t h i r t y f o u r.
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Vielleicht sollte man sein Leben nicht danach messen, wie lange man gelebt hat, sondern danach, wie sehr man gelebt hat.
„Was machst du hier?"
Ich schlinge meine Arme um Ashton und sehe ihn fragend an. Er wendet sich mir zu und schenkt mir ein kleines Lächeln.
Bis vor wenigen Sekunden stand er noch starr wie eine Statue vor seiner Wohnungstür und sah aus, als wäre er eingefroren. Angespannter Gesichtsausdruck, verspannte Schultern und ein unausweichlich schlechtes Gefühl in meinem Inneren.
„Nachdenken", murmelt er.
„Und worüber?", hake ich nach und verschränke unsere Hände miteinander.
„Über die Menschheit. Das Leben." Ashton zuckt mit den Achseln.
„Und?", murmele ich. „Lässt du mich teilhaben an deinen Erkenntnissen?"
Ashton küsst meine Stirn und sieht mich dann grinsend an. „Ich kann einfach nicht verstehen, wie es Menschen geben kann, die keine Cornflakes zum Frühstück mögen. Das ist so unmenschlich."
Ich stupse ihn in die Seite, da ich genau weiß, worauf er anspielt. Genauso sehr, wie ich mir darüber bewusst bin, dass er meiner eigentlichen Frage geschickt aus dem Weg gegangen ist.
Ich entscheide, ihn nicht weiter zu drängen. Wenn er reden will, dann wird er schon reden.
„Stell dir vor, es gibt sogar Menschen, die meinen, dass es angebracht wäre, seine Freundin zu ärgern", murre ich.
Ashton schenkt mir ein strahlendes, unschuldiges Lächeln und ich küsse ihn. Sanft und zart, so wie ich mich bei ihm fühle, solange er mich in seinen Armen hält.
Er beugt sich zu mir herunter und betrachtet mich einfach nur. Ich streiche ihm eine Locke aus dem Gesicht, die sich in seine Stirn verirrt hat und fahre mit meinen Fingern über sein Gesicht.
Ashton ist leise. Er ist still. Und dennoch ist er alles, was zählt.
Es gibt Momente, in denen ich mir wünsche, ich könnte die Zeit anhalten. Dieser hier ist so einer.
„Kannst du es glauben, dass wir uns mittlerweile schon Monate lang kennen?", flüstert Ashton schließlich. Leise, so als hätte er Angst, den Augenblick zu zerstören.
Diesen Augenblick, der nur uns beiden gehört.
Stumm schüttele ich den Kopf. Die letzten Monate sind wie im Flug vergangen. Manchmal habe ich Angst davor zu blinzeln, weil es mir vorkommt, dass währenddessen die Minuten nur so an uns vorbeirauschen. Und uns kostbare Zeit stehlen.
Denn wenn wir eines nicht haben, dann ist dies Zeit. Der Krebs tickt wie ein unaufhaltsame Uhr über meinem Kopf.
„Ash?"
„Hmm?"
„Ich möchte nur, dass du weißt, dass du der Grund bist, warum ich kämpfe", flüstere ich.
Ich will nicht, dass du für mich kämpft, Jules. Ich will dass du für dich selbst kämpfst. Denn du bist so viel wichtiger als ich", erwidert er ebenso leise.
Ich lache leicht. „Nun, darüber könnten wir jetzt streiten."
„Ich habe aber keine Lust zu streiten. Viel lieber würde ich das hier tun", erwidert Ashton und legt seine Lippen auf meine.
Die Ruhe ist plötzlich beendet, als Harry die Haustür aufreißt und seinen großen Bruder vorwurfsvoll ansieht.
„Ashy! Du hast gesagt wir gehen um fünf Uhr! Es ist schon sechs Minuten nach fünf!"
Ich muss lachen und löse mich aus Ashtons Armen.
„Komm schon, Harry? Ist das dein Ernst?", murmelt mein Freund und wuschelt seinem Bruder liebevoll durch die Haare.
„Lass das, Ashy! Ich bin kein Baby mehr!", beschwert Harry sich lautstark.
Ich muss lachen.
„Er ist schon den ganzen Tag furchtbar aufgeregt und konnte es kaum abwarten, bis du endlich hier bist, damit wir endlich gehen können", erklärt Ash mir dann mit einem Grinsen.
„Wir gehen ja auch Bowlen!", meint Harry, als wäre dies Erklärung genug und hüpft dann neben uns auf und ab. „Sonst gehen wir immer nur am Tag vor Weihnachten!"
