analysieren und dessen Krankheit. Darf ich das sagen? Aber nun haben wir heute über Zak und seinen Erfolg gesprochen. Also sind wir fertig. Da wir aber noch nicht gehen können, können wir etwas von uns erzählen. Auch das stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Ist doch besser, als schweigend neben einander zu sitzen, wenn wir uns eigentlich verstehen, oder?", fragt Arlo in die Runde und selbst Frau Silverstone nickt in die Runde. Beide wissen, dass einige der Jungs noch nicht bereit sind, in der Gruppe über ihre Sorgen und ihre Erkrankung zu sprechen, weshalb diese eine gute Lösung zu sein scheint, die sie näher an das Ziel führen wird. Sie einigen sich darauf, dass es nur positive Fragen sein dürfen. Niemand sollte nun noch negative Sachen erzählen müssen, damit sie die Therapie positiv beenden können.

„Was ist ihre Lieblingsfarbe, Frau Silverstone?", fragt Arlo sie.

„Grün. Aber ihr sollt euch gegenseitig kennen lernen. Ich halte mich raus", lächelt sie und rückt ihren Stuhl aus dem Kreis, um die Jungen zu beobachten und sich Notizen machen zu können.

„Was ist eine seltsame Angewohnheit von dir, Arlo?", fragt nun Drew in die Runde.

„Ich muss immer in die Kästchen auf dem Gehweg treten und darf die Linien nicht berühren. Das finde ich wirklich seltsam", antwortet dieser selbstsicher.

„Was machst du am liebsten, wenn du ganz alleine bist, Bo?", fragt nun Arlo.

„Ich zeichne", erzählt Bo nun selbstsicherer, als man ihn bis jetzt erlebt hat.

„Was ist deine beste Eigenschaft?", fragt Bo nun Zak.

„Dass ich meine Meinung ehrlich und direkt sage. Ich sage sie den Menschen ins Gesicht, anstatt hinter ihrem Rücken über sie zu reden. Manchmal wird mir das zum Verhängnis, aber ich denke, dass ist einer meiner besten Eigenschaften. Ehrlichkeit" , antwortet Zak.

Nun ist Zak an der Reihe und stellt Drew eine Frage.

„Was ist dein größter Traum?"

„Das kann ich dir nicht beantworten. Noch nicht. Tut mir Leid", erklärt dieser und rutscht noch einen Tick weiter in seinen Pullover hinein.

„Dann stelle ich eine andere Frage", sagt Zak verständnisvoll. Frau Silverstone schreibt etwas auf ihren Zettel, bevor Zak eine neue Frage stellen kann.

„Wer ist die wichtigste Person in deinem Leben?", fragt er.

„Meine Schwester", antwortet Drew sicher.

Nun stellt Drew noch eine letzte Frage, bevor die neunzig Minuten schon wieder vorbei sind.

„Was möchtest du später einmal werden?"

„Musiker", erklärt Maciek kurz und knapp.

Die Therapiestunde neigt sich dem Ende zu und bei diesen Fragen waren alle Jungen so sicher, wie sie es noch nie in dieser Therapie waren. Alle gehen mit einem Lächeln aus dem Raum und trotten gemeinsam zum Bus, nachdem sie die Jacken über gezogen haben. Maciek ist der letzte, weil er noch einmal seine Wasserflasche aufgefüllt hat, als er das Mädchen auf dem Rückweg aus dem Warteraum wiedersieht und die beiden sich kurz anlächeln, bevor er den anderen Jungs hinterherläuft, um sie wieder einzuholen. An der Ampel verabschieden Arlo und Drew sich von den anderen und gehen auf die andere Straßenseite, um gerade noch ihren Bus zu bekommen, der auf der anderen Seite an der Bushaltstelle hält. Die beiden zeigen atemlos ihren Fahrschein und lassen sich auf zwei Plätze fallen, die nebeneinander sind. Freiwillig.

„Kannst du dir das alles vorstellen, mit Zak? Das Familiendrama? Die Scheiße in der er sitzt? Mein Problem scheint so winzig zu sein, im Gegensatz zu seinem", erklärt Drew.

„Im Gegensatz zu anderen Problemen scheinen unsere eigenen immer ganz klein zu sein. Jedoch hat jeder sein ganz eigenes Drama. Dein Problem ist genauso schlimm, wie seines.", erklärt Arlo ihm.

„Manchmal habe ich auch das Gefühl, dass mein Krebs im Gegensatz zu anderen Krankheiten und psychischen Erkrankungen winzig ist. Aber wenn man das so sagen kann, sind sie alle gleich viel wert. Sie sind alle beschissen", lächelt Arlo.

