20
„Hey, Drew. Willst du dich zu uns setzen?", fragt Becca, als sie ihn in der nächsten Woche wieder in der Schule sieht. Er nickt ihr von weitem lächelnd zu und setzt sich schließlich zu Becca und ihrer Freundin, die ihn anscheinend nicht wiedererkennt, denn sie begrüßt ihn nicht. Vielleicht hallt der Kater von der Party noch nach.
„Wo ist Bash?", fragt sie. Zuerst ist Drew enttäuscht, da er denkt, dass Becca sich nun doch nur für seinen besten Freund interessierte und ihn nur als einen gesehen hatte, der sie an Bash heranführen konnte. Das war ihm schon viel zu oft passiert, denn Bash sah einfach besser aus, als er. Das fanden zumindest alle Mädchen, die er bis jetzt getroffen hatte.
„Er geht auf eine andere Schule", lächelt Drew sie an, während er sich neben die Freundin setzt.
„Achso. Warum hast du eigentlich die Schule gewechselt?", fragt sie. Fuck. Diese Frage konnte Drew ihr schlecht beantworten. Er will ihr nicht sagen, dass er gemobbt wurde und schon gar nicht den Grund, also denkt er sich eine Ausrede aus.
„Bin geflogen", sagt er leise.
„Oh, du willst wahrscheinlich nicht über den Grund reden, oder?", lächelt sie ihn an.
„Nein", lacht er nervös.
„Dann werde ich auch nicht weiter nachfragen", zwinkert sie ihm zu und wird dann von ihrer Freundin unterbrochen.
„Becca, wir müssen in den Unterricht. Komm endlich, mit dem kannst du auch noch in der Pause reden. Aber ich kann nicht schon wieder zu spät kommen", fordert ihre Freundin sie genervt auf, deren Namen Drew immer noch nicht kennt, der ihn aber auch wenig interessiert. Hauptsache er kennt Beccas Namen.
„Was hast du jetzt?", fragt sie Drew, als sie ihre Sachen zusammen packt und sich noch einmal zu ihm umdreht.
„Mathe"
„Mein Beileid. Ich hab Englisch", erwidert sie.
„Auch nicht besser, meinst du?"
„Ne, ich mag beides nicht"
„Wir können gerne tauschen", lacht er und macht sich, als Becca und ihre Freundin sich auf den Weg Richtung ihres Klassenraumes machen, auch auf den Weg zu seinem Klassenraum, in dem er schon freudig erwartet wird. Alle begrüßen ihn herzlich. Die Jungen geben ihm einen Handschlag, die Mädchen umarmen ihn liebevoll. Hin und wieder denkt er noch an seine alte Schule und hat Angst, dass es mit dem Mobbing weitergehen könnte. Manchmal denkt er noch, jemand wird ihm gleich eine Beleidigung an den Kopf werfen, doch an dieser Schule sind alle so liebevoll, dass man sich das eigentlich gar nicht ausmalen kann.
*
Bo und Zak sitzen wieder einmal in ihrem Zimmer, und Bo vertieft in seine Zeichnung, die er immer noch nicht fertig hatte, an der er schon Stunden gearbeitet hatte, denn sie sollte perfekt werden. Er will die Zeichnung jemanden schenken und besonders, wenn er etwas verschenken will, dann achtet er auf jeden Strich, jede Linie, sodass alles an dem richtigen Platz ist und er zu hundert Prozent zufrieden ist, denn sonst kann er dies nicht jemand anderem zumuten. Er radiert immer wieder etwas weg, weil er weiß, dass er es noch besser kann, bis er von Zak unterbrochen wird.
„Was machst du da?", fragt er, als er ins Zimmer hinein kommt.
„Nichts", sagt Bo schnell, um die Zeichnung hinter seinem Rücken zu verstecken.
