9. Ankunft
Und dann war der Moment gekommen und sie glitten über den Rand der Welt.
Margo konnte das Ziehen des freien Falls in ihrer Magengegend fühlen. Es war wie eine rasante Achterbahnfahrt, die allerdings nur abwärts führte.
Ihr Körper presste sich so eng wie möglich an den Mast und hielt sich daran fest. Ihre Hände krampften ums Holz, der Fallwind wurde stetig unbarmherziger und zerzauste ihr die Locken. Die ihr entgegenblassende Windmasse machte es Margo zudem so gut wie unmöglich, die Augen geöffnet zu lassen.
Wie lange konnten sie noch fallen? Es kam ihr ungewöhnlich lange vor und sie erwartete jeden Herzschlag folgend den Aufprall.
Das plötzliche Ansteigen ihres Blutzuckerspiegels, die vor Todesangst erhöhte Herzfrequenz innerhalb ihres Torsos, der explodierende Cocktail aus Hormonausschüttungen in ihrem Kopf, all das, machte sie ganz schwindelig.
Ein unbeschreiblicher Mix aus Chaos, der alles andere in den Hintergrund verdrängte.
„Ähm, Kapitänlein", bemerkte Smees Stimme laut, um gegen das Rauschen des Windes anzukommen. „Ich möchte ja wirklich kein Schwarzmaler sein, aber ich glaube nicht, dass Mademoiselle wirklich an unser unversehrtes Aufprallen glaubt. Das könnte gleich zum Problem werden."
„Verdammt nochmal", fluchte Angesprochener los und im nächsten Moment legte sich eine kräftige Hand auf Margos Schulter. „Hey! Jetzt reiß dich mal zusammen!"
Margo antwortete nicht, hatte die Augen angstvoll zugedrückt und dachte verzweifelt an Liam. Liam, den sie nie wiedersehen würde, nie wieder sein Lachen hören, nie wieder seine Wärme spüren, nie wieder ...
„Margo!", schrie die Stimme sie an und die Hand auf ihrer Schulter riss sie gewaltsam herum, sodass sie aus Reflex ihre Augen öffnete und in seine goldenen starrte. „Was soll das jetzt auf einmal? Bring gefälligst deine Angst unter Kontrolle, sonst krepieren wir nämlich! Ernsthaft, du hattest schon so viele gute Gelegenheiten, einen Nervenzusammenbruch zu erleiden, jetzt ist allerdings ein wirklich schlecht gewählter!"
Sie blickte in das tiefe Gold seiner Augen und irgendwas daran, beruhigte sie. Vielleicht weil sie das Gold an einen bestimmten Braunton erinnerte, den sie einst sehr geliebt hatte.
„W-Was soll ich tun?", schrie sie ihm ängstlich entgegen und alle Wut wich aus seinen Zügen und ein amüsierter Zug legte sich auf seine Lippen, als er ihr antwortete: „Glaub daran, dass wir es schaffen und wir schaffen es auch."
Das war so ein absurder Gedanke, sodass alles in Margo es anzweifeln wollte. Wenn du nur fest daran glaubst, dann wird es auch wahr werden, egal was es ist, war etwas, was man höchstens kleinen Kindern weismachen konnte. Aber sie war erwachsen. Sie ...
„Also gut", erwiderte sie zaghaft, vom Gold gebannt. „Ich glaube daran. Wir werden gleich nicht qualvoll sterben."
Kaum hatte sie das ausgesprochen, passierte etwas äußerst Skurriles, was Margo sich beim besten Willen nicht erklären konnte. Jeder Fall endete irgendwann, auf die ein oder andere Art. Nur dass es dieses Mal so war, als würde ihre Geschwindigkeit langsam auslaufen. Die Welt um Margo herum, nahm wieder richtige Konturen an. Gar nicht weit entfernt, sah sie eine grünende Insel aus dem Wasser ragen.
„Ist das Neverland?", fragte sie ehrfürchtig und der Pirat nickte bestätigend. „Ja, das ist Neverland. Herzlich willkommen."
