t w e n t y f i v e.
t w e n t y f i v e.
Wie oft kann man sich in einen Menschen verlieben?
Wir überstehen die restlichen zwei Stunden ohne dass Jemand meine Krankheit anspricht. Ich bin froh darüber, doch ich wundere mich nicht wirklich. Die meisten Leute schneiden das Thema erst gar nicht an, weil sie Angst vor meinen Antworten haben. Stattdessen bedenken sie mich alle mit mitleidigen Blicken, wobei sie überzeugt sind, dass ich diese nicht wahrnehme. Doch ich sehe das Mitleid in den Augen. Manchmal sogar die Angst davor, dass ich auf der Stelle tot umkippen könnte.
Es entzieht mir alle Kraft und so langsam bin ich es leid, sinnlose Gespräche zu führen, während die stillen Fragen jedes Mal unter der Oberfläche schwimmen.
Doch als ich versuchen will, unauffällig mit Ashton zu verschwinden, wird mir eine Hand auf den Arm gelegt und ich sehe mich Miss Collins gegenüber.
Die ältere Dame schenkt mir ein strahlendes Lächeln und zieht mich dann ohne dass ich es verhindern kann, wieder zurück in unser Wohnzimmer. Damit ist unsere Flucht also gestorben.
Ich werfe Ashton einen entschuldigenden Blick zu und er zuckt mit den Achseln.
„Ein Gespräch mehr oder weniger macht es jetzt auch nicht mehr aus", flüstert er mir ins Ohr, wobei ich seinen Atem nur zu deutlich auf meiner Haut spüren kann.
Miss Collins schließt mich in eine erdrückende Umarmung und ich bin froh, als sie mich nicht mehr an sich presst. Entweder ist sie erkältet oder sie hat keinen Geruchssinn, was auch immer davon zutrifft, sie hat auf jeden Fall Unmengen an Parfum aufgetragen, dessen Geruch einen direkt an alte Leute denken lässt.
Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen und weiche unauffällig ein kleines Stück zurück.
Dabei stoße ich gegen Ashton, der seinen Arm um meine Schultern legt und mich näher an sich zieht.
Im ersten Augenblick bin ich davon vollkommen überrascht, dann fange ich mich wieder und erzähle Miss Collins, dass es mich wirklich freut, sie zu sehen. Es ist doch immer wieder schön, wie viele Lügen ich auf den Businesspartys meiner Eltern erzählen muss.
„Aber, aber mein Kind! Keine Sorge, das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben ist doch noch gar nicht so lange her", meint sie lachend und ich zwinge mich dazu, ebenfalls zu lachen, während ich am liebsten Ashtons Hand genommen und mit ihm zusammen verschwunden wäre.
Das letzte Mal, als ich Miss Collins gesehen habe, hat sie mir ausgiebig von der Geburt ihrer Katze erzählt, Details, die ich am liebsten nie im Leben erfahren hätte.
Ich höre, wie Ashton neben mir ein Lachen unterdrückt und trete ihm unauffällig auf den Fuß.
„Wie geht es dir denn, Julie?" Miss Collins sieht mich besorgt an.
„Ganz gut. Danke der Nachfrage!", entgegne ich hastig.
Ich suche verzweifelt nach einem anderen Thema. Irgendetwas. Doch dann ist es schon zu spät.
Die alte Dame wirft Ashton einen mitleidigen Blick zu. „Und wie kommen sie als ihr Freund damit klar, junger Mann? Sie sind doch ihr Freund, oder?"
Renn weg, Jules. Renn so schnell du kannst, schreit mein Inneres mich an, doch ich kann nicht anders, als wie erstarrt neben Ashton zu stehen, der sich etwas nach vorne beugt.
„Womit soll ich klar kommen?", fragt er Miss Collins verwirrt.
Diese lässt ein weiteres, helles Lachen ertönen und ich hätte ihr am liebsten den Hals umgedreht.
Wieso muss das alles passieren? Wieso gerade heute?