„Wirklich?", frage ich perplex.
„Familientradition", erklärt Ashton mir und legt einen Arm um mich.
„Außerdem haben wir sonst kein Geld dafür", meint Harry unbekümmert. „Gehen wir dann endlich?"
Lachend folgen Ashton und ich ihm zu Ashtons altem Auto, dass Cals Dad vor einigen Wochen wieder zum Laufen gebracht hat.
„Komm schon, Harry. Lass bitte Jul vorne sitzen", meint Ashton mahnend, als er sieht, dass sein kleiner Bruder schon den Beifahrersitz beansprucht hat.
Sofort macht Harry Anstalten wieder auszusteigen, doch ich schüttele den Kopf. „Bleib ruhig vorne sitzen. Dann bin ich nicht diejenige, die mit Ash um den Radiosender kämpfen muss."
Lachend küsst Ashton mich, bevor er die Fahrertür öffnet und ich mich auf den Rücksitz setze, wobei ich fast ein Comic platt gemacht hätte.
„Das ist meins! Hat meine Mum mir vom Flohmarkt mitgebracht", ruft Harry mir von vorne zu, während Ashton den Gang einlegt und losfährt. „Voll cool, oder?"
Ich betrachte das Buch in meinen Händen genauer. „Ist das Superman?", frage ich.
„Nein! Superman doch nicht! Das ist Batman! Der ist viel besser als Superman", erklärt Harry mir. „Als Ashton klein war, war er richtig verrückt nach Batman Comics. Wir haben tausende davon bei uns zuhause."
„Das stimmt überhaupt nicht", verteidigt sich Ash so peinlich berührt, dass ich genau weiß, dass Harry Recht hat.
Lachend wuschele ich Ashton durch die Haare, woraufhin er genauso lautstark protestiert wie sein Bruder vor einigen Minuten.
Lachend schlage ich bei Harry ein, der mir seine Hand zum High-Five hinhält.
Fünfzehn Minuten später parkt Ashton sein stotterndes Auto vor einem Gebäude, das man sicherlich schon aus mehreren Kilometern Entfernung als Bowlinghalle identifizieren könnte. Auf dem Dach des Hauses ragt ein Meterhoher Bowlingkegel in die Höhe und wechselt so oft und strahlend die Farben, dass man Kopfschmerzen bekommt, wenn man zu lange hinsieht.
Das Gebäudeinnere hätte eine Renovation dringend nötig, wie ich schon nach einigen Sekunden feststelle, allerdings ist die Halle selbst so mit Leben und Lachen erfüllt, dass mir das Ganze nicht im Geringsten etwas ausmacht.
„Es gibt noch eine bessere Halle, aber diese hier ist weitaus billiger", erklärt Ashton mir, als er meinen Blick bemerkt.
Ich schüttele lächelnd den Kopf. „Mir gefällt es hier. Diese Halle ist genau richtig", erwidere ich.
Ashton nimmt meine Hand in seine und zieht mich zu dem Schalter, vor dem sein kleiner Bruder schon ungeduldig auf uns wartet.
Wir bekommen von dem Angestellten namens Bob hinter dem Tresen drei Paar Schuhe zugeschoben, nachdem wir ihm unsere Schuhgröße genannt haben.
„Das macht dann 30 Dollar bitte", meint Bob.
Als Ashton anfängt in seinen Hosentaschen nach Geld zu kramen, schüttele ich den Kopf und schiebe einen Schein über die Theke.
„Du hast mir gesagt, dass ich Harry zum Bowlen mitnehmen darf, um meine Schulden zu begleichen. Also lass mich jetzt auch zahlen", meine ich.
Ashton nickt und einen kurzen Augenblick sehe ich etwas in seinen Augen, dass verdächtig nach Erleichterung aussieht.
Wir ziehen uns die Schuhe an, die trotz Schuh Deo verdächtig nach Schweißfüßen stinken. Kurz bin ich versucht, mich zu weigern und das Bowlen einfach ausfallen zu lassen, aber ein Blick auf Ashtons kleinen Bruder, der aufgeregt vor uns auf und ab hüpft stimmt mich um.
Ich frage mich, ob Ashton als Kind auch einmal so sorglos gewesen ist oder ob er schon immer die Sorgen seiner Familie auf seinen Schultern mittragen musste. Selbst in einem so jungen Alter.
Der Gedanke daran stimmt mich traurig. Ash musst viel zu schnell erwachsen werden und nur zu gerne hätte ich ihm das erspart.