Fast als würde eine unsichtbare Last von Margo abfallen, genoss sie für eine Sekunde die kalte Meerluft auf dem völlig nassgeschwitzten Gesicht. Ich habe es geschafft, dachte sie völlig euphorisch und kostete die letzten Nachwehen der Adrenalinexplosion aus, die ihre Adern fluteten.
„Ähm ... Kapitänlein ..."
„Was?", fragte Hook gereizt, dessen Blick immer noch mit einem undefinierbaren Ausdruck in den Augen auf Margos Gesicht gehaftet war und sich nun zu seinem Untergebenen umdrehte. Auch Margo sah Smee an und dieser deutete bedeutungsvoll nach unten.
Hook und Margo beugten sich beide über die Floßkante. Das Floß schwebte nun im viel gemütlicheren Tempo in die Tiefe, fast wie ein Fahrstuhl. Doch statt grauenhafter Fahrzeugmusik, hörte man das tosende Rauschen des Wasserfalls und statt eines gemütlichen Foyers, erwartete sie weiter unten noch weiteres Wasser und ... ein gigantischer dunkler Fleck.
„Was ist das?", schrie Margo fragend und kniff die Augen fest zusammen. Sie war inzwischen völlig durchweicht, denn obwohl der Londoner Regen sie hier nicht weiter behelligte, wurde sie kontinuierlich vom herabfallenden Strahl nassgespritzt und zitterte am ganzen Körper.
Sah aus wie irgendein Schatten ... aber ... was könnte denn so gewaltig sein? Dann fiel es ihr wie Schuppen vor die Augen. „Das ist doch nicht etwa ...", stammelte sie mit erstickter Stimme, doch Hooks gebrummtes „Tick Tock", bestätigte ihre Befürchtung bitter.
„Du willst mich wohl verarschen. Das Ding ist riesig!"
„10 Meter Kopf-Rumpf-Länge", erinnerte Smee sie unnötigerweise, dessen rundliches Gesicht zwischen Margos und Hooks Schulter schwebte. „Befehle, Kapitänlein?"
Margo verstand nicht, wie er so ruhig beim Anblick dieser drohenden Gefahr bleiben konnte. Da war ein fucking Dino-Monster-Krokodil direkt unter ihnen, was jeden Moment die Wasseroberfläche durchbrechen und nach ihrem fragilen und überhaupt nicht monstergesicherten Floß zu schnappen beabsichtigte. Er würde es zerbrechen wie einen Zahnstocher und es und seine Besatzung mit einem Happs verschlingen. So würde Margo aus dem Leben scheiden. Tod durch Monsterkrokodil. Sollte sie dann tatsächlich ihrer Urgroßtante Wendy im Jenseits begegnen, würde sie ihr was erzählen. Ihre Geschichten waren äußerst irreführend und überhaupt nicht nah an der Realität!
In dieser Sekunde nahm der dunkle Fleck Konturen an. Sie sah einen gefühlt endlos langen, schuppigen Krokodilskörper aus der Tiefe emporsteigen, schwarze, seelenlose Augen, die sie interessiert fixierten.
„Fuck", entschlüpfte es Margo bei diesem herannahenden Unheil und bevor sie sich selbst zügeln konnte, verkrallten sich ihre ängstlichen Finger in Hooks Oberarm. „Was machen wir denn jetzt?"
„Na, wir können schlecht hierbleiben, Frau Polizistin", erwiderte Hook, den Blick fest ins Wasser gerichtet. „Wir müssen springen und ans Ufer schwimmen."
„Was?!", fragte sie daraufhin entsetzt, in der leisen Hoffnung, sich verhört zu haben. „Können wir nicht irgendwas anderes tun?! Den Wasserfall wieder hoch segeln?!"
„So schnell gibst du also auf? Ich dachte, du bist hier, um deinen Sohn zu retten, Margo Darling. Also spring und rette ihn." Noch während er das sagte, durchbrach die Bestie die Wasseroberfläche und Tausend spitzer, weißer Zähne schossen auf sie zu. Margo war wie erstarrt und schaute nur hilflos hinab. Der Körper des Biestes ragte knapp bis zur Hälfte aus dem Meer und Wasser strömte an dem mächtigen, muskulösen Reptilienkörper hinab.