„Mit der Leukämie natürlich, sie Scherzkeks! Kein Wunder, dass Julie trotz der Umstände so gut aussieht, wenn sie so viel zu lachen hat. Lachen ist ja bekanntlich die beste Medizin gegen alles. Jedenfalls pflegte meine Großmutter das immer zu sagen", tratscht Miss Collins.
Ashtons Arm, den er immer noch um mich gelegt hat, fängt an zu zittern und ich merke, wie mir die Tränen in die Augen steigen.
Wütend verdränge ich sie und schenke Miss Collins ein entschuldigendes Lächeln. „Es war nett, sie mal wieder zu treffen. Ashton und ich müssen jetzt leider los. Aber man sieht sich sicherlich", murmele ich tonlos und nehme Ashs Hand in meine.
Ohne auf eine Antwort von Miss Collins zu warten, ziehe ich ihn die Treppe hoch in mein Zimmer und lasse mich kraftlos auf mein Bett fallen, nachdem ich die Zimmertür hinter uns beiden verschlossen habe.
Ashton setzt sich wie in Trance neben mich und sieht mich geschockt an, bevor er sein Gesicht in den Händen vergräbt.
Meine Hände verkrampfen sich in meinem Kopfkissen.
Der Raum kommt mir plötzlich völlig erdrückend vor. So als wäre er viel kleiner als sonst. Es fühlt sich an, als würden die Wände langsam auf uns zukommen, schleichend, aber stetig, als wollten sie uns langsam die Luft nehmen, bevor sie uns endgültig zerquetschen würden.
Noch nie in meinem Leben habe ich mich so unwohl gefühlt. So furchtbar hilflos.
„Ich kann das erklären, Ash", flüstere ich.
„Dann fang besser schnell damit an, denn bis jetzt habe ich einen wirklich furchtbaren Gedankengang, der einfach nicht stimmen kann", entgegnet er mit zittriger Stimme. Es tut weh, ihn so zu sehen.
„Er stimmt wahrscheinlich", erwidere ich zögernd.
Ich schlucke.
Wo soll ich bitte schön anfangen, das Ganze zu erklären? Wie bringt man jemandem bei, dass man ihn belogen hat? Dass man krank ist? Dass man wahrscheinlich sterben wird?
Und wie kann man dies tun ohne ihn zu verletzen? Die Antwort darauf lautet wahrscheinlich ‚Gar Nicht'.
„Ich ... Es ist so ... Vor ein paar Monaten, da war ich beim Arzt, weil ich immer häufiger Nasenbluten bekam und mich nicht so gut fühlte. Ich fühlte mich müde und verlassen und einfach nur fertig", fange ich an zu erklären, als ich mich einigermaßen gesammelt habe.
Ashton hebt sein Gesicht aus seinen Händen und sieht mich an. Sein hoffnungsloser Blick macht das Ganze noch viel schwerer.
„Der Arzt, Doktor Brown übrigens. Erinnerst du dich? Du hast ihn vorhin kennengelernt." Ich mache eine kurze Sprechpause. „Er wollte mir keine Angst machen, aber er hat mich zur Vorsicht zu einem Spezialisten geschickt. Ich musste im Krankenhaus ein paar Test machen. Die Testauswertung dauerte etwas und mir ging es besser und ich hatte das Ganze schon so gut wie vergessen. Bis dann eines Nachmittags ein Anruf kam."
Meine Finger graben sich in mein Kopfkissen und ich zerquetsche es. Immer und immer wieder.
„Dieser Anruf – meine Mutter nahm ihn entgegen. Ich weiß bis heute nicht, ob Doktor Hemilton, das ist mein behandelnder Arzt, oder einer seiner Hilfskräfte am Telefon waren. Aber eigentlich ist es auch egal. Die Person bat uns, am nächsten Morgen ins Krankenhaus zu kommen, weil die Testergebnisse angekommen waren."
