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Die fünf Jungen warten in dem Warteraum, denn sie alle jede Woche einmal besuchen. Nun sollten sie das erste Mal in eine Gruppentherapie gelangen. Keiner der Jungs weiß das Problem des andern und kann sich auch nicht vorstellen, was es ihm bringen würde, wenn er die Sorgen und Probleme seines Gegenübers kennen würde. Das sahen alle bloß als einen Eingriff in die Privatsphäre an. Es reichte doch schon, einmal die Woche seiner Therapeutin sein ganzes Herz auszuschütten, wieso sollte man nun also zweimal die Woche herkommen und vier völlig fremden von seinem Leben berichten.

Dennoch machen die Jungen sich Gedanken darüber, was den anderen quälen konnte. Vielleicht waren sie alle ein bisschen neugierig. Der eine Junge hat eine Kappe auf, sodass man seine Haare nicht sehen kann, denn sie scheinen völlig darunter zu verschwinden, obwohl es in diesem Raum heißer ist, als in der Wüste, obwohl tiefster Winter ist. Der Junge, der neben ihm sitzt hat mehrere Schichten an Klamotten an. Man kann sehen, dass er ein T-Shirt trägt, darüber ein Hemd und noch eine Jeansjacke. Er hat sie nicht, wie alle anderen, ausgezogen und sie an den Garderobenständer gehangen. Neben ihm sitzt ebenfalls ein Junge, dessen strahlend blaue Augen aus seinem Gesicht herausstechen. Auch er hat ein Hemd an, aber er hat seine Jacke im Gegensatz zu dem anderen ausgezogen. Anschließend sitzt neben ihm ein Junge, der eine Wasserflasche in der Hand hat und diese förmlich zerdrückt. Er hat kaputte Lippen, sie sind völlig spröde und aufgebissen. Er hat die Flasche schon fast ausgetrunken, obwohl die Jungen noch nicht lange auf dem unbequemen, roten Sofa sitzen. Die ganze Einrichtung ist in hellen und bunten Farben eingerichtet, was die Jungen von Anfang an als lächerlich empfunden haben. Die Möbel können die Traurigkeit der Patienten nicht wieder ins Gleichgewicht bringen.

Das einzige, was die Jungen an der Klinik mögen sind die Sofas im Innenraum.

Man könnte meinen dass niemand den anderen kennt, aber dass man die Probleme der Jungen schon an ihrem Verhalten erkennen kann. Doch aus dem letzten und fünften Jungen, der auf der braunen Couch sitzt, wird man nicht schlau. Das einzige, was man sehen kann, sind die tausend Sommersprossen, die sein Gesicht übersähen und die braunen Haare, die der Junge sich mit der Hand aus dem Gesicht streicht.

Kurz nachdem die Jungen sich hingesetzt haben, bittet sie die Therapeutin in den kleinen, engen Raum hinein, in dem sie alle zu sechst eigentlich gar keinen Platz haben. Dennoch sind sechs Stühle aufgestellt und die Therapeutin setzt sich auf einen der Stühle. Die Jungen stehen unsicher herum und wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Der erste Junge setzt sich schließlich hin.

„Schön, dass du den Anfang machst, Arlo", lächelt sie den Jungen an, der immer noch seine blaue Cap auf dem Kopf hat. Seine Jacke hatte er schon im Warteraum ausgezogen, doch er macht keine Anstalten sie abzusetzen. Die anderen wunderten sich, dass Frau Silverstone Arlo nicht ermahnt, weil er seine Mütze nicht absetzt.

„Ihr könnt euch auch hinsetzen", lächelt sie die anderen an, die alle noch unsicher im Raum herumstehen. Einer hält sich an einem der Stühle fest, als würde er sonst gleich umfallen.

„Du kannst dich auf den Stuhl setzen, Bo", lächelt sie den sommersprossigen Jungen nun an und auch die anderen werden langsam warm, um sich auf die restlichen Plätze zu setzen. Alle wollen möglichst weit weg von ihrem Nebenmann sitzen, doch dies ist in der Situation nicht leicht, denn die Stühle sind eng aneinander gerückt. Noch nicht einmal das Fenster können sie nun noch öffnen, obwohl es so stickig in dem Raum ist, weil es sonst jemand der Jungs an den Kopf bekommen würde. Eigentlich will keiner der Jungen in diesem Raum sein, doch sie müssen zur Therapie gehen und können sich nicht erlauben, eine Sitzung zu schwänzen. Außerdem mögen sie die Therapeutin, denn sie hat den richtigen Job gewählt und ist total lieb. Sie wissen auch, dass Therapieplätze rar sind und sie ihren nicht verlieren dürfen. Auf Gruppentherapie hat trotzdem keiner Bock. Dennoch sitzen sie widerwillig auf den Stühlen und verschränken die Arme ineinander. Arlo zupft die ganze Zeit an seiner Mütze herum. Maciek zupft an dem Etikett der nun leeren Wasserflasche und kaut gleichzeitig wieder auf seinen Lippen herum. Kein Wunder, dass die so kaputt sind.

