13. In der Tiefe

Hook hatte die Schnauze sowas von voll. Seit er an Margo Darling geraten war, hatte er das fiese Gefühl, nur noch vom Pech verfolgt zu sein. Und dann war da dieser seltsame Moment auf dem Floss gewesen, kurz bevor Tick Tock sie angegriffen hatte. Genervt schüttelte er den Kopf, um die Erinnerung daran zu verscheuchen, während er am weißen Sandstrand der Meerjungfraulagune entlanglief und das Ufer nach einem angespülten Stofffetzen absuchte. Irgendwo musste dieser dämliche Mantel doch sein ... Plötzlich hörte er zarten Gesang und graste die Wasseroberfläche mit den Augen ab. Auf einem der aus dem Wasser ragenden Steine, saß die Meerjungfrau Mitena, sang und fuhr sich nebenbei verträumt mit einem knöchernen Kamm durchs lange Haar. Normalerweise wäre das ein sehr gewöhnlicher Anblick für ihn, doch die Tatsache, dass die listige Nixe Margos Mantel trug, verdüsterte sein Gemüt. Verdammt. Meerjungfrauen waren die mit Abstand schnellsten Unterwasserbewohner dieser Gegend und sie zu fangen ein Ding der Unmöglichkeit. Also musste er ... verhandeln.

Laut räusperte er sich und machte ein paar Schritte ins Wasser hinein. Kälte sickerte in seinen Körper, beginnend an den Zehen, aber den Piraten kümmerte es nicht.

Mitenas Gesang verstummte und sie warf den hineinwarteten Piraten einen argwöhnischen Blick zu. „Hook, was willst du denn hier?"

„Um ehrlich zu sein, hast du etwas, was ich brauche." Er war nun auf Brusthöhe im Wasser. „Den Mantel, den du da trägst ... der gehört einer ... Bekanntschaft von mir. Und sie braucht ihn zurück."

„Das ist Margos Mantel", entgegnete Mitena harsch. „Und sie hat ihn mir geschenkt."

„Sie hat ihn dir nicht geschenkt", wiedersprach der Pirat und musste das letzte Stück zu ihr schwimmen, was mit gefesselten Handgelenken gar nicht so einfach war und er sich dafür wie ein Aal im Wasser umherwinden musste. „Sie hat ihn nur ausgezogen, weil er ihr zum Schwimmen zu schwer geworden ist."

„Wenn das stimmt ... warum holt sie ihn dann nicht selbst? Warum schickt sie ausgerechnet dich?"

„Weil ..." Hook erreichte den Felsen, in der Sekunde als Mitena zurück ins Wasser tauchte und den Felsen zu umkreisen begann, den skeptischen Blick unverwandt auf ihn gerichtet. „Weil Margo gerade anderweitig beschäftigt ist. Sie sucht ihr seltsames Balg."

„Du meinst dieses Kind von ihr?", forschte Mitena nach und der Pirat nickte. Inzwischen hatte er seinen Körper gänzlich aus dem Wasser gehievt und saß triefend in kauernder Haltung auf dem Stein und beobachtete seinerseits die ihn umkreisende Nixe mit dem leuchtenden Feuerschweif als Flosse.

„Ich will ihn dir aber nicht zurückgeben und du kannst mich auch nicht dazu zwingen."

„Gut, dann lass uns verhandeln, was-"

Platsch.

Irgendwas fiel ins Wasser. Irritiert wanden Mitena und er die Köpfe danach um. Etwas Funkelndes sank hinab in die Tiefe. Vielleicht eine Halskette?

Als er sich wieder Mitena zuwandte, sah er das gierige Glitzern in ihren türkisen Iriden auflodern und fasste einen Entschluss.

„Wie wäre es mit folgendem Deal? Ich hole dir die Halskette vom Grund und du händigst mir dafür Margos Mantel aus?"

Überrascht blinzelte sie ihn an. „Du willst da hinabtauchen? Da hinunter, wo Tick Tocks bevorzugtes Jagdgebiet ist? Das ist komplett verrückt."

„Nicht, wenn wir klug zusammenarbeiten", grinste er siegessicher, „und du für eine kleine Ablenkung sorgst. Du-" „Guck mal, da", unterbrach die Nixe ihn und deutete mit einem ihrer bleichen Arme zum Klippenrand hinauf. „Da wird gleich noch etwas herunterfallen."

