t h i r t y t w o.

t h i r t y t w o.



























Und zum ersten Mal in meinem Leben kam mir der Gedanke, dass es vielleicht auch Schlimmeres gab als zu sterben. Das Leben manchmal noch schwerer war.





























Ein zögerliches Klopfen an meiner Zimmertür reißt mich aus meinen Gedanken.

„Cal, ich schwöre, wenn du es bist, dann werde ich dich umbringen! Ich habe dir heute Morgen schon tausend Mal gesagt, dass ich heute etwas vorhabe! Und nein, das heißt nicht, dass ich mit dir und Michael in einen Schwulenclub gehen werde, um es einfach mal auszuprobieren!", rufe ich genervt und drehe mich um, als jemand die Tür öffnet.

„Es ist nicht Cal. Ich bin es", meint meine Mutter und räuspert sich. „Darf ich reinkommen?"

„Sicher", erwidere ich und sehe misstrauisch zu, wie sie in mein Zimmer tritt und die Tür hinter sich schließt.

„Du hast also heute etwas vor?", fragt sie mich, nachdem wir kurz geschwiegen haben.

Ich nicke und sehe sie abwartend an. Ich rechne beinahe damit, dass sie einen Aufstand anzetteln und mich anschreien wird, aber sie tut nichts dergleichen.

„Was möchtest du?", erkundige ich mich schließlich, als sie keine Anstalten macht, irgendetwas zu sagen.

Ich kann mich an keine Situation in den letzten Monaten, wahrscheinlich nicht einmal in den letzten Jahren erinnern, in der meine Mutter freiwillig mein Zimmer betreten hat und mich daraufhin nicht mit Ratschlägen und Anweisungen überhäuft hat.

Sie ist ruhig, furchtbar ruhig. Und das macht mir Angst.

„Ich habe dich gestern Nachmittag mit diesem Jungen auf dem Spielplatz gesehen", meint sie schließlich.

Ich verdrehe die Augen. Es sollte mich wahrscheinlich nicht überraschen, dass sie über Ashton reden will. Wieder einmal. Ich frage mich sogar kurz, ob sie mir hinterher spioniert hat.

„Ashton, Mum! Sein Name ist Ashton!"

Meine Mutter ignoriert meinen Einwurf vollkommen und mustert mich stattdessen mit einem festen Blick. „Ist er dein fester Freund?"

Ich schweige kurz, nicht ganz sicher, was ich ihr sagen soll.

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht", erwidere ich schließlich und rechne geradezu mit einem Wutausbruch ihrerseits.

Doch sie tut nichts dergleichen.

„Sei einfach vorsichtig, okay? Du weißt bei Jungen wie ihm nie, woran du bist", entgegnet meine Mutter tonlos.

„Jungen wie ihm? Was soll das denn bitte heißen?", frage ich sie, wobei man die unterdrückte Wut unschwer aus meiner Stimme heraushören kann.

„Ich kannte einmal einen – Sei einfach vorsichtig, Julie. Bitte. Mehr verlange ich gar nicht", erwidert sie, räuspert sich noch einmal und verschwindet wieder aus meinem Zimmer.

Kopfschüttelnd sehe ich ihr hinterher, vollkommen verunsichert, was ich von dieser Aktion halten soll.

Doch ganz gelingt es mir nicht, abzuschalten, dafür bin ich immer noch viel zu verwirrt von dem Verhalten meiner Mutter. Ich verfluche sie dafür, dass sie nichts Besseres zu tun hat, als Ashton zu verurteilen und sich in mein Leben einzumischen.

Schließlich beschließe ich, den Vorfall einfach zu vergessen und werfe einen Blick auf meine Uhr. 11:53 Uhr.

In sieben Minuten bin ich mich Ashton auf dem Spielplatz verabredet. Also stecke ich mir mein Handy in die Hosentasche, werfe mir eine leichte Jacke über und schlüpfe in meine Schuhe, bevor ich das Haus verlasse.

Als ich am Spielplatz ankomme, ist mein Freund noch nirgends zu sehen und ich setze mich auf eine der Schaukeln.