„Kann ich die auffüllen gehen?", fragt er nun schüchtern, dabei hätte man ihn beim Anblick gar nicht als schüchtern empfunden. Er hat ein markantes Gesicht, welches ihm Selbstbewusstsein verleiht. Seine Wangenknochen stechen aus seinem Gesicht heraus und seine Augenbrauen, die er böse verzogen hat. Er fährt sich durch seine blonden Haare, die an beiden Seiten herunterhängen. Die Therapeutin nickt vorsichtig und er verlässt den Raum, um kurz darauf mit einer vollen Wasserflasche zurück zu kommen. Als er den Raum wieder betritt, wirkt er noch kleiner, als er gegangen ist, obwohl er eigentlich groß ist. Dann beginnt die Therapeutin zu reden.

„Da ihr euch alle noch nicht kennt, würde ich vorschlagen, dass ihr euch kurz vorstellt. Eure Erkrankung müsst ihr selbstverständlich nicht preisgeben", sagt sie freundlich und dieses Mal ist es auch wieder Arlo, der beginnt.

„Ich bin Arlo", sagt er und zupft schon wieder an seiner Kappe herum, die er trotz Hitze, auch in diesem kleinen Raum, der nun noch wärmer zu sein scheint, eben weil sie in so einem kleinen Raum sitzen. Er hat braune Augen und ein eher rundes Gesicht. Nun macht der Junge weiter, der neben Arlo sitzt.

„Ich bin Bo. Einfach nur Bo. Und ja, das ist mein richtiger Name, bevor jemand dumm fragt", sagt er und gibt den Redestein, denn sie in der Gruppe benutzen an den Nachbarn weiter.

„Ich bin Zak" , sagt dieser leise mit tiefer Stimme und schaut genauso schnell wieder auf den Boden, wie er davor hoch gesehen hat und gibt den Stein, so schnell es geht, an seinen Nachbarn weiter. Er sieht jünger aus, als die anderen Jungen. Dabei sieht man, dass er seine Fingernägel während des Redens in seine Hände drückt, sodass Einkerbungen entstehen müssten.

„Ich bin Drew", sagt Drew und versucht seine Stimme tiefer klingen zu lassen, weil er Angst hat, dass sie sein Problem erkennen, bevor er ihre kennt. Dabei fährt er sich unsicher durch die braunen, wuscheligen Locken, die seinen Kopf prägen und pult an seinen Fingernägeln herum. Er kratzt die Stellen daneben auf, sodass es anfängt zu bluten.

„Ich bin Maciek", sagt der letzte Junge in der Runde, als er den Redestein bekommt und setzt dann wieder an seiner Wasserflasche an. Nun gibt er den Stein der Therapeutin zurück.

„Mich kennt ihr ja alle schon, also brauche ich mich nicht noch mal vorstellen. Ich würde sagen, heute machen wir erst einmal ein paar Kennlernspiele, auch wenn das nicht üblich ist, denn ihr seid noch nicht vertraut miteinander und ich kann mir vorstellen, dass ihr alle noch nicht bereit dafür seid, schon gleich beim ersten Mal eure Probleme, Sorgen und Ängste mit den anderen zu teilen." , hält sie eine Rede und beginnt im Kreis herum zu hüpfen, was ein paar der Jungs zum Lachen bringt, denn sie macht sich zum Affen. Ihr Ziel ist es, die Situation aufzulockern, sodass die Jungen sich vertrauen können und sich nicht Unbehagen fühlen, wenn sie über ihre Sorgen reden sollen. Nach den neunzig Minuten, die sie einschließlich mit Kennenlernen verbracht haben, verabschieden sie sich noch einmal in einem großen Kreis und geben der Therapeutin ein Feedback. Dies soll die Jungen darauf einstellen, dass sie den anderen Jungen bald Feedback geben sollen, wie sie mit ihren Problemen und Ängsten umgehen können oder wie sie welche lösen könnten. Sie schieben noch ein letztes Mal für heute die Stühle zurück in einen Kreis und jeder muss mindestens eine Sache sagen. Dabei sieht man schon, wie verschieden die Jungs drauf sind und was für Charaktereigenschaften sie besitzen.

