1. Der Rattenfänger

"Märchen sind wahr, meine Liebe - und es könnte nichts Schlimmeres geben."
(James Hook)

Margo Darling atmete tief ein, bevor sie die Luft wieder frustriert aus ihrer Lunge entweichen ließ.

Ein weiteres leeres Kinderbett und wieder keine verwertbare Spur, außer das weitgeöffnete Fenster, durch das die Polizistin die nebelverhangenen Umrisse Londons erblickte.

„Das Fenster wurde von Innen geöffnet", raunte ihr Kollege Ted, der neben dem zerwühlten Bett kniete. „Also wurde der oder die Täter freiwillig hereingelassen."

„Es scheint zumindest so", murmelte Margo. Andererseits befanden sie sich im fünften Stockwerk einer Plattenbausiedlung. Wie hoch war da die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter wirklich übers Fenster hereingeklettert war? Und dann war er auf demselben Wege wieder verschwunden? Mit dem Kind? Und niemand hatte etwas gehört oder gesehen?

Der Rattenfänger hatte sich spurlos ein weiteres Opfer geholt. Aber wie konnte das sein? Es war, als würden sie einem Geist hinterherjagen.

Ihr Blick glitt über Kindermöbel und herumliegendes Spielzeug. Acht Jahre war der entführte Junge, Collin Parker. Zwei Jahre jünger als Liam. Und die Hoffnung ihn zu finden, schwand mit jeder verstreichenden Minute mehr. Margo beschlich das unangenehme Gefühl eine Sanduhr im Nacken zu haben, dessen Körnchen kontinuierlich hindurchrieselten und sie zur Eile antrieben.

„Ich denke, unser Part hier ist erstmal erledigt", riss Ted sie seufzend aus ihrem Gedankenfluss. „Lassen wir erstmal die Spurensicherung weiter ihre Arbeit machen. Vielleicht haben wir ja diesmal etwas mehr Glück."

Der Mittvierziger klang nicht so, als würde er wirklich daran glauben und Margo dachte insgeheim genauso.

Sie verließen das Kinderzimmer und traten in den zugstellten Wohnbereich. Ein ungepflegter Mann in weißem Achselshirt saß dort auf einem altmodischen Stoffsofa und zog gestresst an einem Kippenstumpf, der zwischen seinen Fingern glühte. Eine Frau mit fleckig, wasserstoffblondgefärbten Haaren saß gleich daneben und wimmerte in ein Taschentuch.

Ted räusperte sich: „Mr. und Mrs. Parker?"

„Und?", fragte der Mann und schnippte den noch glühenden Stumpf in einen bereits überquellenden Aschenbecher. „Wissen Sie nun, wo der kleine Hosenscheißer abgeblieben sein könnte?"

„So ist Collin nicht", versicherte die Frau mit hysterischer Stimme. „Er würde nicht einfach so wortlos verschwinden!"

„Genaueres können wir noch nicht sagen", begann Ted und schlug geschäftig seinen Notizblock auf. „Aber es passt genau ins Muster. Geöffnetes Fenster und das Alter passt auch. Wir müssen leider in Betracht ziehen, dass ihr Sohn möglicherweise aus seinem Kinderzimmer entführt worden ist."

Collins Mutter schlug sich schluchzend beide Hände vor den Mund und blickte sie aus großen, angstvoll geweiteten Augen an.

„Es war die richtige Entscheidung, sofort die Polizei einzuschalten. Als Nächstes würde ich sie bitten, mir einige Fragen zu beantworten. Ich weiß, dass ist schwer, aber jede kleine Information, an die sie sich erinnern können, ist wertvoll. Wann haben Sie ihren Sohn zum letzten Mal gesprochen?"

Während Ted seine Fragen stellte, lief Margo ein paar Schritte durchs Wohnzimmer. Keine Familienbilder an den mit Wasserflecken besudelten Wänden, nur unglaublich viel stinkender Abfall, der sich zwischen den Möbeln auftürmte.

Wo verdammt nochmal ist der rote Faden, fragte Margo sich stumm. Was hatten all die verschwundenen Kinder gemeinsam? Mädchen und Jungen unterschiedlicher Ethnien, zwischen acht und zwölf Jahren, aus jeder Gesellschaftsschicht Londons. Nichts machte einen Sinn. Was war das Motiv hinter all diesen Entführungen?

Glücklicherweise wurde bisher keine einzige Leiche aufgefunden. Andererseits, wenn sie alle noch am Leben waren ... wo könnten sie sich aufhalten, wo eine Horde vermisster Kind nicht weiter auffiel? Vermutlich nicht in der Stadt. Nur wo dann?

Eine Stunde später stiegen Margo und Ted in den Dienstwagen, doch der Braunhaarige machte keine Anstalten, den Motor zu starten und starrte düster geradeaus aus der Frontscheibe. Margo konnte es ihm nachfühlen, die Ermittlungen liefen so schleppend, dass sie am liebsten aus geballtem Frust laut losschreien würde.

„Was für ein krankes Monster jagen wir da bloß?", flüsterte Ted angespannt.

Margo warf ihm einen ratlosen Seitenblick zu. Ted und sie waren seit beinah vier Jahren Partner und gemeinsam auf den Straßen Londons unterwegs. Zusammen hatten sie schon viel Mist überstanden und so manchen kniffligen Fall gelöst. Der Mann mit gepflegten Dreitagebart, in den sich langsam der erste graue Hauch hineinschlich, war ihr fast genauso vertraut wie ihr eigenes morgendliches Spiegelbild.