„Was?", fragte der Kapitän überrumpelt und folgte der Bewegung mit den goldenen Augen. Tatsächlich, da oben kletterte irgendwer am Felsen hinab. Ein recht kleiner Mensch, vermutlich ein Kind. Aber na ja, was kümmerte es ihn, wenn einer von Pans Verlorenen als Tick Tock Snack endete? Er hatte genug eigene Probleme. Aus den Augenwinkeln sah er den Schatten, der in dieser Sekunde emporzusteigen begann. Perfekt. Das konnte er als gewiefte Ablenkung nutzen und schnell unbemerkt die Kette Hochtauchen. Dann könnte er das Schmuckstück gegen Margos Mantel eintauschen und würde bald diese dämlichen Handschellen los sein. Endlich war das Glück mal wieder auf seiner Seite!

„Oh, ich glaube, das ist Margos Kind", bemerkte Mitenas melodische Stimme plötzlich, kurz bevor er kopfüber ins Wasser hatte springen wollen.

„Wie bitte, was? Das kann nicht sein ..."

„Doch, ich glaube schon", behauptete die Meeresbwohnerin überzeugt. „Er hat ihre Augen."

Ganz kurz flackerte Margos Bild in seinem Inneren auf, aber wie schon zuvor, verscheuchte er die Erinnerung an sie hastig wieder. Na und? Er schuldete Margo nichts mehr. Deswegen ignorierte er die Info und fragte an Mitena gewandt: „Also haben wir einen Deal? Die Kette gegen den Mantel?"

„Na schön, wenn du dich unbedingt umbringen willst", lächelte die im Wasser schwimmende Frau zu ihm auf. „Abgemacht."

Hook sprang, diesmal wirklich, kopfüber ins Wasser und tauchte tief. Aus den Augenwinkeln sah er Tick Tocks massigen Körper, der aufwärts schwamm. Glücklicherweise schien das Monstrum so auf seine baldige Beute fokussiert zu sein, dass er nichts anderes mehr wahrzunehmen schien.

Erleichtert tauchte Hook tiefer und suchte angestrengt den Meeresboden unter ihm nach einem funkelnden Gegenstand ab, was nicht einfach war, da ein dort angesiedelter, dichter Algenwald Millionen guter Verstecke bot. Er würde die Kette nie rechtzeitig finden, bevor ihm die Lust ausgehen und er auftauchen musste. Frustriert ballte er die Hände und schlug die schleierartigen Wasserpflanzen zurück, die ihm die Sicht versperrten. Wenn er wenigstens die Arme freihätte ... Wo bist du nur ...?

Die Antwort darauf, war ziemlich erstaunlich, selbst für einen Neverlandbewohner. Denn während der Pirat verzweifelt den Blick ausnahmslos auf den Meeresboden gerichtet hielt, entging ihm völlig, dass der goldene Gegenstand viel langsamer herabgesunken war, als er angenommen hatte. Das Medaillon schwebte herab und wie durch Magie geleitet, so schien es zumindest, trug die Meeresströmung es zu dem immer noch nur nach unten sehenden Piraten, bis es mit einem sanften Boing auf seinem Kopf landete, und zwar genauso, dass durch den Aufprall der Mechanismus des Deckels ausgelöst wurde und das Bildnis im Inneren freigab. Ob dies reiner Zufall war oder der geheimnisvolle Wille eines Wassergeistes, konnte niemand mit genauer Sicherheit bestimmen, vielleicht handelte es sich auch einfach um ein kleines Neverlandwunder, was zuweilen manchmal auftrat, genau dann, wenn man es am wenigsten erwartete.

Hook griff nach dem geöffneten Medaillon und blickte auf das Bildnis einer schönen, klugen, tapferen, unausstehlichen Frau. Einer Frau, dessen physische Anwesenheit ihn fast in den Wahnsinn getrieben hatte und die, sollte Tick Tock ihren Sohn fressen, vermutlich nie wieder so frei und unbeschwert lächeln würde wie auf dieser Photographie. Und diese Wahrheit schmerzte, denn eigentlich würde er Margo gerne noch viel öfter so lächeln sehen. So wie auf dem Floss, als sie zum ersten Mal Neverland erblickt hatte und ihr Lächeln ihn all die vorangegangenen Strapazen vergessen hatte lassen.