Arlo fängt wieder einmal an. Man könnte sich glatt fragen, weshalb er überhaupt zu einer Therapeutin geht, denn er scheint kein Problem zu haben. Doch manchmal sieht man das Problem oder die Erkrankungen den Personen nicht an. Meistens ist dies so. Arlo scheint ein sehr selbstbewusster Junge zu sein, denn auch dieses Mal fängt er wieder an zu reden. Man könnte meinen, er wäre vom Typ her ein Anführer einer Gruppe, der die Gruppe leitet und zusammen hält. Es geht wieder im Kreis umher, sodass nach Arlo Bo redet, der ein wenig aggressiv zu sein scheint. Vielleicht liegt das einfach in seinem Wesen. Danach kommt Zak, der hingegen sehr zurückhaltend in seinem Verhalten ist und auch sehr leise redet, sodass man ihn kaum verstehen kann. Man muss ganz genau zuhören und darf in keinem Fall Krach machen, weil seine tiefe Stimme sonst darin untergeht. Drew scheint überhaupt nicht sprechen zu mögen, denn meistens nickt er einfach nur. Wenn Drew anfängt zu sprechen, wirkt er jedoch sehr unsicher und verhaspelt sich oft. Drew würde am liebsten auch überhaupt nicht reden und sich unter den dicken Pullis verstecken, denn den anderen Jungen fällt auf, dass Drew mehrere Schichten anhat, obwohl es in diesem Raum wirklich heiß ist. Dies müsste er wissen, denn er hat immerhin jede Woche Einzeltherapie hier. Draußen hätte man verstehen können, weshalb er so dick angezogen ist, aber er macht auch keine Anstalten, einen der Pullis auszuziehen. Maciek und Drew scheinen sich ähnlich zu sein, denn auch Maciek meidet es zu reden und sobald er wieder aufhört zu sprechen, setzt er seine Flasche an den Mund und beginnt einen weiteren Trinkmarathon.

„Maciek und Bo, kann ich euch gleich noch einmal sprechen?", fragt die Therapeutin die beiden, als alle Anstalten machen zu gehen. Die beiden müssen bleiben. Als Frau Silverstone dies sagt, fährt Bo sich über seine Sommersprossen, um diese nach zu fahren. Maciek hingegen bleibt ruhig. Maciek wartet im Wartezimmer, während Bo mit der Therapeutin redet und die anderen drei machen sich auf dem Heimweg. Drew und Arlo müssen zur selben Haltestelle, auch wenn Drew am liebsten mit keinem reden würde fängt Arlo ein Gespräch an. Er scheint der aufgeschlossenste und offenste zu sein. Drew ist sichtlich froh, als der Bus in die Haltestelle fährt. Jedoch setzt Arlo sich direkt neben ihn und hört gar nicht auf zu reden. Er hätte sich neben eine alte Dame setzten sollen, das wäre die bessere Option gewesen.

„Wo musst du aussteigen?", fragt Arlo begeistert nach einiger Fahrzeit. Er scheint ohne Punkt und Komma reden zu können.

„Wieso bist du so glücklich? Weshalb sitzt du in dieser beschissenen Therapie, wenn du kein verschissenes Problem hast?", fragt Drew und steigt aus. Er hat die Schnauze voll. Niemand kann so glücklich sein, wenn er eine psychische Erkrankung hat. Du leidest darunter, wie nichts anderes. Es gibt gute, wie schlechte Tage, aber niemand kann so glücklich sein, denn sie ist wie ein kleiner Koffer, denn du hinter dir her ziehst und den du nicht ablegen kannst. Du kannst ihn nicht in deinem Hotelzimmer lagern. Du ziehst diesen Koffer dein ganzes Leben lang hinter dir her und mit den Jahren sammeln sich noch weitere Lasten an, die in diesen Koffer hineinpassen müssen. Der Koffer wird immer schwerer und schon bald kannst du ihn nicht mehr ziehen. Dann gibst du auf.

Ohne es gewollt oder beabsichtigt zu haben, steigt Arlo ebenfalls aus dem Bus, um hinter Drew herzukommen.

