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Diese Wochen haben die Jungen endlich Therapie und auch wenn Frau Silverstone noch ein bisschen neben der Spur ist, haben die Jungs eine Menge zu erzählen. Als erstes berichten sie von der gemeinsamen Überraschungsparty.
„Und du hast wirklich nichts davon mitbekommen?", fragt sie nun euphorisch. Sie wird durch die Jungen von ihren Sorgen und Problemen abgelenkt. Nun tut auch ihr diese Therapiestunde einmal richtig gut und hilft nicht nur den Jungen.
„Ja, wir haben uns davor gestritten. Deshalb habe ich nichts gemerkt. Ich dachte eigentlich, ich würde niemals eine so tolle Geburtstagsparty erleben. Aber dank ihnen haben sie das geplant", freut Drew sich noch einmal über den vergangenen Geburtstag.
„Wegen mir?", fragt sie erstaunt.
„Ja, sie haben den Jungen wohl erzählt, dass ich bald Geburtstag habe", erklärt er ihr.
„Oh, ja stimmt", erinnert sie sich.
„Ist mit ihnen eigentlich alles okay? Das mit Edda war ja ziemlich heftig", fragt Maciek, so direkt, wie er eben ist.
„Oh", nuschelt sie. Nun wirkt ihr Gesicht zerfallen und traurig.
„Lass uns lieber über etwas anderes reden", schlägt Drew vor, der diesen Gefühlsumschwung bemerkt hat. „Schließlich geht es hier um uns", ergänzt er.
„Wie war euer Boxkampf?", fragt er Zak und Bo. Bo fängt sofort an zu schwärmen, denn er lebt für das Boxen. „Ich konnte mir sogar meine Boxhandschuhe von meinem Lieblingsboxer signieren lassen", grinst er über beide Ohren und kramt sein Handy hervor, um ein Foto mit dem besagten Mann zu zeigen.
„Wenn ich ehrlich bin, mochte ich das Training mit Bo lieber", sagt Zak grinsend. „Dort ging es nicht ganz so brutal zu, wie im Ring", lacht er.
„Das ist halt das Boxen", schmunzelt Bo.
„Wie war es denn bei deiner Schwester und ihrem neuen Freund?", fragt Bo.
„Es war super schön. Ich mag den neuen Freund wirklich, er ist cool. Wir haben die gleichen Interessen. Er fotografiert tatsächlich auch gerne und wir haben gemeinsam Pizza gemacht. Er mag Ananas genauso gerne auf Pizza, wie ich. Da habe ich endlich einen Verbündeten gefunden, denn Auryn hasst Ananas auf Pizza. Außerdem sind wir auf den Dom gegangen und er hat EIN Kuscheltier für mich gewonnen. Das sollte ich dann Becca schenken, aber ich hab es erst einmal behalten. Ich mag solche Erinnerungen", erklärt Drew und erzählt von dem Wochenende, welches er bei seiner Schwester verbracht hat.
„Arlo?", fragt Drew, der die ganze Stunde noch nichts gesagt hat.
„Wie war die Nachsorgeuntersuchung?", fragt Drew.
„Gut", ist die einsilbige Antwort, die Arlo ihm gibt.
„Was ist los?", fragt Frau Silverstone besorgt.
„Ich habe eine scheiß Angst, vor diesem scheiß Krebs. Dass er mich einholt und zurückkommt. Dass ich nicht mehr genug Kraft habe, um gegen ihn anzukämpfen", wispert er wütend, als ob der Krebs ihn hören könnte und dadurch zurückkommen würde, wenn er es laut ausspricht.
„Aber die brauchst du doch gar nicht haben. Du hattest deine letzte Nachsorgeuntersuchung erst am Freitag und es war alles gut. Die Haare sind komplett nachgewachsen und du brauchst keine Mütze mehr tragen, also setzt das blöde Ding doch mal ab", grinst Frau Silverstone ihn an.
„Ich weiß auch nicht", murmelt er.
Die Jungs sitzen ratlos in der Runde und schauen Arlo an. Sie wissen nicht, wie sie ihrem Freund helfen können, denn sie hätten auch Angst, dass der Krebs zurückkommen würde. Sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.
„Die Haare stehen dir gut", sagt Bo.
„Aber ohne warst du auch schön", fügt er hinzu.
„Manchmal habe ich Phasen, da komme ich damit klar. Aber diese Phasen, die ich jetzt habe, die kommen momentan irgendwie häufiger vor und ich will sie loswerden. Mein Papa ist damals an Krebs gestorben und ich kann meine Mama nicht alleine lassen. Ich kann nicht noch einmal Krebs bekommen und ihn besiegen. Er darf einfach nicht zurückkommen, versteht ihr?", fragt er. Die Jungs nicken.
„Wir sind für dich da", sagen sie alle.
„Warte Mal", erwidert Frau Silverstone. Sie scheint eine Weile nachgedacht zu haben.
„Ihr habt euch gestritten, als ich einmal nicht da war?", fragt sie belustigt.