So ein Mist, dachte er geschlagen und strampelte mit den Beinen wild schlagend empor, dem leuchtenden Sonnenlicht entgegen, was selbst der fetteste Krokodilkörper nicht gänzlich zu verdecken vermochte. Das war so unglaublich dumm, er konnte gar nicht fassen, was er da tat. Margo Darling war wirklich sein Untergang.

Tick Tock lauerte dicht an der Oberfläche, das Maul leicht geöffnet und wie zu einem schaurigen Grinsen verzogen.

Der Pirat hatte überhaupt keinen Plan, was er tun sollte, sobald Liam ins Wasser herabfiel, aber wenn das Krokodil wie jetzt in seiner abwartenden Position verharrte, hatte der Junge nicht den Hauch einer Chance.

Und dann passierte das Unausweichliche und ein zierlicher Körper klatschte ins Wasser, nur haarscharf vorbei am Maul der Bestie, dessen Kopf nun herumschnallte, die spitzen, tödlichen Zähne auseinanderriss und ...

In letzter Sekunde schoss etwas Rötliches durchs Wasser, so schnell, dass Hook den Farbschimmer kaum mit den Augen zu fassen bekam, packte das panisch zappelnde Kind am Kragen und jagte mit diesem davon.

Dass der Tag einmal kommen würde, wo Mitena das zerbrechliche Leben eines Kindes rettet, dachte Hook fassungslos, doch viel Zeit blieb ihm nicht, sich darüber zu wundern. Die Meerjungfrau jagte auf ihn zu, ließ das Kind auf seiner Höhe los und schoss dann zurück, um Tick Tock weiter zu ärgern. Der Funke der Provokation war sofort übergesprungen und das Reptil begann mit der Nixe ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel. Mitena schlug immer wieder wendige Ausweichmanöver, kurz bevor Tick Tock sie zu fassen kriegte und die Bestie frustriert ins Leere biss.

Hook nutzte die Chance und schwamm mit Liam zusammen zügig an die Oberflache. Seine Lungenflügel waren ausgesprochen dankbar, als sie endlich wieder kostbaren Sauerstoff schmecken durften. Er hustete Meerwasser hervor und versuchte sich zu orientieren. Der Junge zog ebenfalls gierig die Luft ein und sah ihn aus großen, panisch geweiteten Augen an.

„Wir müssen an Land gelangen, bevor ..." Hook konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn er sah mit purem Entsetzen, wie Tick Tock eine Kehrtwende machte und den Piraten und den Jungen ins Visier nahm. Mitena versuchte noch, erneut seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu erlangen, in dem sie mehrmals in sein Sichtfeld hineinschwamm, doch die Bestie ignorierte sie und richtete seine schwarzen, seelenlosen Augen auf die menschlichen Körper über ihm.

Hook blickte zur Küste und schätzte die Entfernung ab. „Das schaffen wir nicht, los zu den Felsen dort!"

Liam gehorchte sofort und schwamm darauf zu, der Pirat blieb dicht hinter ihm und feuerte ihn an, gefälligst noch schneller zu schwimmen. Tick Tock war bereits beunruhigend nah. „Los! Los! Er ist direkt hinter uns!", schrie Hook und endlich erreichten sie den Steilhang und damit die rettende Felsspalte, auf die Hook es abgesehen hatte. Liam schlüpfte als Erstes hinein und tastete sich an der feuchten Felswand entlang. Hook war direkt hinter ihm und dann war da noch Tick Tock, der exakt in dem Moment, als der Pirat in den Felsspalt gelangte, sein Maul zuschnappen ließ und seine grotesk riesigen Zähne in den Fels hineinbohrte, so brutal fest, dass Hook schon fürchete er würde ein Stück aus Neverland herausreißen. Doch das Monsterkrokodil scheiterte und ... blieb hängen. Mit offenem Mund starrte Hook in das Maul des Ungetüms, auf Tick Tocks panisch umherzappelndes Gaumenzäpfchen.

Phantastisch, dachte Hook. Jetzt bin ich mit Margos blödem Balg in einem Felsspalt eingeklemmt, dessen Eingang von einem Krokodilkörper blockiert wird ...


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