„Ich habe Krebs", sagt er. Damit hat Drew nun wirklich nicht gerechnet. Erstens wollte er das Problem von Arlo eigentlich überhaupt nicht wissen, denn es ist viel schlimmer, als sein eigenes und er hatte nicht vor, ihm sein Problem zu entlocken, welches er in seinem Koffer mit sich herumträgt. Dann fällt Drew auf, dass Arlo gar keine psychische Erkrankung zu haben scheint. Doch nun ergibt die Mütze auch einen Sinn, die er noch kein einziges Mal abgesetzt hatte. Vielleicht besitzt er eine Komorbidität, denkt Drew sich, will jedoch nicht weiter darüber nachdenken, denn er will einfach nur nach Hause, in sein blaues, kuscheliges Zimmer, in dem er sich sicher fühlt. Das ist der einzige Ort, an dem er sich sicher fühlt. Auf der ganzen weiten Welt.

„Ich hatte mal braune Haare und ich vermisse sie sehr", erklärt Arlo ihm.

„Tut mir Leid", kriegt Drew schließlich doch noch heraus.

„Du kannst nichts dafür", antwortet Arlo und Drew bewundert seine Stärke. Er selbst hätte diese auch gerne. Arlo hat Krebs und kann trotzdem so glücklich sein, während Drew totunglücklich ist, obwohl es für ihn eine Chance gibt, so zu leben, wie er es gerne möchte. Arlo ist im Gegensatz zu ihm todkrank. Die Hälfte des Weges oder ein Viertel hatte er sogar geschafft. Er galt zwar als psychisch krank, aber seine Therapeutin behandelte ihn nie so. Niemand behandelte ihn so und er sah sich selbst auch nicht so an. Dass er als psychisch krank galt, vergaß er teilweise, doch dass er anders war, bekam er jeden Tag zu spüren.

„Kannst du mit mir auf den nächsten Bus warten?", fragt Arlo ihn nun, da er noch weiter fahren muss, um nach Hause zu kommen.

„Okay", beschließt Drew und die beiden setzten sich auf die Bank, um auf den nächsten Bus zu warten, der in einigen Minuten kommen würde. Dieses Mal ist auch Arlo still und schweigt, bis er Bus kommt und er sich verabschiedet.

Zak ist in die andere Richtung gefahren, in der er wohnt und ist froh, dass die beiden anderen warten müssen, denn Bo kann er aus irgendeinem Grund nicht leiden und auch Maciek ist ihm suspekt. Die anderen scheinen in Ordnung zu sein, doch trotzdem ist er noch nicht begeistert von der Idee, die seine Therapeutin hatte. Er wollte nicht mit anderen Jugendlichen zusammen sein und ihnen seine Probleme erzählen. Deshalb war er nun auch froh, dass er in die andere Richtung musste, als dieser Arlo. Der scheint nur so reden zu können. Drew scheint in Ordnung zu sein, denn er war still und das mochte Zak an ihm. Stille Menschen waren Zaks Lieblingsmenschen, denn sie ließen ihn in Ruhe. Wahrscheinlich wollte Drew genauso in Ruhe gelassen werden, wie Zak selbst. Mit Arlo hätte er reden müssen. Zak hatte die beiden in eine Richtung gehen sehen und nun tat ihm Drew ein wenig Leid, dass er seine Zeit mit diesem Arlo verschwenden musste.

Maciek wartet noch im Warteraum, als eine weitere Patientin in den Raum hinein huscht. Sie ist platschnass.

„Regnet es?", fragt er sie genervt.

„Siehst du doch", antwortet sie zickig und zieht ihren Mantel aus, um ihn an die Garderobe zu hängen. Sie hatte ebenfalls eine große Wasserflasche in der Hand, die fast leer ist. Sie scheint schlechte Laune wegen des Wetters zu haben, versichert er sich. Diese Methode hatte seine Therapeutin ihm beigebracht. Kurz darauf dreht sie sich um und verschwindet im Bad, vermutlich um die Wasserflasche wieder aufzufüllen. Gerade, als sie noch zu sehen ist, kommt Frau Silverstone hinein.

„So, Maciek. Jetzt bin ich für dich da. Verdammt, ihr solltet euch doch nicht treffen", ärgert sie sich über sich selbst, denn sie hätte vermutlich als erstes mit Maciek, anstatt mit Bo reden sollen, damit die beiden sich nicht über den Weg laufen würden. Plötzlich schreckt sie hoch und hält sich die Hand vor den Mund.

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