26

In der nächsten Therapiestunde hatten die Jungen es inzwischen verdaut, was Bo ihn in der letzten Stunde an den Kopf geworfen hatte. Sie hatten alle gut darauf reagiert, niemand hatte ihn verurteilt oder schräg angesehen, denn es war eine genauso seelische Krankheit, wie jede andere auch. In diesem Raum wurde niemand verurteilt, egal was er hatte.

„Da hier anscheinend auch jeder erzählen muss, wie er zur Therapie gekommen ist, werde ich das mal direkt am Anfang der Stunde machen, damit ich nie wieder darüber reden muss. Ich werde meine Geschichte einmal erzählen und dann nie wieder, verstanden?", fragt er die Jungs und sie nicken. Jeder hört gespannt zu.

„Ich bin mit dreizehn zum Alkohol gekommen. Ja, mit fucking dreizehn Jahren. Ich habe meine Eltern bei einem Autounfall verloren, als ich damals ziemlich klein war und auch mein geliebter Bruder ist dabei draufgegangen. Deshalb habe ich mir auch dieses kleine Drachentatoo stechen lassen, für ihn. Fragt mich nie wieder danach, danke. Auf jeden Fall hatte ich anscheinend keine engeren Verwandten, die mich aufnehmen wollten oder konnten. Fragt mich nicht, warum ich nie adoptiert wurden bin, auch wenn ich schon mit so jungen Jahren ins Heim gekommen bin. Mich wollte nie jemand. Vielleicht wegen den vielen Narben, die ich vom Autounfall habe, aber das ist auch egal. Wegen meinen Wutanfällen. Oder wegen der Trauer in meinem Gesicht, ich weiß es nicht. Ich habe schnell viele Freunde gefunden, habe ich schon immer. Jeder, der neu war, wurde mein Freund, aber alle meine Freunde wurden nach und nach adoptiert. Irgendwann war ich zu groß, um adoptiert zu werden. Die meisten wollen sowieso ein Baby. Meine Freunde wurden weiterhin adoptiert, hatte nur kleinere Freunde, die mir immer wieder weggenommen wurden. So habe ich mir neue Freunde gesucht, außerhalb des Kinderheimes, die in meinem Alter waren. Denn ich habe mich verdammt einsam gefühlt, in diesem riesigen Heim, ganz allein. Die hatten ein Mittel dagegen. Alkohol. Am Anfang habe ich mich geweigert, weil ich es nicht wollte und gesehen habe, wie sie abgestürzt sind. Doch ich wollte unbedingt dazugehören, denn ich brauchte ja Freunde, um mich nicht einsam zu fühlen. Ich habe mitgetrunken, jedes Mal. Und irgendwann wurde das zu einer Sucht. Das haben dann die Betreuer im Heim irgendwie mitbekommen, weil ich angefangen habe, Alkohol zu klauen. Wo willst du auch als dreizehnjähriger Alkohol herbekommen? Ich hasse mich dafür, denn ich kann nicht auf Partys sein, ohne daran erinnert zu werden. Es erinnert mich immer an meinen Verlust. Denn wären meine Eltern und mein Bruder damals nicht gestorben, dann wäre ich sicherlich gesund und hätte ein ganz normales Leben. Ich kenne meine Eltern ja nicht einmal. Ich habe nur dieses eine Bild, welches ich immer bei mir trage", beendet er seinen Monolog, indem er das zerknickte, verblasste Foto von ihnen aus seiner Hosentasche holt.

„Wow. Danke, dass du das mit uns geteilt hast. Muss schwer gewesen sein", sagt Maciek.

„Ja, ich rede nicht gerne darüber", erklärt Bo.

„Das tut uns wirklich leid", sagt Arlo.

„Danke"

„Magst du uns von deinen Eltern und deinem Bruder erzählen, oder lieber nicht?", fragt Drew lächelnd. Der einzige, der still ist, ist Zak, der einfach bloß neben Bo sitzt und seine Hand hält, weil er weiß, wie sehr Bo es mag, wenn man einfach nur still ist.

„Ich habe schon mehrere Entzugskliniken besucht und ich bin beschissene sechzehn Jahre alt", gibt Bo als Antwort wieder. Er scheint nicht über seine Eltern und seinen Bruder reden zu wollen.

„Wie schaffst du es, nicht zum Alkohol zu greifen? Du warst immerhin mit uns auf Partys, bei der dir der Alkohol regelrecht unter die Nase gehalten wurde. Und es tut uns Leid, hätten wir das gewusst, wären wir Zuhause geblieben und hätten etwas anderes unternommen", erklärt Arlo ihm.