Langsam stoße ich mich vom Boden ab und lasse mich etwas hin- und herschwingen. Dabei schließe ich die Augen.

Ohne etwas zu sehen, spüre ich nur den leichten Sommerwind in meinem Gesicht. Eine sanfte, erfrischende Brise, die mir über die Haut streicht und mir meine Haare verweht.

Hier zu sitzen, mit geschlossenen Augen und einfach nur dieses Gefühl zu genießen, erinnert mich daran, wie viel das Leben eigentlich wert ist.

Wieviel es wert ist, am Leben zu sein.

Für ein paar kurze Momente habe ich keine Schmerzen und keine Sorgen, sondern genieße einfach nur das hier und jetzt.

Ashton kommt vier Minuten später auf mich zu und küsst mich auf die Nasenspitze.

„Na?", fragt er mich lächelnd.

Ich grinse. „Na?"

„Dir geht es gut", stellt er zwinkernd fest.

Ich verdrehe die Augen darüber und gebe ihm keine Antwort, sondern ziehe ihn in eine feste Umarmung und lasse ihn mich einfach nur einen Moment lang festhalten.

„Dir geht es also nicht gut?", murmelt Ashton und presst sein Gesicht in meine Haare. Seine Stimme klingt leicht zittrig und ich streiche beruhigend über seinen Rücken.

„Mir geht es nicht schlechter als gestern", erwidere ich flüsternd. „Und gestern war kein schlimmer Tag. Er war okay. Ich schätze, ich sollte zufrieden sein mit heute."

„Okay. Wir sollten das nehmen, was wir kriegen können, nicht wahr?", erwidert er und schenkt mir ein halbes, trauriges Lächeln.

„Stimmt", entgegne ich und schiebe seine Mundwinkel nach oben, bevor ich ihm einen Kuss gebe.

„Kann es sein, dass meine Mutter deinen Vater kennt?", frage ich ihn dann.

Die Frage beschäftigt mich nicht erst seit heute und das Gespräch mit meiner Mutter hat mein Misstrauen erneut geweckt.

„Ich weiß nicht. Wie kommst du darauf?" Ashton sieht mich überrascht an, woraufhin ich mit den Schultern zucke.

„Ist nur so eine Ahnung, schätze ich", erwidere ich. „Sie hat neulich etwas gesagt, was mich auf den Gedanken gebracht hat."

„Und das wäre?", fragt er, während er eine Strähne meiner Haare in seinen Fingern dreht.

„Nicht so wichtig", murmele ich und schenke ihm ein halbes Lächeln.

„Komm schon, Jul! Sag es mir", erwidert er grinsend und drückt mir bei jedem Wort einen Kuss auf die Lippen.

„Es ist wirklich nicht so wichtig. Du kennst doch meine Mutter. Sie verbreitet andauernd Lügen über andere", antworte ich ihm und nehme meine Hand in seine.

Gemeinsam schlendern wir die Straße entlang, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben. Doch manchmal braucht man das nicht einmal. Manchmal ist der Weg selbst so viel spannender als das Ziel an sich.

Denn ein Ziel zu erreichen heißt automatisch auch, dass etwas zu Ende geht. Und momentan geht in meinem Leben mehr zu Ende, als ich es je gewollt hätte.

Mir mag es an manchen Tagen noch gut gehen, aber mein Körper gibt langsam, aber sicher nach. Ich habe keine Kraft mehr und wenn nicht bald etwas passieren wird, dann war es das.

Immer öfter erwische ich mich bei dem Gedanken, ob ich etwas vielleicht zum letzten Mal in meinem Leben tue.

Ist es das letzte Mal, dass ich einen längeren Spaziergang ohne größere Schmerzen machen kann?

Ist es der letzte richtige Regenschauer, den ich in meiner Heimatstadt erlebe?

Ist es das letzte Mal, dass ich Ashton in der Schule entgegenlaufe?

„Jul, komm schon. Sprich mit mir. Du machst mich neugierig", quengelt Ashton und schwingt unsere Arme hin- und her.