„Das ist ja echt der Hammer. Anscheinend braucht ihr mich für eure Freundschaft", macht sie sich ein wenig über die Jungen lustig. Dies kann sie inzwischen tun, weil sie ein enges Verhältnis zu den Jungen aufgebaut hat und sie auch gerne einmal herum albern.
„Hey, wir haben uns doch vorher auch außerhalb der Therapietermine getroffen und sind immer gut klar gekommen", beschwert sich Drew.
„Nur dieses eine Mal ist eben etwas schief gelaufen und das war meine Schuld", erklärt Drew.
„Weshalb war das deine Schuld?", fragt sie, nun neugierig. Sie braucht bloß Abwechslung und Ablenkung, auch wenn dies unprofessionell ist.
„Ich wollte mir einen schönen Tag mit den Jungs machen, denn es war irgendwie seltsam, sie am Therapietag nicht zu sehen. Also habe ich Bo und Zak als erstes mit dem Auto abgeholt. Sie waren beide zu spät, dann sind wir weiter zu Arlo. Er war auch zu spät. Das hat mich echt angepisst, denn ich hasse es, wenn Menschen zu spät kommen. Als wir dann bei Maciek angekommen sind, er war pünktlich, haben wir uns irgendwie in die Haare bekommen und ja, das ist dann eskaliert, irgendwie. In gewisser Weise. Maciek wollte mit mir reden und alles klären, aber ich war so sauer in dem Moment, was die Jungs natürlich nicht wissen können. Maciek meinte, jeder hätte bestimmt seine Gründe, weshalb er zu spät war. Immerhin war er auch aus einem Grund immer zu früh. Und ich hatte ja auch meinen Grund, warum ich so ausgerastet bin, weil sie zu spät waren, verstehen Sie?", fragt er seine Therapeutin, die langsam nickt, als sie den ganzen Gedankengang verstanden hat.
„Die Gründe haben wir aber nie geklärt, weil sie nicht wollten. Es war wahrscheinlich zu privat", nuschelt Drew.
„Aber hier kehren wir doch unser Innerstes nach außen", sagt Frau Silverstone.
„Wollt ihr die Gründe und den Streit nicht klären? Ihr scheint ihn ja, wegen des Geburtstages einfach ignoriert und verdrängt zu haben. Aber ist da nicht noch Klärungsbedarf?", fragt sie. Fuck. Bo konnte seinen Grund hier nicht nennen.
„Ich kann meinen ruhig sagen", erklärt Arlo und erzählt seine Geschichte, weshalb er zu spät gekommen war.
„Oh", sagt Drew. Er entschuldigt sich bei Arlo, denn so ein mieses Arschloch als Freund kann man echt nicht gebrauchen, wenn man sowieso schon komplett am Ende ist.
„Ich war zu spät, weil-", will Zak gerade anfangen, doch Bo unterbricht ihn.
„Zak und ich mussten noch etwas Wichtiges klären. Im Kinderheim. Deshalb waren wir zu spät. Wir können nicht sagen, was es ist, weil es um jemanden aus dem Heim geht, okay?", fragt er in die Runde. Alle sind zwar etwas misstrauisch, nicken aber trotzdem.
„Dann ist es jetzt wohl auch nur fair euch zu erzählen, weshalb ich so ausraste, wenn jemand zu spät kommt", antwortet Drew und holt tief Luft.
„Es hat etwas mit meinem Vater zu tun-", fängt er an zu erzählen, doch Maciek unterbricht ihn.
„Der war an deinem Geburtstag nicht da, oder?", fragt er.
„Lass ihn ausreden", erwidert Bo.
„Also. Mein Vater und meine Mutter leben getrennt. Sie haben eigentlich noch ein gutes Verhältnis zueinander, aber er hat immer gesagt, dass er zu meinen Geburtstagen kommt und am Anfang ist er immer zu spät gekommen bis er irgendwann gar nicht mehr aufgetaucht ist, noch nicht einmal angerufen hat er. Es hat also nichts mit euch zu tun, wenn ich so ausraste. Es erinnert mich einfach immer an meinen unzuverlässigen Vater und das macht mich traurig und auch irgendwie verdammt wütend. Also, es tut mir Leid", erklärt er.
„Das ist wirklich beschissen", antwortet Bo.
„Eltern sind scheiße", erwidert auch Maciek.
