2. Feenstaub

„Das ist doch albern!", behauptete Liam und funkelte seine Mutter vom Bett aus vorwurfsvoll an.

„Ich weiß, dass dir das nicht besonders gefällt", antwortete Margo, während sie konzentriert einen weiteren Eisennagel in dem alten Fensterrahmen versenkte und dem Holz dadurch ein wehleidiges Knarzen entlockte. „Aber das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Nur für ein paar Wochen."

„Ein paar Wochen?", echote Liam schockiert und seine verschiedenfarbigen Iriden, eine blau wie das Meer, die andere hellgrün wie eine junge Frühlingswiese, weiteten sich bei diesen Worten entsetzt. Die Iris-Heterochromie hatte Liam von Margo vererbt bekommen, genau wie sein rabenschwarzes Haar, nur war seines ganz glatt und ihres wild und lockig.

„Bis dieser Rattenfänger hinter Gittern sitzt", konkretisierte Margo, doch Liam schnaubte nur verächtlich: „Und wenn das nie passiert?"

„Oh, glaub mir", sagte seine Mutter und ihre Stimme bebte vor unterdrückter Wut. „Das wird es – irgendwann macht er oder sie einen Fehler und dann bin ich sofort zur Stelle."

Ein letzter Nagel noch, dann wirkte Margo einigermaßen zufrieden und legte endlich den Hammer beiseite.

„Tut mir leid", flüsterte sie bedauernd, bevor die Mutter sich neben ihren Sohn auf der Bettkante niederließ und ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte. „Ich weiß, wie sehr du es liebst, die Sterne zu beobachten und das kannst du doch auch weiterhin tun."

„Durch Glas", brummte Liam verstimmt und drehte eingeschnappt den Kopf weg. „Das ist nicht dasselbe."

„Lee, du weißt, warum ich das getan habe. Nicht, um dich zu bestrafen, sondern um alles mir Mögliche zu tun, damit dir bloß nichts passiert."

Liam antwortete nicht und behielt den Blick weiterhin abgewandt. Er verstand durchaus, warum seine Mutter sich sorgte. Aber sie kannte nun mal nicht die ganze Wahrheit. Peter Pan war kein Entführer. Er war gekommen, um Liam einen Ausweg anzubieten. Und er hatte ihn abgelehnt, für seine Mutter. Und als Dank beraubte Margo ihm seiner einzigen verliebenden Freude, seit seiner niederschmetternden Diagnose. Er wollte doch nur noch ein paar mehr Geschichten hören, sich für eine kurze Weile ein klein weniger einsam fühlen. Und jetzt hatte er gar nichts mehr, worauf er sich noch freuen konnte.

*

Die Stunden des Tages verstrichen ereignislos und glitten in den Abend hinüber, aber anstatt freudiger Erwartung, wie der Junge sie viele Nächte davor empfunden hatte, fühlte Liam heute bloß eine beißende Leere in sich heranreifen. Es war einfach nicht fair. Nichts davon war fair. Seine Krankheit, seine Mutter, alle behandelten ihn unfair und erwarteten von ihm, dass er es einfach so akzeptierte. Aber diesmal nicht.

Nach einem schweigsamen Abendessen mit Margo huschte Liam zurück in sein Bett und schaltete die Leselampe an seinem Nachttisch an.

Er las versunken, bis Big Bens Zeiger ganz langsam an die Zwölf herangerückt und die Zeit für den Aufbruch fast gekommen war.

Schwungvoll klappte der Junge das Buch zu und trat entschlossen vor das vernagelte Fenster. Er trug nichts weiter als seinen dünnen Pyjama und schmale, durchsichtige Plastikschläuche, die aus seinen Nasenhöhlen ragten und mit der Sauerstoffflasche neben seinem Bett verbunden waren, damit er nachts nicht versehentlich erstickte.

In Neverland werde ich sie nicht mehr brauchen, überlegte Liam erleichtert und zog sie sich in der nächsten Sekunde vorsichtig aus der Nase, was wie immer etwas unangenehm war und kurz brannte.

Nachdenklich ließ der Zehnjährige seinen Blick anschließend durch sein Kinderzimmer schweifen. Da er es liebte zu zeichnen, war fast jeder Winkel seiner Tapete mit selbstgemalten Bildern überklebt. Sie erzählten von Abenteuern aus fernen Ländern, die er irgendwann, wenn er alt genug gewesen wäre, bereisen hatte wollen. Doch die Realität war eine andere. Neverland war seine einzig verbliebene Chance.

Er musste gehen, um wenigstens ein einziges Abenteuer selbst zu erleben und nicht nur davon zu träumen.