„Wieso willst du es mir nicht zeigen? Hast du etwa Geheimnisse vor mir?", fragt Zak grinsend und umarmt Bo schon fast, um an die Zeichnung zu kommen. Bos Herz schlägt schneller, denn in diesem Moment ist er sich nicht mehr sicher, ob die Zeichnung Zak gefallen wird, oder ob es ihn verletzen wird. Bo hatte seine Eltern gemalt, wie sie damals aussahen. Auch deshalb ist er noch kritischer, als sonst. Seine Eltern und sein Bruder sind immer noch die wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Er hatte ein Bild von ihnen, welches er immer mit sich herumträgt und wollte diese Zeichnung Zak schenken, um mit ihm darüber zu reden, ihm das Bild zu zeigen. Doch in diesem Moment weiß er nicht, ob Zak nicht sauer sein würde, weil er es ihm unter die Nase reibt, dass seine Eltern so toll waren, auch wenn sie nicht mehr da sind und Zak welche hatte, die scheiße sind. Das wäre nicht fair. Von seinem Bruder hatte er tausende von Zeichnungen. Davon könnte er Zak eine zeigen, aber verschenken würde er keine und nun war er sich auch nicht mehr sicher, ob er dies mit einer Zeichnung seiner Eltern könnte. Eigentlich erzählte Bo niemanden von seinem Bruder, denn er war sein ein und alles. Sein Geheimnis. Sein Rückzugsort.
„Es ist noch nicht fertig", antwortet Bo schließlich, als Zak das Bild fast zu fassen bekommen hatte. Bo rutscht das Herz in die Hose.
„Ich möchte, dass du es erst siehst, wenn es fertig ist. Außerdem glaube ich, dass ich es verfehlt habe. Was sind deine Lieblingstiere?", fragt Bo ihn, nun ist ein kleines lächeln auf seinen Lippen zu erkennen. Er ist stolz, dass ihm so schnell eine Ausrede eingefallen ist.
„Kolibris"
„Ernsthaft?", fragt Bo lachend.
„Ja, die sind total cool!", bestätigt Zak.
„Ja, dann lag ich komplett daneben. Ich dachte, deine Lieblingstiere sind Lemuren"
„Ähm. Bo. Das ist genauso absurd", lacht Zak, immer noch verdammt nah an Bo stehend. Inzwischen hatte er bloß die Arme wieder zu sich genommen. Dennoch stand er genau vor Bo, der auf seinem Bett sitzt.
„Ich gehe mit den kleinen auf dem Basketballplatz spielen. Willst du mitmachen? Ich werde sie in den Boden stampfen", lächelt Zak und tritt nun endlich ein Stück zurück.
„Endlich hast du auch mal Chance gegen einen Gegner", lacht Bo.
„Nein, ich male lieber noch weiter", sagt er und bleibt auf seinem Bett sitzen. Ohne noch etwas zu erwidern verschwindet Zak aus dem Zimmer und Bo kann das Bild wieder hinter seinem Rücken hervorholen. Er nimmt das Bild in die Hand und schaut es sich an. Er sieht all die wegradierten Linien und Striche in diesem Moment nicht. Er erkennt darauf nur seine Mutter und seinen Vater. Er schaut es sich an und denkt daran, dass er sich an nichts mehr erinnern kann. Er kennt seine Eltern nicht einmal, nicht einmal seinen Bruder. Und doch liebt er diese Menschen so unglaublich, so sehr. Er kann es nicht mehr verhindern, bei dem Anblick der beiden laufen ihm die Tränen ins Gesicht und er kann dem Anblick seines Schrankes nicht mehr widerstehen. Er weiß, was sich dahinter verbirgt und will sie greifen. Nur einen Schluck. Nur einen einzigen, kleinen Schluck, um den Schmerz zu ertränken. Ihnen für eine Weile vergessen zu können. Diesen unglaublich großen, herzzerreißenden Schmerz. Gerade als er die Schranktür öffnen will, platzt Zak in das Zimmer hinein und kann ihn, ohne es zu wissen, vor einem riesengroßen, weiteren Fehler in seinem Leben bewahren.