Ashton entfernt meine verkrampften Finger vorsichtig aus dem Kissen und drückt meine Hand dann fest.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt mehr hören will, Jul", flüstert er mit brüchiger Stimme.
„Soll ich aufhören?", frage ich langsam.
Er schüttelt den Kopf. „Ich will es hören. Die ganze Geschichte."
Ich nicke. „Ich weiß noch, wie meine Mutter fragte, ob man den Termin auf den nächsten Montag verschieben könne, weil sie am nächsten Tag ein wichtiges Meeting hatte. Und die Person entgegnete, dass der Termin leider nicht aufzuschieben wäre. Sie sagte, dass Doktor Hemilton die nächsten Monate vollkommen ausgebucht war und wir Glück hatten, dass er uns dazwischenschieben konnte. Ich glaube, das hat die Person nur gesagt, um uns nicht zu beunruhigen."
Ich räuspere mich und schließe kurz die Augen. „Und das war ich auch nicht. Ich war nicht im Mindesten beunruhigt. Denn mir ging es gut und ... Und die Alternative erschien mir einfach zu abwegig. Ich meine, wie wahrscheinlich war es schon?"
Nun kann ich einen Schluchzer nicht mehr unterdrücken. „Am nächsten Morgen gingen wir also zum Arzt und er sagte mir ... Ich habe Krebs, Ash. Leukämie, um genau zu sein."
Er sieht mich an und ich sehe ihn an. Braune Augen treffen auf meine blauen.
Die Stille zwischen uns beiden ist erdrückend und ich warte verzweifelt darauf, dass Ashton etwas sagt. Irgendetwas sagt. Dieses Schweigen macht mich verrückt.
„Das kann einfach nicht sein. Es kann einfach nicht sein", sind die Worte, mit denen er unser Schweigen bricht. „Das kann einfach nicht sein."
Wahrscheinlich sollten mich seine Worte nicht zu sehr überraschen, waren sie doch die gleichen, die ich selbst noch Minuten später gesagt habe, nachdem ich die Wahrheit erfahren hatte.
Und sie überraschen mich auch nicht. Zumindest nicht wirklich. Sie tun viel mehr weh. Jedes einzelne seiner Worte ist wie ein Stich ins Herz und ich könnte weinen, denn ich weiß, dass ich diejenige sein werde, die seine Illusion von der heilen Welt zerstören wird.
„Glaub mir, Ash, mir wäre nichts lieber, als wenn es eine Lüge wäre", flüstere ich und drücke seine Hand.
Er entzieht sich mir und sieht mich an. „Aber wieso hast du dann noch Haare? Müssten die nicht schon längst ausgefallen sein?"
Ich schüttele den Kopf und kann nicht anders, als kurz unter Schluchzern zu lachen. Das ist so typisch für ihn. Er hat eine vollkommen andere Sichtweise auf alles. Selbst jetzt.
„Die Haare fallen Krebspatienten wegen der Chemotherapie aus, aber die bekomme ich nicht", erkläre ich ihm mit tränenerstickter Stimme.
„Wieso nicht?"
„Weil sie bei mir nicht wirklich etwas bringen würde. Meine Heilungschance läge durch Chemo läge unter einem Prozent", murmele ich.
„Also ... also tun die Ärzte gar nichts?" Ashton laufen nun ebenfalls Tränen über die Wangen.
„Sie müssen doch etwas tun! Sie können doch nicht einfach nichts tun!", ruft er empört.
Ich nehme seine Hand in meine und drücke sie beruhigend.
„Sie suchen nach einer alternativen Heilungsmethode. Einem neuen Medikament, das noch nicht auf dem Markt ist. Etwas, dass noch in der Testphase ist und für mich in Frage kommen könnte", entgegne ich tonlos.
Dabei erwähne ich nicht, dass diese Suche ein Wettlauf gegen die Zeit ist. Je mehr Zeit vergeht, desto unwahrscheinlicher ist es auch, dass ich wieder gesund werde.