„Das ist es eben. Ich hasse es, wenn man auf Dinge verzichten muss. Ich kann es eigentlich, auf diese Dinge verzichten, weil ich zwar ein Verlangen habe, aber es unterdrücken kann. Ich hatte gute Freunde dabei. Ich trinke meistens übermäßig, wenn ich Probleme habe", antwortet Bo.

„Wann hast du das letzte Mal getrunken?", fragt Maciek nun neugierig.

„Letze Woche", sagt er trocken, der Kloß bleibt ihm im Hals stecken. Sein Mund fühlt sich auf einmal an, als hätte er jahrelang nichts mehr getrunken.

„Musst du dann nicht in den Entzug?", fragt Maciek.

„Nein. Ich habe mit Frau Silverstone darüber gesprochen. Ich kann ambulant therapiert werden. Es gibt Menschen, die mir dabei sehr helfen. Aber wenn es schlimmer wird, dann werde ich mich wieder einweisen lassen. Nur will ich es erst so versuchen. Ich hasse die Klinik"

„Hast du öfter Rückfälle? Hast du deshalb oft so Wutausbrüche?", fragt Maciek noch weiter. Halt die Fresse hallt es in Bos Kopf.

„Nein. Die sind wegen etwas anderem. Und ich möchte jetzt nicht mehr darüber reden"

„Geht es Edda wieder besser?", fragt Drew, um vom Thema abzulenken. Er kann es irgendwie gut einschätzen, wann man das Thema wirklich dringend wechseln sollte.

„Ja. Sie ist aus dem Krankenhaus entlassen wurden", lächelt Frau Silverstone.

„Es geht ihr soweit ganz gut", sagt sie.

„Kann ich sie jetzt besuchen?", fragt Maciek.

„Nein. Maciek, sie will dich nicht sehen!", antwortet Frau Silverstone bestimmend.

„Wieso denn nicht?", fragt er. „Ich könnte doch mit ihr darüber reden. Vielleicht würde es uns beiden helfen"

„Ich möchte das nicht"

„Warum denn nicht. Ich bin doch auch mit den Jungs befreundet, warum darf ich denn nicht auch mit anderen Patienten, wie Edda befreundet sein?"

„Deshalb steckt man Essgestörte Patienten nicht in eine Gruppe, weil sie dich beeinflussen und dabei helfen könnten, sich in den Tod zu hungern"

„Aber, bei mir ist es doch gerade besser", versucht er zu erklären.

„Nein, Maciek. Seh es ein!", sagt sie bestimmt und sieht das Gespräch als beendet an.

„Ich will Becca sagen, dass ich Trans bin", erwidert Drew, um die unangenehme Stille zu brechen.

„Echt? Wow. Weshalb?" , fragt Arlo.

„Ich mag sie, wirklich sehr. Vielleicht ein bisschen zu sehr und ich finde, sie hat ein Recht darauf es zu erfahren. Ich weiß nicht, wann der beste Zeitpunkt dafür ist. Sieht sie mich dann anders? Aber ist es nicht fies, es erst zu sagen, wenn man zusammen ist?", fragt er in die Runde.

„Ist es schon so weit, dass du daran denkst, mit ihr zusammen zu kommen?", fragt Zak und sieht dabei aus, wie der Smiley auf WhatsApp, der die Augen zur Seite dreht und grinst.

„Ja, irgendwie schon", lächelt er.

„Cool. Kumpel, das freut mich", lächelt Arlo und gibt ihm ein High-Five.

„Ich würde warten, bis ihr euch geküsst habt", sagt Zak.

„Ich würde es ihr sofort sagen", widerspricht Arlo ihm.

„Ich würde auch warten. Bis du weißt, dass sie dich wirklich genauso mag, wie du bist", erklärt Bo. Immerhin hatte er die gleiche Strategie verfolgt und es hatte geklappt. Auch wenn es bei ihm sieben Monate gedauert hatte. So lange sollte Drew vermutlich nicht warten.

„Maciek?", fragt er.

„Mach es so, wie du dich am wohlsten fühlst"

„Eigentlich wollte ich es niemanden sagen, weil es nicht mehr zu erkennen ist. Ihr habt es nicht gecheckt, meine Stimme ist noch tiefer geworden. Aber wenn wir intim werden sollten, dann.." , denkt er laut nach.