*
Maciek ist dieses Mal zu früh zur Therapie, eine ganze halbe Stunde, weil er es nicht mehr abwarten konnte aus dem großen Haus zu fliehen. Seine Eltern stritten mal wieder ununterbrochen und er hatte es nicht mehr ausgehalten. Er hatte sich noch nicht einmal das Fahrrad genommen, denn er musste irgendwie seine ganze Wut auf die beiden herauslassen und das konnte er am besten, indem er einfach los lief. Eigentlich ohne Ziel, doch es hatte ihn zur Therapie geführt. Er war die ganze Strecke gelaufen, ohne auch nur einmal anzuhalten. Seine Flasche hatte er nicht vergessen. Er hatte sie die ganze Zeit in der Hand gehalten und nun läuft er ins Badezimmer, um sie aufzufüllen, da er sie gerade geleert hatte. Dann setzt er sich auf das rote Sofa im Wartezimmer und muss an die Fernsehshow denken, die seine Mutter immer schaute. Das rote Sofa, eigentlich eine reine Ironie, dieses rote Sofa hier hineinzustellen. Sie waren keine Berühmtheiten, eher eine gebrochene Generation. Die Irrenanstalt, aber sicher keine Berühmtheiten. Sie alle waren gebrochene Kids. Auf einmal kommt jemand aus dem Therapieraum hinaus und Maciek fällt auf, das er gar nicht weiß, wer vor ihnen therapiert wird. Er hatte nie jemanden vor ihn und den Jungen gesehen. Bei seiner Einzeltherapie wusste er, welche Patienten vor und welche nach ihm dran waren. Doch hier weiß er nur, dass Edda nach ihnen an der Reihe war. Nun schaut er gespannt auf das Zimmer, welches sich gleich öffnen würde, denn jemand hatte schon seine Hand auf der Türklinke liegen. Maciek kann es aus irgendeinem Grund nicht abwarten, es macht ihn neugierig und er kann sich nicht erklären, weshalb er dies war. Normalerweise war das nicht seine Art und dann öffnet sich die Tür. Heraus tritt Edda.
„Edda? Was machst du denn hier?", fragt Maciek sie, als sie ihn mit geöffneten Mund anblickt.
„Das gleiche könnte ich dich fragen", kontert sie.
„Ich musste von Zuhause raus", beginnt er zu erzählen, doch sie unterbricht ihn.
„Das kannst du deiner Therapeutin erzählen. Danach habe ich nicht gefragt", antwortet sie schnippisch.
„Im Grunde genommen hast du danach gefragt, indem du meintest was ich hier mache. Außerdem habe ich gleich Gruppentherapie und das weißt du", versucht er gegen sie anzustänkern.
„Aber du bist viel zu früh", erwidert sie.
„Und woher willst du das wissen?", fragt er.
„Ähm, also- Weil die anderen noch nicht da sind", stottert sie.
Nun kommt auch Frau Silverstone aus dem Zimmer heraus, denn sie muss Stimmen wahrgenommen haben.
„Maciek, was machst du denn schon hier?", fragt sie. Nun kann er nicht mit der gleichen Frage antworten, wie Edda, denn schließlich war es klar, warum Frau Silverstone in ihrer eigenen Praxis sitzt.
„Ich bin zu früh, ich weiß und ich werde ihnen berichten, weshalb ich schon hier bin, wenn es so weit ist. Ich will Edda ja schließlich nicht die Ohren vollheulen", lächelt er Edda provokant an.
„Edda, ich muss noch einmal kurz mit dir sprechen. Würdest du bitte noch einmal reinkommen, zu mir?", fragt Frau Silverstone das Mädchen, welches ebenfalls eine Wasserflasche in der Hand hält. Die beiden treten noch einmal in den Raum hinein und am liebsten hätte Maciek an der Tür gelauscht, doch dies ließ er bleiben, denn das Risiko war zu groß, dass sie nur zwei Minuten in dem Raum bleiben, wenn überhaupt und ihn beim Lauschen erwischen würde. Er bleibt also geschlagene drei Minuten in dem Raum sitzen und wartet, bis die beiden wieder aus dem Raum kommen. Er hat auf die Uhr geschaut. Ihm war so langweilig.