„Meine Mutter hat behauptet, dein Vater wäre ein Trinker", murmele ich und sehe den Schock in Ashtons Gesicht.

Hastig rudere ich zurück. „Vergiss es, Ash. Ich hätte es dir gar nicht erst erzählen sollen. Ich hätte wissen müssen, dass das nur wieder eine sinnlose Aussage meiner engstirnigen Mutter ist."

Ashtons Blick ist fest auf den Weg vor uns gerichtet, so als würde er sich nicht trauen, mir in die Augen zu sehen.

„Es tut mir leid, Ash. Ich hätte nie so etwas behaupten sollen", murmele ich und sehe ihn um Verzeihung bittend an.

Er schweigt lange. „Trinker ist noch zu harmlos. Alkoholiker trifft es eher", meint er schließlich mit leiser Stimme.

Ich merke, wie sich mein Herz schmerzhaft zusammen zieht. „Sehe ich ihn deshalb nie bei euch zu Hause?", hake ich vorsichtig nach.

Dieser Gedanke beschäftigt mich schon seit dem ich das erste Mal im Haus der Familie Irwin gewesen bin. Während Ashton mir stundenlang über seine Geschwister und seine Mutter erzählen kann, so entwischt ihm kaum ein Wort über seinen Vater.

„Nein." Er lacht ein bitteres Lachen. „Das ist nicht der Grund. Jedenfalls nicht wirklich."

Ich beobachte ihn mit den Augenwinkeln, während er frustriert gegen einen Laternenpfahl tritt.

„Nun, da du mein Geheimnis kennst, wäre es eigentlich nur gerecht, wenn ich auch über deines Bescheid wissen würde, oder? Ich meine du musst nicht, aber – Erzählst du mir die Geschichte über deinen Vater, Ash?"

Er atmet einmal tief durch und nickt schließlich. „Ja, warum eigentlich nicht?"

Erwartungsvoll sehe ich ihn an und erwarte, dass er anfangen wird zu erzählen, doch er schüttelt nur mit dem Kopf.

„Nicht hier, Jul. Ich würde es gerne woanders machen, wenn das okay für dich ist", murmelt er.

„Natürlich. Was auch immer du möchtest", flüstere ich und schenke ihm ein kleines Lächeln.

Ashton führt mich zur Bushaltestelle und wir warten schweigend auf den nächsten Bus.

Während wir warten, zähle ich im Kopf die Sekunden.

720 Sekunden sind es, bis das Gefährt schließlich kommt. 12 Minuten.

Das Ganze hat eine gewisse Ironie.

Gemeinsam steigen wir ein, wobei ich darauf bestehe, zu bezahlen. Ashton diskutiert kurz mit mir, gibt aber schließlich nach und ich bin dankbar dafür, denn ich weiß, dass die zwei fünf Dollar Noten, die er aus seiner Hosentasche gezogen hat, aller Wahrscheinlichkeit nach noch für die nächsten drei Essen ausreichen muss.

„Willst du am Fenster sitzen?" Fragend sieht er mich an.

Ich rutsche auf die Sitzbank und lehne meinen Kopf an die Fensterscheibe. Sydney unterliegt heute einem Regenschauer, der tausende von Regentropfen gegen das Glas platschen lässt. Mit den Augen verfolge ich die Spuren, die das Wasser auf dem Fenster hinterlässt.

„Verrätst du mir, wo wir hinfahren?", erkundige ich mich bei meinem Freund, der sich neben mich gesetzt hat.

Er legt seinen Kopf an meine Schulter.

„Ich schätze, dass ich es tun kann. Es nimmt der Geschichte nicht zu viel weg", antwortet er mir nachdenklich.

„Also keine Überraschung diesmal?", necke ich ihn.

„Nein, keine Überraschung diesmal", entgegnet er lächelnd. „Wir fahren zu den Klippen, bei denen wir vor Monaten einmal waren. Erinnerst du dich?"

„Ja, ich erinnere mich."