"Ich wollte sie nach einem Date fragen", erklärt Drew.

„Hau rein", grinst Maciek.

„Du schaffst das, Mann. Dich kann man einfach nur mögen", erwidert Arlo.

Die Jungen sind völlig erschöpft von der Woche, entscheiden sich auch sofort alle nach Hause zu gehen, denn draußen ist es so heiß, wie noch nie in einem Sommer im Norden.

„Ciao, bis zum Wochenende", verabschieden die Jungen sind voneinander und gehen getrennte Wege. Sie hatten abgemacht, am Wochenende in den Stadtpark zu gehen und gemeinsam zu Grillen. Das ist das Beste, was man im Sommer machen kann, wenn man in Hamburg wohnt. Am Wochenende treffen die Jungs sich an der S-Bahn Station. Jeder hat etwas mitgebracht, sie haben einen Grill, Würstchen, Sonnenschirme, Gemüse und natürlich eine Frisbee. Die Jungen konnten sich einigen, denn niemand der Jungen spielte gerne Fußball, auch wenn alle anderen dies taten. Die Jungen waren froh, endlich gleichgesinnte zu finden.

„Baust du den Grill auf?", fragt Maciek Arlo, als sie sich einen Platz mitten in dem großen Park gefunden hatten.

„Bin dabei", ruft dieser zurück und ist schon dabei, den Grill zusammenzubauen. Bo und Zak haben sich schon von der Gruppe getrennt, um sich vor der Arbeit zu drücken und spielen auf der großen Wiese Frisbee.

„Hast du Becca jetzt eigentlich nach einem Date gefragt?", fragt Maciek, der sich neben Drew gestellt hatte und ihm nun dabei hilft, die großen Sonnenschirme aufzubauen.

„Nein, ich habe es noch nicht geschafft"

„Wann wirst du es machen?", fragt er neugierig.

„Vielleicht am Montag. Ich hab Angst, dass sie mich gar nicht mag", erklärt Drew.

„Ausprobieren geht über Studieren", ruft Arlo ihm zu, der immer noch mit dem Grill beschäftigt war und fleißig fluchte.

„Sie wird dich mögen. So, wie wir euch auf der Party erlebt haben, mag sie dich ganz sicher. Auch auf deinem Geburtstag. Sie wird sicher ja sagen. Ich kenne mich mit Mädchen aus", zwinkert Maciek ihm zu.

„Sieht man ja bei Edda", lacht Arlo.

„Das ist was anderes. Damals, als ich noch geschwommen bin, standen die Mädchen Schlange", grinst Maciek. Man hört Arlo im Hintergrund fluchen.

„Nein. Ernsthaft, ich glaube sie mag dich wirklich. So wie du von ihr und dir erzählst. Frage sie einfach. Du hast doch nichts zu verlieren, oder?", fragt Maciek.

„Seine Würde", lacht Arlo.

„Die ist schon lange nicht mehr vorhanden", stimmt Maciek in das Lachen mit ein und klopft Drew freundschaftlich gegen den Arm.

„Hey, ich kann euch hören", sagt Drew empört. Bo und Zak kommen von der Wiese zurück gerannt und lassen sich auf eine der Decken auf der Wiese fallen, die die anderen Jungs ausgebreitet hatten.

„Seid ihr etwa immer noch nicht fertig?", fragt Bo genervt und außer Atem.

„Nein. Wenn ihr mitgeholfen hättet, wären wir vielleicht schon fertig", protestiert Maciek.

„Ich bräuchte echt Hilfe beim Grill. Das scheiß Ding will nicht so, wie ich es will", grummelt Arlo.

„Ich helfe Arlo, du den anderen", schlägt Zak vor.

„Zeig mal her. Ich musste bei – Zuhau- früher immer den Grill aufbauen. Ich bin irgendwie handwerklich begabt oder so, hat er immer gesagt", erwidert Zak und hat in zwei Sekunden den kompletten Grill aufgebaut.

„Du solltest der Grillmeister werden", freut sich Arlo.

„Nein. Ich kann Dinge zusammenbauen, aber das kochen sollte man mir nicht überlassen"

„Grillen", antwortet Arlo.

„Siehst du"

Nach ein paar weiteren Minuten haben sie alles weitere aufgebaut und Arlo fängt an, die Kohle in den Grill zu schütten und zu heizen. Die Jungen sitzen eine Weile auf den Decken herum und quatschen, bis das Essen fertig ist und sie sich gemütlich die Bäuche vollschlagen.