Doch dann kommen die Jungs und die Stimmung hebt sich sofort wieder. Nur Edda kommt wieder aus dem Raum hinaus und wirft Maciek noch einen weiteren arroganten Blick zu, bis sie im Bad verschwindet, um ihre Wasserflasche aufzufüllen, was man nach einigen Sekunden sehen kann, da sie aus dem Badezimmer hinauskommt und ins freie tritt.
„Sie ist irgendwie seltsam", sagt Maciek zu den anderen Jungen, als Frau Silverstone aus dem Zimmer kommt und die Jungen hineinbittet.
„Wir sprechen so nicht über andere Patienten, Maciek", ermahnt seine Therapeutin ihn.
Die Jungen setzen sich, dieses mal wieder gemischt auf die verschiedenen Stühle und Sofas, die in dem kleinen Raum stehen. Nur Drew hatte seine Jeansjacke wieder angelassen. Maciek hatte seinen Mund schon wieder an der Wasserflasche angesetzt.
„Bist du gestresst, Maciek?", fragt Frau Silverstone ihn, hauptsächlich um ihn am Trinken zu hindern.
„Ja. Meine Eltern machen mich wahnsinnig. Ich dachte, nun da der Druck vom Schwimmen weg ist, wird es besser. Aber sie scheinen ein echtes Problem zu haben.", erklärt er den anderen.
„Warst du deshalb so früh?", fragt sie liebevoll.
„Ja", antwortet er mürrisch.
„Warst du zu früh?", fragen Bo und Zak.
„Ja"
„Das könnte uns nicht passieren", lachen die beiden.
„Ich wollte einfach raus da. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Mein Kopf ist fast geplatzt", sagt er wütend.
„Sie sollen endlich damit aufhören. Ich kann da nicht mehr mitmachen, nicht mehr lange. Ich will mir die Ohren zu halten, sie übertönen, ausziehen"
„Das tut mir sehr leid. Komm doch zu mir ins Kinderheim", macht Bo einen Scherz, bei dem er allerdings schlucken muss. Lieber hätte er streitende Eltern, als tote Eltern.
„Aber besser sie streiten, als dass sie tot sind, oder?", fragt er lächelnd, aber kein echtes lächeln, kein normales lächeln. Es ist ein gequältes Lächeln und man sieht, dass es ihm weh tut, diese Worte auszusprechen.
„Tut mir Leid, Bo. Ja, du hast Recht. Es ist besser. Aber du kennst meine Eltern nicht", antwortet Maciek.
„Kann ich sie kennen lernen?", fragt er.
„Ich kann sie mal fragen. Vielleicht laden sie dich zu einem Abendessen ein und dann lernst du kennen, was es wirklich heißt, sich zu streiten", lacht Maciek, nun auch gequält, aber anders, als Bo, irgendwie in gewisser Weise.
„Zak. Wie hast du dich eigentlich im Heim eingelebt?", fragt Frau Silverstone nun, völlig aus dem nichts, was Zak ein bisschen aus dem Konzept bringt, aus der Bahn wirft.
„Was?", fragt dieser perplex.
„Ich möchte gerne wissen, wie du dich in dem Kinderheim eingelebt hast, indem du lebst, seitdem, du weißt schon", wiederholt sie ihre Frage.
„Ähm, also ich-", stottert er vor sich hin.
„Hast du Freunde gefunden?", fragt sie, immer noch lächelnd, geduldig.
„Ja, viele kleine Knirpsfreunde", lacht er. Wir haben erst letzte Woche Basketball zusammen gespielt. Sie sind wirklich süß, aber es gibt kaum ältere, was ein bisschen schade ist. Die sind alle erwachsen geworden. Die meisten kleinen werden auch adoptiert, man verliert andauernd Freunde und das ist echt scheiße", erklärt er.
„Es freut mich, dass du dich so schnell eingelebt hast. Bo kann dir bestimmt in gewissen Dingen weiterhelfen. Er kennt das Leben dort schließlich", lächelt sie.
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