„Hier muss ich raus", sagt Drew und verabschiedet sich von Arlo, der noch ein paar Stationen fährt, bevor auch er aus dem Bus steigt, um nach Hause zu gehen und sich auszuruhen. Die Therapiestunden machen ihn doch fertiger, als er dachte. Als er die Haustür öffnet, kommt seine Mutter ihm entgegen gesprintet und nimmt ihm seine Jacke ab, um sie aufzuhängen.

„Ist alles okay, mein Schatz?", fragt sie ihn.

„Ja, ich bin ein bisschen müde.", sagt er, während er sich die Schuhe auszieht und die Schnürsenkel ordentlich aufbindet, um seine Schuhe in das Regal zu stellen. Wenn er sie draußen stehen lässt, rastet seine Mutter aus. Zum Schluss zieht er noch seine Mütze ab. Zuhause ist der einzige Ort, an dem er seine Mütze nicht trägt.

„Bist du wirklich okay? Hast du Hunger?", fragt sie noch einmal und begleitet ihn vom Windfang aus den Flur entlang.

„Nein, Mom. Ich bin einfach nur müde", antwortet er genervt.

„Kann ich dir wirklich nichts bringen? Etwas zu trinken oder etwas zu knabbern?", fragt sie noch einmal.

„Nein, Mom! Ich will mich bloß hinlegen!", wird er nun laut.

„Ich möchte doch bloß, dass es dir gut geht", erwidert sie traurig.

„Ja, ich weiß. Es tut mir Leid", entschuldigt er sich sofort wieder. Er liebt seine Mutter, auch wenn sie manchmal etwas sehr fürsorglich ist, doch sie hat ihre Gründe.

„Lass uns doch gemeinsam aufs Sofa setzen und gemeinsam einen Film sehen, okay?", fragt er. Sie nickt mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Sie setzen sich gemeinsam auf das Sofa, welches seit dem Tod seines Vaters wirklich sehr groß wirkt.

„Ich suche einen Film aus, okay?", ruft Arlo seiner Mutter zu, weil sie noch einmal zur Toilette gegangen ist. Als seine Mutter wieder kommt, hat er schon einen Film ausgesucht und bittet sie nun doch noch um etwas zum Knabbern. Sie steht noch einmal auf, um in der Küche zu verschwinden, und den beiden eine Schüssel mit Eis zu holen. Außerdem hat sie ein paar Schüsseln mit Popcorn und Chips und Erdnussflips gemacht.

Schon nach ein paar Minuten des Filmes fallen Arlo die Augen zu. Sein Eis hatte er zumindest vorher noch aufgegessen. Der Tag hat ihn wirklich erschöpft und auch die Geschichten der anderen Jungen zu hören ist nicht einfach für ihn. Schon die einfachsten Dinge sind für ihn eine Menge Arbeit, gerade wenn er wieder eine Chemo hinter sich hat, hat er es noch schwerer, als sowieso schon. Dann ist er noch geschwächter vom Krebs, als es sein Vater damals war. Seine Mutter schaut den Film, während Arlo an sie angelehnt schläft und sie streicht ihm vorsichtig über die Glatze, bis ihr einige Tränen kommen, weil dort keine schönen Haare mehr wachsen. Sie hat Angst ihren Sohn auch noch an dem Krebs zu verlieren. Er muss sich einfach ins Leben zurück kämpfen, um sie nicht alleine auf der großen, weiten Welt zu lassen. Sie ist wirklich froh, dass Arlo in der Therapie wieder Freunde gefunden hat, denn seine alten Freunde haben ihn fast alle verlassen, als sie mitbekommen haben, dass Arlos Krebs schlimmer wird. Ihr ist ein Stein vom Herzen gefallen, als Arlo von Maciek, Bo, Zak und Drew erzählt hat. Von den Misshandlungen hat er bis jetzt noch nicht geredet, denn er denkt, dass das seine Mutter noch mehr belasten würde, als ihn selbst. Auch sie ist ein sehr mitfühlender Mensch. Auch nun, als sie den Film schaut, weint sie, weil sie so mit dem Film mitgeht. Davon wacht Arlo schließlich auf und ist hellwach, als er realisiert, dass seine Mutter weint.

„Mom, ist alles in Ordnung? Warum weinst du?", fragt er aufgerichtet. Sie schluchzt weiter und zeigt bloß auf den Fernseher.

„Gehst du wieder mit dem Film mit?", fragt Arlo lächelnd. Sie nickt erneut.

„Hier ist ein Taschentuch. Dann kannst du deine Tränen trocknen. Und denk daran, es ist nur ein Film", sagt er und umarmt seine Mutter, um sie ein wenig zu beruhigen. Nachdem der Film zu Ende ist, reden die beiden noch eine Weile und suchen schließlich das Bett auf, um am nächsten Tag wieder fit zu sein. Arlo grübelt, als er im Bett liegt noch über seine gesamte Situation und die der anderen nach. Er fragt sich, wo Zak wohl gerade ist und wie es ihm geht.

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