Die Therapiestunde geht in dieser Woche ziemlich schnell vorbei, denn sie haben eine Menge zu bereden. Als Arlo nach Hause kommt, schleicht Blooper direkt um seine Füße und er beginnt seinen kleinen, schwarzen Kater zu streicheln, bevor er sich die Schuhe von den Füßen streicht und nach oben in sein Zimmer geht, um sich dort auf das Bett zu legen. Blooper kommt ihm hinterher geschlichen. Blooper ist ein sehr treuer Kater, den Arlo schon seit seiner Kindheit besitzt und ihn durch all die schweren Zeiten begleitet hat. Lange durfte er Blooper nicht sehen, wegen der Bakterien. Doch sein Kater ist genauso treu, wie vorher und liebt es immer noch zu schmusen. Er hüpft auf das Bett von Arlo und lässt sich erst einmal den Bauch kraulen, bevor die beiden wieder in die Küche gehen, um sich etwas zu Essen zu machen. Blooper war ebenso krank, wie Arlo es gewesen war, denn man musste immer so tun, als ob man Bloopers Essen mochte und aß, damit der Kater es fraß. Konnten Katzen Magersüchtig sein war eine Frage, die Arlo sich des Öfteren stellte.
Er setzt sich nach dem Essen wieder auf sein Bett, um die neusten Instagramnachrichten zu lesen. Auch wenn er die App hasst, zieht sie in aus irgendeinem Grund magisch an. Vielleicht weil er dort das Leben seiner alten Freunde mitbekam. Ein soziales Leben, welches er seit dem Krebs nicht mehr besaß. Er fragte sich, was seine Freunde tun würden, wenn er ihnen zeigen würde, dass er nicht mehr krank ist. Stattdessen entschließt er sich, auf Instagram nach seinen neuen, wahren Freunden zu suchen. Er gibt einen nach dem anderen Namen bei Instagram ein, doch niemand scheint die App zu haben. Schließlich schließt er die App und beschließt, dass er sich dringend ein neues Hobby suchen muss. Denn er war ständig nur in der Therapie oder saß Zuhause rum. Er hatte keine Freunde mehr, mit denen er sich regelmäßig traf, bis auf seine Therapiefreunde, wie seine Mutter die vier liebevoll nennt.
„Blooper, was soll ich bloß machen? Sollte ich, wie Bo mit dem Zeichnen anfangen?", fragt er seine Katze nachdenklich.
„Nein. Ich kann ja noch nicht einmal malen. Mein Leben ist ganz schön traurig", antwortet er sich selbst.
„Ich gebe es auf", sagt er nach einer Weile, als er ernsthaft in der Suchleiste bei Google Neue Hobbys eingegeben hatte und schmiss sich auf das Bett. Er beschloss, seine Freundin anzurufen.
„Du bist scheinbar mein einziges Hobby. Kannst du herkommen und mir Gesellschaft leisten? Mir ist langweilig. Ich habe keine Freunde und zum Skaten ist es viel zu heiß", eröffnet er das Gespräch.
„Gerade im Sommer macht es doch wahnsinnig Spaß zu skaten. Ich komme vorbei und du zeigst mir ein paar Tricks, okay?", fragt sie.
„Ja, bis gleich", sagt er mit wenig Begeisterung.
„Bis gleich", freut sie sich und zwanzig Minuten steht sie mit Helm und Schützern vor der Tür.
„Ist dir darin nicht viel zu heiß?", lacht er.
„Ja, lass uns doch lieber ins Freibad gehen", schmunzelt sie und perlt sich langsam aus dem Helm und den restlichen Schützern.
„Ich habe doch gesagt, dass es heute viel zu heiß ist", sagt er grinsend und hilft ihr die Armschützer von ihren Armen zu entfernen.
*
Bo saß mitten in der Nacht auf dem Bett und schaute zu Zak, der diese Nacht erstaunlich ruhig schlief. Doch heute Nacht hatte Bo einen Alptraum gehabt. Seit langer Zeit wieder einmal. Er hatte schon lange keine Alpträume an die besagte Nacht, doch heute hatte ihn es getroffen. Er hatte die Nacht wiedererlebt. Ein weiteres Mal und es fühlte sich so real an. Er hält es nicht mehr aus und die Tränen rinnen über sein Gesicht. Er zieht sich die Decke über den Kopf und schließt die Augen, doch die Bilder rasen durch seinen Kopf. Er wusste nicht mehr, wie einprägsam diese Erinnerungen gewesen waren, obwohl er noch so klein gewesen war. Das war die erste und einzige Erinnerung, die ihn je an seine Eltern bleiben würde. Er sah seine Mutter erschrocken nach hinten schauen, die Augen weit aufgerissen. Sein Bruder schaute ihn ängstlich an und alle schrien. Nur er sagte kein Wort. Er weinte.
Er musste den Schmerz ertränken. Dieses Mal stand er zielgerichtet auf, denn er weiß genau, was er will und geht zum Schrank, er denkt nicht über die Konsequenzen nach und was dies mit ihm anrichten wird. Er denkt nur an diesen einen Moment. Er öffnet die Schranktür und holt die Vodkaflasche heraus. Er schlurft zum Bett und öffnet sie leise, damit Zak nicht aufwacht, doch der schläft tief und fest. Er überlegt nicht mehr, er sieht die Flasche und nimmt einen herrlichen Schluck, der all seine Sorgen vergessen lassen würde. Als er die ganze Flasche ausgetrunken hatte, schläft er friedlich und ohne Alpträume ein.
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