Doch dann, nach kurzem Zögern, wandte Liam sich einem Regal zu und dem kleinen Kästchen aus Kirschholz, was dort zwischen vergessenem Spielzeug schlief. Darin befanden sich zwei seiner allergrößten Schätze, das goldene Medaillon mit dem eingelassenen Bild seiner Mutter und die Armbanduhr, das einzige Erinnerungsstück an seinen Vater, was ihm vor der Zeit seiner Abwesenheit geblieben war. Manchmal stellte sich Liam heimlich vor, dass sein Vater vielleicht auch nach Neverland gegangen und dort ein großer Abenteurer war. Getraut hatte er sich nie direkt nach ihm zu fragen, aber während Pan ihm seine Geschichten erzählte, achtete der Junge stets mit gespitzten Ohren darauf, ob nicht jemand, der seiner verschwommenen Erinnerung an ihm ähnelte, darin vorkam.

Und vielleicht ... wer weiß?, dachte Liam wehmütig, den Blick in die Schachtel gerichtet. Vielleicht werde ich ihm in Neverland erneut begegnen?

Beide Gegenstände holte er nun aus dem rot glänzenden Kästchen hervor; das Medaillon legte er sich sorgfältig um und ließ den Anhänger samt Kette unter seinem Kragen verschwinden. Auch die Uhr befestigte er an seinem noch viel zu schmalen Handgelenk, weshalb das massive Silber, welches das Ziffernblatt umhüllte, schwer auf seinem Handrücken ruhte.

Kaum hatte er das geschafft, hörte er Big Ben Mitternacht schlagen.

Der Zauber des Glockenhalls schwebte durch die Nacht auf ihn zu, ein langgezogener Kinderschatten, verfolgt von einem Funkenschweif.

Grinsend trat Liam ans Fensterbrett und zu seinen fliegenden Gästen. Peter Pan, der Junge, der niemals Erwachsen werden wollte, saß der Schwerkraft trotzend im Schneidersitz in der Luft und stützte sein Kinn nachdenklich auf seinem Handballen ab. Seine Lippen bewegten sich, ohne dass ein Laut zu Liam hineindrang, aber der Lichtball an seiner Seite jagte aufgeregt um Pan herum und kam schließlich dicht vorm Fensterglas zum Stillstand.

Das Licht wurde schwächer und Liam erkannte Tinker Bell, die grazile Fae, die ihn zunächst neckisch anblinzelte, dann nachdenklich die Arme in die Seite stemmte und den zugenagelten Fensterrahmen eingehender betrachtete. Margo hatte dutzende von Nägeln hineingeschlagen und kurz zweifelte der Junge, ob es vielleicht doch unmöglich war, in dieser Nacht nach Neverland zu fliehen.

„Kriegst du das hin?", flüsterte er deshalb besorgt und die Fae, dessen schokoladenbraunes Haar von unzähligen Frühlingsblüten und Herbstblättern durchzogen war, nickte selbstbewusst. Anschließend hielt sie sich ihre winzige flache Hand ganz nah vors Gesicht, atmete tief ein, sodass sich ihre Wangen aufplusterten und pustete dann eine gewaltige Ladung Feenstaub in seine Richtung. Mit geweiteten Iriden beobachtete der Junge fasziniert, wie die goldenen Partikelchen in das Fensterglas eindrangen und es ... verflüssigte. Wie fremdgesteuert drückte Liam neugierig einen Finger an die Scheibe und ohne einen festen Widerstand zu fühlen, glitt seine Fingerkuppe einfach hindurch und er konnte die Nachtluft auf der anderen Seite erspüren.

„Unglaublich", hauchte der Dunkelhaarige beeindruckt, während von seinem Finger ausgehende konzentrische Kreise das Fensterglas durchzogen, ähnlich wie wenn man einen Kieselstein in ruhiges Gewässer warf und dadurch Wellen kreierte.

Ohne jede Furcht zog er seine Hand wieder zurück, kletterte aufs Fensterbrett, welches sich unter seinen nackten Zehen eisig anfühlte und trat durch das magisch veränderte Fensterglas hinaus in die Nacht.

Ganz kurz regten sich letzte Bedenken in Liam, als ihm die ungeheure Höhe erst so richtig gewahr wurde.

Er stand am schmalen Sims, im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses und blickte in die Tiefe. Der Nachtwind zerrte bedrohlich am Stoff seines blau-weiß gestreiften Pyjamas und ihm schwindelte kurz.

„Niemals zweifeln", erinnerte ihn Pan nachdrücklich und seine blonden Locken wurden ebenfalls vom Wind erfasst und durcheinandergewirbelt. „Denk an was Schönes, Lee."

Liam nickte und schloss für einen Moment die Augen. Der Junge dachte an das letzte gemeinsame Weihnachten mit seinem Vater zurück und an die Geborgenheit, die er in seiner Gegenwart gefühlt hatte. Im nächsten Moment merkte er schon, wie sich seine Zehen vom Fensterbrett ablösten und lächelte still.

Als er die Augen wieder öffnete, konnte er fliegen.


***

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