Ashton fängt an, mit meinen Fingern zu spielen, was mich zum Lächeln bringt.

Wir beiden sind so ziemlich die einzigen Gäste innerhalb des Busses, abgesehen von einer alten Dame, die ihren Hund auf dem Schoß hält und ihm eine Schleife ins Haar steckt.

Kopfschüttelnd sehe ich dabei zu und verdrehe die Augen.

Doch an der nächsten Haltestelle verlässt auch sie samt ihrem Tier den Bus und stellt sich dem Regen, sodass Ashton und ich die letzten verbliebenden sind.

Das Ganze hat irgendwie etwas Friedliches an sich. So als wären wir von der ganzen Welt abgeschottet.

So als gäbe es nichts Wichtigeres als uns beide an diesem verregneten Tag.

„Lust auf eine weitere Runde 20 Fragen?", unterbricht Ashton schließlich die Stille zwischen uns.

„Schläfst du mit geschlossener oder offener Zimmertür?", stelle ich ihm meine vierzehnte Frage.

„Du könntest einfach mal Nachts vorbeischauen und es selbst herausfinden", erwidert Ashton augenzwinkernd.

Sofort merke ich, wie meine Wangen einen verdächtigen Rotschimmer bekommen.

Ich räuspere mich. „Das ist keine Antwort auf meine Frage", stelle ich fest.

„Offener Tür. Sonst höre ich es nicht, wenn Harry einen Alptraum hat", antwortet mir Ashton und scheint mit dem Kopf auf einmal vollkommen woanders zu sein.

Ich drücke vorsichtig seine Hand, um wieder seine Aufmerksamkeit zu bekommen.

„Alles okay mit dir?", frage ich ihn mit sanfter Stimme.

„Ja klar", murmelt er. „Ich habe nur gerade ziemlich viel im Kopf."

„Willst du darüber reden?"

Er schenkt mir ein kleines Lächeln. „Es hat mit der Geschichte meines Vaters zu tun, die du gleich ohnehin hören willst. Seitdem du gefragt hast, denke ich einfach nur darüber nach. Aber bis wir an der Klippe sind, wäre Ablenkung ganz schön", murmelt er und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.

„Okay", meine ich und streiche ihm eine Haarsträhne aus der Stirn, bevor ich ihn abwartend ansehe und auf seine Frage 16 warte.

„Wenn du einen Dschinn treffen würdest und du dir etwas wünschen dürftest, was würdest du dir wünschen?", fragt Ashton mich.

„Ich nehme an, Gesundheit ist bei diesen Spielregeln nicht dabei?", werfe ich ein und bereue es sogleich, als ich den Schimmer an Traurigkeit in seinen Augen erkennen kann.

„Ich würde mir Geld wünschen", ergänze ich hastig, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. „Aber nicht die Millionen Dollar, die sich alle anderen wünschen würden. Ich würde mir wünschen, immer genug Geld zur Hand zu haben, wenn ich mir etwas kaufen will."

„Das ist überraschend schlau, Jul", kommentiert Ashton.

Ich stupse ihn an. „Behaupte jetzt bloß nicht, dass du das nicht von mir erwartet hättest", meine ich grinsend.

„Du bist so ziemlich das intelligenteste Mädchen, was ich kenne", erwidert er. „Das wunderschönste auch noch dazu, nebenbei gesagt."

Ich lächele mit roten Wangen und schenke ihm ein Lächeln.

„Frage 15: Welche drei Dinge willst du noch tun, bevor der Monat endet?", frage ich ihn.

„Meinen Bruder mit auf den Fußballplatz nehmen, meiner Schwester ein neues Kleid kaufen", listet Ashton auf. „Und dich küssen. So oft ich kann."

„Nun, du könntest jetzt damit anfangen", grinse ich.

Lachend beugt sich Ashton in meine Richtung und vereinigt unsere Lippen miteinander.

Ich schließe die Augen und gebe einen Moment lang vor, nur in diesem Augenblick zu leben.