„Ich weiß es nicht", gab sie unglücklich zu und sank mit dem Hinterkopf müde ins Sitzpolster. Alles an ihrem aktuellen Fall fühlte sich abgrundtief falsch an. Und je näher die nächste Nacht rückte, desto unruhiger wurde Margo.

*

Liams Lungenfibrose wurde vor knapp einem Jahr diagnostiziert und hatte Margos Welt dauerhaft erschüttert. Seine einzige realistische Überlebenschance war eine Spenderlunge, eine grausame Wahrheit, die sie sehr sorgfältig vor ihrem Zehnjährigen verborgen hielt. Er hatte in seinem jungen Alter schon genug durchzustehen und zumindest die Angst vor dem drohenden Tod, wollte sie Liam gern ersparen. Sie war seine Mutter und musste ihn beschützen. Eigentlich. Stattdessen saß sie seit geschlagenen vierzig Minuten in ihrem rotlackierten Fiat und konnte sich nicht dazu überwinden, auszusteigen. Angst und Verzweiflung fesselten sie an ihren Sitz fest und ließen ihr Herz in dem knöchernen Gefängnis innerhalb ihres Brustkorbs in beunruhigender Geschwindigkeit schlagen. Liam war alles, was sie hatte. Und allein die Vorstellung ihn möglicherweise bald an diese elendige Erkrankung zu verlieren, war mehr, als die Mutter verkraften konnte.

Ein penetrantes Klingeln riss Margo unsanft aus ihrer aufsteigenden Panikattacke. Zittrig tastete sie nach ihrem Handy und blickte flüchtig auf das aufleuchtende Display. Eine unbekannte Nummer strahlte ihr von dort entgegen. Stirnrunzelnd nahm sie den Anruf an: „Hallo?"

„Guten Tag", antwortete eine souveräne, freundliche Frauenstimme. „Spreche ich mit Margo Darling?"

„Ja", bestätigte sie ein wenig argwöhnisch. „Und Sie sind?"

„Mein Name ist Franny Lewis. Ich bin Nachlassverwalterin und auf der Suche nach Angehörigen von Wendy Darling."

Wendy Darling?

Das Bild einer runzligen, weißhaarigen Frau kam ihr sofort in den Sinn.

„Sie ist ... meine Urgroßtante", bestätigte Margo zögernd. „Ist sie etwa ...?"

„Tut mir leid, Ihnen das am Telefon mitteilen zu müssen, aber ihre Tante ist vor vier Nächten verstorben."

„Oh", brachte Margo nur hervor. Tatsächlich konnte sie die Male, die sie ihre Urgroßtante zu Gesicht bekommen hatte, an einer Hand abzählen. Ihr Großvater Michael hatte sie immer als seltsam und verschroben bezeichnet. Scheinbar hatte sie zudem an einer schweren Geisteskrankheit gelitten. Das Einzige, woran Margo sich noch richtig gut erinnern konnte, war das Leuchten in Wendys Augen, sobald sie anfing einer ihrer geliebten Geschichten zu erzählen.

„Mrs. Darling? Hallo? Sind Sie noch dran?"

„Äh ... ja", bestätigte Margo schnell und sank noch ein Stückchen tiefer in die Polsterung des Vordersitzes hinein. „Entschuldigung, ich habe nur nicht mit einem solchen Anruf gerechnet. War sie denn ... krank?"

„Sie war 104 Jahre alt", erwiderte Franny Lews freundlich. „Und ist friedvoll eingeschlafen. Sie hatte keine Schmerzen."

Friedvoll und ohne Schmerzen, echote Margo in ihren Gedanken. Ob Liam ein ähnlich gnädiger Tod vergönnt sein würde, falls ...

Margo verdrängte den Gedanken hastig und versuchte sich erneut auf das Gespräch zu konzentrieren. „Und ... warum genau ... wurde ich von Ihnen kontaktiert? Ich will wirklich nicht unhöflich sein, aber ich habe Wendy so gut wie überhaupt nicht gekannt."

Und sie hatte Besseres zu tun, als die Beerdigung einer entfernten Blutsverwandten zu organisieren. Der Rattenfänger und Liams Diagnose. Sie hatte genug eigene Probleme und wollte sich nicht noch mehr aufhalsen lassen.

„Ja? Dann haben Sie wohl einfach nur Glück. Ihre Urgroßtante hat Sie als Alleinerbin eingesetzt."

„Was?", entschlüpfte es Margo daraufhin ziemlich perplex. „Wieso denn das?"

„Das kann ich Ihnen leider nicht beantworten. Aber es gibt ein Testament, was ich gerne in Ihrem Beisein öffnen möchte. Was halten Sie von morgen Nachmittag?"

(2.000 Wörter-Cut)

Margo dachte nach. Strenggenommen hatte sie sich geschworen, nie wieder etwas mit der Familie Darling zu tun haben zu wollen, aber sie war auch neugierig, warum Wendy ausgerechnet sie als Erbin eingesetzt hatte.

„Na gut", willigte sie also zögernd ein und Franny Lews versprach, ihr alle nötigen Infos für das morgige Treffen, gleich nochmal ausführlich per SMS zu schicken.

Nach Beendigung des Gesprächs, überwand sich Margo endlich auszusteigen, wobei ihre Hand leicht zitterte, als sie nach dem vorhin im Baumarkt erworbenen Hammer auf dem Beifahrersitz tastete.

Alles ist gut, versuchte sie sich selbst zu überzeugen, während ihre Finger den Holzgriff umschlossen. Der Rattenfänger wird Liam nicht bekommen.

Und wenn sie jedes Fenster ihrer Wohnung zunageln musste, um genau das zu verhindern, würde sie es tun.


***

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