„Ist das da hinten nicht Becca?", fragt Zak nach einer Weile.

„Wo?", fragt Drew, seine Stimme klingt etwas aufgeregt.

„Da hinten, mit dem anderen Mädchen. Am Wasser" , erklärt Bo, der die beiden nun auch gesehen hatte.

„Ich sehe sie nicht", erklärt Drew.

„Wollen wir mal zu ihnen hingehen?", fragt Maciek grinsend.

„Nein. Ich will sie erst Montag fragen", erwidert Drew.

„Komm schon. Du brauchst sie doch nicht fragen. Aber sie können sich doch zu uns setzen. Wir könnten gemeinsam Wikingerschach spielen. Das haben die dabei", erklärt Maciek.

„Das siehst du von hier aus?", fragt Arlo entgeistert.

Die anderen Jungen verlassen das kleine Lager, welches sie sich aufgebaut haben und gehen zu Becca und Holly herüber, um sie zu sich zu holen. Nur Bo und Drew bleiben sitzen.

„Ich kann dich verstehen, irgendwie"

„Was?", fragt Drew verdutzt.

„Dass du sie nicht hier haben willst", erklärt er.

„Wieso? Wen?"

„Na, Becca und Holly. Du würdest lieber etwas mit Becca alleine machen. Vielleicht kann man das ja einrichten", grinst Bo.

„Ich würde jetzt einfach gerne meine Zeit mit euch verbringen, weißt du? Becca sehe ich jeden Tag"

„Oh, verstehe"

„Ja, aber ich weiß nicht, wie ich das den Jungs sagen soll. Und jetzt ist es auch irgendwie zu spät"

„Mach einfach das Beste draus, okay?", lächelt Bo ihn aufmunternd an.

„Ja", lächelt Drew. „Danke"

Die anderen kommen mit Holly und Becca im Schlepptau zurück. Die beiden begrüßen Drew wieder mit einer Umarmung, weil er es ihnen noch immer nicht gesagt hatte, dass er dies nicht mochte.

„Von denen lässt du dich umarmen? Ich dachte, du magst das nicht!", ruft Maciek zu ihm rüber. Halt deine Fresse, denkt Drew sich.

„Stimmt das?", fragt Becca.

„Ja", gibt Drew geknirscht zu.

„Warum magst du es denn nicht?"

„Ich bin einfach nicht so ein Umarmungstyp", lügt er.

Damit scheint das Gespräch beendet zu sein, denn Becca setzt sich auf eine der Decken und bekommt etwas zu essen, welches noch auf dem Grill geschlummert hat, auf ihren Teller. Holly bekommt ebenfalls etwas.

„Danke", freuen die beiden sich und beginnen das Fleisch herunter zu schlingen.

„Okay. Welche Mutter hat diesen Kartoffelsalat gemacht?", fragt Holly begeistert.

„Meine", lächelt Drew.

„Ich muss unbedingt zu euch kommen und mir das Rezept geben lassen", freut sie sich.

„Du bist Willkommen", lächelt Drew. Es ist ihm sichtlich unangenehm, dass die beiden hier sind. Diesen Nachmittag hatte er sich ganz anders vorgestellt. Die beiden Mädchen integrieren sich ziemlich gut in die Gruppe, aber auf einmal fühlt Drew sich ziemlich ausgeschlossen. Arlo und Maciek spielen mit den Mädchen die ganze Zeit über Frisbee und Bo und Zak sind miteinander beschäftigt. Da bleibt für Drew in der Gruppe keinen Platz mehr.

„Ich muss jetzt nach Hause", sagt er auf einmal zu Bo und Zak und packt seine Sachen zusammen.

„Ist alles okay?", fragt Bo einfühlsam.

„Ja, meine Mum hat mir geschrieben", lügt er. „War schön" Eine weitere Lüge. Genau aus diesem Grund wollte er nicht, dass sie die beiden Mädchen einluden. Drew wusste, dass die beiden anderen sich wahrscheinlich an die Mädchen ranmachen würden, weil sie eben so waren. Sie kamen gut mit Mädchen klar. Arlo hatte immerhin eine Freundin und Maciek hatte seinen Senf ja vorhin schon dazu gegeben. Drew konnte sich eben nicht gut in Gruppen integrieren und schon gar nicht, wenn zwei seiner Freundeskreise aufeinander trafen. Zumal er noch nicht lange gute und viele Freunde hatte. Wenn man keine Freunde hatte, konnte man dies eben auch nicht lernen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top