„Was für ein Dummkopf", grinste Hook hämisch und erst dann verstand Margo, dass das Ungetüm sich verschätzt hatte. Sein Maul schnappte zu, bevor er sie erreichen konnte und klatschte zurück ins Wasser, wodurch meterhohe Wellen empor schwappten. „Gut, dass er immer so ungeduldig ist", bestätigte auch Smee, der immer noch zwischen der Polizistin und dem Kapitän hing, „aber nächstes Mal wird er es sicher schaffen."
Als ob er nur auf diese Bemerkung gewartet hatte, näherte sich der Schatten aus der Tiefe erneut.
„Es ist ganz einfach", begann Hook und rüttelte ein wenig seinen Arm, um Margo zu verstehen zu geben, ihn freundlicherweise loszulassen. „Du-" „Wenn du mir jetzt sagst, ich muss nur fest daran glauben und ich erreiche unversehrt das Ufer, dann schwöre ich auf das Leben meines Sohnes, verpasse ich dir eine", unterbrach Margo ihn drohend und stand wacklig auf. Ihr Blick schweifte zu Insel und sie schätze die Entfernung. Das waren mindestens 500 Meter, vielleicht mehr. Ein Wettschwimmen mit einem hungrigen Todeskrokodil – das wird sicher lustig.
Ein weiteres Mal brach Tick Tock aus dem Wasser hervor und bevor Margo irgendwie reagieren konnte, wurde sie von Hook gepackt und er raunte ihr ein schnell gesprochenes: „Schwimm um dein Leben" ins Ohr.
Dann, ohne jeder Vorwarnung, stieß er Margo kräftig über die Kante und Margo stürzte hinab.
Sie fiel und für einen schockartigen Moment war sie davon überzeugt, dass Hook sie mit voller Absicht direkt in Tick Tocks Maul gestoßen hatte, um den beiden Männern die Flucht zu ermöglichen. Ich bin der Lockvogel, dachte sie überzeugt und wartete angespannt darauf, von Krokodilszähnen in Stücke gerissen zu werden.
Stattdessen glitt sie am weit geöffneten Maul vorbei und sah noch flüchtig wie Hook dem Monster von oben herab den abgespreizten Mittelfinger präsentierte.
Sobald Margos Körper mit dem eisigen Wasser in Berührung kam, standen ihre Gedanken still. Es war als hätte jemand einen geheimen Schalter umgelegt, der Raum und Zeit ausschaltete.
Doch die Polizistin konnte noch immer die Kälte fühlen, die qualvoll schmerzte, was Margo jedoch völlig ausblendete und immer weiter hinabsank. Die Abwesenheit von Sauerstoff machte sich zunehmend in ihren Lungenflügeln bemerkbar. Über sich sah sie Sonnenlicht glitzern.
Wo bin ich? Was ist passiert?
Margos Körper rebellierte und ertaubte, beginnend an den Fingerspitzen, wo sich eine zarte Eisschicht zu bilden begann. Aber wenigstens wurde dadurch die stechende Kälte erträglicher. Luftblasen stiegen vor ihr im Wasser auf.
Was ...?
Um sich herum sah Margo nur undurchdringbare Finsternis. Ihre Lunge war schon kurz davor zu kapitulieren. Sie trieb schlaff im Wasser, wie eine Marionette, dessen Fäden durchtrennt worden waren.
Weit über sich entdeckte sie Johns Brillengestell, dessen beide Gläser von spinnennetzartigen Rissen durchzogen waren.
Ob Hook und Smee es geschafft hatten?
Sie war ziemlich tief abgesunken und das Licht an der Oberfläche schien unendlich fern.
Dann sah sie auf einmal den riesigen Umriss des Krokodilkörpers über sich vorbeischwimmen und vor Schreck schluckte sie salziges Meerwasser, was ihr augenblicklich in der Kehle brannte wie hochprozentiger Whiskey.
Nun, ertrinken war vielleicht besser als gefressen zu werden. Sie dachte an Liam und wurde unendlich traurig. Verzeih mir, dachte sie voller Bedauern. Ich habe alles versucht, aber ich konnte nicht zu dir gelangen.
***
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top