Es regnet immer noch in Strömen, als wir den Bus schließlich verlassen und doch könnte das Wetter nicht mit Ashtons griesgrämigen Gesichtsausdruck mithalten, den er an den Tag legt.

Wir gehen langsam, schleichen beinahe auf den Ort zu, an dem ich vor Monaten meinen ersten Klippensprung absolviert habe.

Ich weiß nicht, ob unser langsames Tempo etwas damit zu tun hat, dass Ashton befürchtet, dass ich schneller nicht könnte oder vielmehr damit, dass er niemals ankommen will.

Was auch immer es ist, schließlich stehen wir am Rand der Klippen.

Das Wasser knallt geradezu gegen die Steine und lässt die Gischt bis zu uns hochspritzen.

Schon jetzt bin ich völlig durchnässt, während sich die Kälte schleichend einen Weg zu meinem Herzen bahnt.

Ich reibe mir die Hände und stecke sie dann in meine Hosentaschen, in dem Versuch, mich zu Wärmen.

Abwartend sehe ich Ashton an, der mit dem Rücken zu mir steht und auf das Meer unter uns starrt.

„Erinnerst du dich daran, was ich das letzte Mal gesagt habe, als wir hier waren?", fragt er mich nach einer Ewigkeit.

Erst denke ich, ich hätte es mir eingebildet, da das Meer ohrenbetäubend laut ist, doch mit Mühe vernehme ich seine Worte.

Ich trete einen Schritt näher in seine Richtung und lege ihm meinen Arm auf den Rücken.

„Du hattest Angst zu sterben und ich habe dir versichert, dass du es nicht tun wirst. Einfach weil du Leben willst. Dann habe ich dir gesagt, dass hier durchaus schon Menschen gestorben sind. Einfach, weil sie es wollten." Ashton steht still, wie ein eigener Fels in der Brandung.

Seine Worte gehen mir durch den Kopf und plötzlich weiß ich, was er mir damit sagen will.

Ich weiß es, noch bevor er seinen nächsten Satz sagt.

„Mein Vater war einer von Ihnen. Er hat sich hat sich hier umgebracht, im Frühling vor zwei Jahren", murmelt Ashton und bricht auf einmal in Tränen aus.

Ich fühle mich furchtbar hilflos und tue das einzige, was mir in dieser Situation einfällt. Ich umarme ihn so fest es geht.

„Es tut mir leid, Ash. So furchtbar Leid. Du weißt gar nicht wie sehr", flüstere ich, während ich ihn an mich drücke und versuche, ihn spüren  zu lassen, wieviel er mir bedeutet.

„Ich hasse ihn dafür, dass er uns alleine zurückgelassen hat. Dafür, dass er sich aus seiner Verantwortung gezogen und aufgegeben hat, als es schwer wurde. Dabei ist er der Grund dafür, dass wir unser Haus verloren haben."

Der Regen prasselt auf uns nieder, während ich ihn in meinen Armen halte.

„Er hat das ganze Geld für seinen beschissenen Alkohol ausgegeben. Irgendwann wurde er gefeuert und wir mussten aus unserem Haus ausziehen. Meine Mutter hat sich den Arsch abgearbeitet und er hat arbeitslos zuhause gesessen und sich ein Bier nach dem anderen reingezogen. Wenn er nicht gerade dort getrunken hat, dann ist er in einer Bar verschwunden", meint Ashton mit bitterem Tonfall.

Ich streiche ihm beruhigend über den Rücken.

„Er war ein Arschloch, Jul. Ich hasse ihn so sehr." Er schließt die Augen und sieht mich dann wieder an. „Aber ich vermisse ihn auch schrecklich."

Lautlose Tränen laufen ihm über die Wange und ich wische sie behutsam mit meinem Daumen weg.

„Du hast jedes Recht ihn zu vermissen, Ash. Trotz allem was er getan hat, er ist immer noch dein Vater gewesen", versichere ich ihm.

„Aber er war ein schlechter Mensch. Er verdient es nicht, vermisst zu werden." Die Tränen strömen geradezu aus seinen Augen und lassen sein Gesicht ganz verquollt wirken.