Die Tränen strömen aus meinen Augen, laufen über mein Gesicht und tropfen schließlich auf unsere ineinander verschränkten Hände.
Ashton nickt langsam, so als wäre er sich noch nicht sicher, was er von dem Ganzen halten sollte.
„Aber du kannst geheilt werden, oder?", fragt er mich mit zittriger Stimme.
Er sieht so hilflos aus, wie er mich mit diesem hoffnungsleeren, angstvollen Blick ansieht und die Schultern hängen lässt.
Es bricht mir das Herz, ihn so zu sehen.
Am liebsten hätte ich ihn jetzt geküsst. Aber das ist wahrscheinlich der denkbar unpassendste Augenblick für einen Kuss.
Also sehe ich ihn einfach an und streiche ihm beruhigend über den Arm.
„Ich hoffe es, Ash. Aber ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht", flüstere ich mit tränenerstickter Stimme.
Er zieht mich wortlos auf seinen Schoß und schließt mich in seine Arme, während er sein Gesicht an meinen Schultern vergräbt. Seine Tränen hinterlassen kalte Spuren auf meinen nackten Schultern und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sein Hemd ebenfalls ziemlich nass mache.
Ich drücke ihn an mich und obwohl wir beide schluchzend hier auf meinem Bett sitzen, fühle ich mich seltsam sicher.
„Ist das der Grund, warum du so viele Wochen nicht auf unserer Schule warst? Du warst nie auf irgendeiner anderen Schule, oder?", fragt er mich schließlich, mich immer noch in seinen Armen haltend.
Ich bin seltsam erleichtert darüber, dass wir auf unwichtigere Dinge zu sprechen kommen.
„Internat, das ist die Ausrede, die meinen Eltern allen weismachen will. Aber ja, das ist der Grund", erwidere ich ehrlich.
Wir halten uns schweigend aneinander fest.
„Warum hast du mir nichts von deiner Krankheit erzählt? Warum hast du mir nicht erzählt, dass du vielleicht sterben wirst?", fragt er plötzlich mit geröteten Augen und lässt mich los. „Ich dachte, du vertraust mir, Jul. Ich dachte, ich könnte dir vertrauen!"
Seine Stimme schwankt zwischen Wut, Verletztheit und Resignation.
„Was hätte ich denn sagen sollen, Ash? Hey, ich bin Jules. Nett dich kennenzulernen. Übrigens, ich habe Krebs?"
„Ja. Nein. Ich weiß nicht." Er schlägt mit seiner Faust auf meine Matratze. „Scheiße, ich weiß gar nichts! Ich bin völlig planlos! Und das macht mir Angst, Jul. Das alles hier macht mir Angst!"
„Mir auch, Ash. Es gibt Nächte, da liege ich völlig erstarrt da und sehe stundenlang an meine Decke, weil ich vor Angst einfach nicht einschlafen kann", flüstere ich.
„Ich will nicht, dass du stirbst, Jul", erwidert er leise.
„Ich will es auch nicht", antworte ich flüsternd.
Ashton räuspert sich und schließt kurz die Augen, bevor er verärgert erneut gegen meine Matratze schlägt. „Ich schätze noch beschissener hätte mein Tag nicht laufen können. Erst wird meine Mum gekündigt und dann finde ich raus, dass das Mädchen, in das ich verliebt bin, Krebs hat."
Ich starre ihn an. „Du ... Du bist in mich verliebt?", flüstere ich ungläubig.
Er schenkt mir ein leeres Lächeln. „Was dachtest du denn, Jul?"
Bevor ich die Gelegenheit habe, etwas zu erwidern, überhaupt etwas zu sagen, steht er auf. „Ich brauche jetzt erst einmal ein bisschen Zeit für mich alleine. Wir sehen uns dann Morgen nach der Schule?"
Er verschwindet und ich sehe ihm sprachlos hinterher, während ich mir wünsche, er wüsste, dass er einer der Gründe ist, aus denen er angefangen hat zu kämpfen.
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