Und dennoch gibt es keinen Moment, in dem ich ihn je als wunderschöner gesehen habe.

Das hier vor mir ist Ashton in seiner rohsten Form. Die ehrlichste, verwundbarste Seite, die ich je von ihm sehen werde. Und ich bin ihm dankbar dafür, dass er mir genug vertraut, um diese Seite seines Lebens mit mir zu teilen.

„Kein Mensch ist grundsätzlich schlecht oder gut. Das Leben hat viel zu viele Grauzonen. Wer weiß, vielleicht verdient er es wirklich nicht, vermisst zu werden. Aber du verdienst es, ihn vermissen zu dürfen", murmele ich.

Ashton sieht mich mit Verzweiflung in seinen Augen an und ich wünschte, dass ich ihm irgendwie helfen könnte. Ich würde alles für ihn tun. Nur weiß ich nicht, ob es überhaupt etwas gibt, dass ich tun könnte.

Mir fällt einfach nichts ein.

Ich fühle mich genauso verzweifelt wie er.

„Nachdem er sich umgebracht hat, habe ich für eine Weile die schule geschmissen und Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin", erzählt Ashton mir mit geschlossenen Augen, so als könnte er es nicht über sich bringen, mir ins Gesicht zu sehen.

„Was für Dinge?", flüstere ich.

„Randaliert. meine Wut zum Ausdruck gebracht. Dinge getan, die nicht unbedingt legal sind. Solche Sachen eben", murmelt er.

Alles Dinge, die die Julie, die ich noch vor ein paar Monaten gewesen bin, verachtend verurteilt hätte. Doch ich bin nicht mehr die Julie von Damals.

Und auf gewisse Weise kann ich Ashton sogar verstehen.

Es überrascht mich immer wieder, wie sehr man sich in einer so kurzen Zeitspanne verändern kann.

„Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich die Welt gehasst hätte, aber in Wahrheit habe ich einfach gar nichts gefühlt. Gar nichts außer Kälte. Und glaub mir, Jul, es gibt nichts Schlimmeres, als Nichts zu fühlen. Es macht dich wahnsinnig." Seine Stimme ist zittrig.

„Was ist dann passiert?"

Sanft streiche ich ihm über den Rücken und versuche seine verkrampften Schultern zu lockern.

„Irgendwann habe ich gemerkt, dass es so nicht weitergehen kann. Also habe ich mir vorgenommen, das Schuljahr zu wiederholen. Ich wollte Lauren und Harry ein gutes Vorbild sein. Wobei ein Versager wie ich wahrscheinlich kein allzu gutes Vorbild ist", meint Ashton bitter.

Ich zwinge ihn dazu, mir in die Augen zu sehen.

„Du bist kein schlechtes Vorbild, Ash. Du bist einer der besten Menschen, die ich kenne. Die beiden können froh sein, dich als Bruder zu haben", versichere ich ihm mit ernsthafter Stimme und dann küsse ich ihn.

Ashtons Lippen drücken sich auf meine, als wäre mein Kuss das Einzige, was ihn vor dem Ertrinken rettet.

Minutenlang bin ich seine Rettungsleine, wie die Luft, die er zum Atmen braucht.

Ich schmecke all die Verzweiflung, all die Wut und all den Hass in seinem Kuss.

Es ist wie ein Kampf.

Und dann schließlich wird sein Kuss süßer, sanfter, so leicht wie eine warme Sommerbrise an einem heißen Sommertag.

Seine Tränen laufen über seine Wangen in unsere Münder und lassen den Kuss bittersüß schmecken.

„Ich würde ja jetzt mit dir im Regen tanzen. Aber erstens ist das viel zu klischeehaft. Und zweitens kann ich nicht einmal tanzen", flüstert Ashton schließlich, seine Lippen immer noch so nah an meinen, dass ich seine Worte beinahe schmecken kann.

Ich lache und vergrabe mein Gesicht in seinem Hemd.

Minutenlang lausche ich nur seinem Herzschlag, während die Welt um uns herum ohne uns weitergeht.

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