Ich nehme Ashtons Hand in meine und gemeinsam schlendern wir hinter Harry her, der auf die Bowlingbahn zueilt.
„Darf ich anfangen?", fragt er uns freudestrahlend und greift sich eine der Bowlingkugeln, als sein großer Bruder nickt.
Ich sehe Harry dabei zu, wie er Anlauf nimmt, ausholt und mit dem ersten Wurf gleich sieben der Kegel umwirft.
„Nicht schlecht", meint Ashton grinsend und reicht seinem Bruder die nächste Kugel.
Dieses Mal trifft er die restlichen Kegel und klatscht dann mit Ash ab.
„Willst du als nächstes?" Mein Freund sieht mich fragend an.
Ich nicke etwas zögerlich.
„Okay, Jul. Dann zeig uns, was du drauf hast", meint er augenzwinkernd und stiehlt sich einen Kuss von meinem Lippen.
Ich nehme mir eine orangene Bowlingkugel und stecke meine Finger durch die Löcher. Dann überlege ich kurz, ob ich wohl Anlauf nehmen sollte, aber ich weiß schon so überhaupt nicht, was genau ich hier eigentlich gerade tue.
Also trete ich einfach vor die Bahn, hole aus und lasse den Ball los, wobei ich einfach bete, überhaupt etwas zu treffen. Der Ball schleicht eher, als das er rollen würde und fällt nach fünf Metern in die Gasse.
Ich verziehe das Gesicht und ärgere mich über mich selbst. Ich bin es nicht gewohnt, schlecht in etwas zu sein. Außerdem bin ich viel zu ehrgeizig.
Ich nehme mir noch eine Kugel, doch auch dieser Wurf landet in der Gasse.
Achselzuckend gehe ich zurück zu Harry, während Ashton sich bereit macht, seinen ersten Wurf auszuführen.
„Das wird schon noch", meint Harry aufmunternd, als ich mich neben ihn setze.
„Ich war noch nie bowlen", gebe ich peinlich berührt zu.
„Du warst noch nie bowlen? Aber was macht deine Familie denn dann an Weihnachten?", fragt Harry mich verstört.
Zum Grab meines Bruders fahren, während meine Eltern sich gegenseitig die Schuld an Alexanders Tod geben, denke ich im Stillen. Doch das ist nichts, was ich erzählen würde.
Ashton wirft einen Strike.
Stattdessen zucke ich mit den Achseln. „Weißt du, Harry, meine Familie ist echt langweilig. Wir sitzen nur zuhause und essen abends dann gemeinsam etwas."
„Du könntest bei uns einziehen. Dann könntest du Weihnachten auch Bowlen gehen", schlägt Harry mit ernsthaftem Tonfall vor.
Ich schenke ihm ein Lächeln. „Vielleicht. Mal sehen, wie dieses Weihnachten so wird."
„Du bist dran, Harry! Zeig Jul mal, wie man einen richtigen Strike wirft", fordert Ash seinen kleinen Bruder auf, der sich sogleich begeistert eine der Bowlingkugeln schnappt und dann mit konzentriertem Gesichtsausdruck auf die Bahn zuläuft.
Ashton schlingt die Arme um mich. „Alles okay mit dir?", flüstert er mir ins Ohr.
Ich nicke und er küsst meine Nasenspitze.
„Vielleicht kannst du dieses Weihnachten wirklich mit zum Bowlen mit meiner Familie kommen", schlägt er dann vor.
„Ich meine, du musst nicht direkt einziehen, wie Harry vorgeschlagen hat – wobei ich sicherlich nichts dagegen hätte", zwinkert er. „Aber mich würde es freuen, dich dabei zu haben."
„Das hört sich gut an. Ich muss mal sehen. Was meine Familie davon hält", erwidere ich. „Und wie es mir wegen du-weißt-schon-was geht."
Dieser Augenblick ist es, in dem ich wirklich verstehe, was es heißt, nicht zu wissen, wann sein Leben endet. Denn wer weiß, ob ich Weihnachten überhaupt noch atmen kann. Dieser Gedanke macht mir furchtbare Angst.
Als wüsste Ashton von meinen Gedanken, zieht er mich näher an sich und ich vergrabe mein Gesicht in seinem Pullover, bis mein Herzschlag sich wieder normalisiert hat.
Er hat eine Wirkung auf mich, die besser ist als jedes Beruhigungsmittel. Wahrscheinlich auch besser als jedes Schmerzmittel, wobei er derjenige ist, der mich wahrscheinlich am meisten leiden lassen kann.
Denn jemand, den man wirklich liebt, kann einen am meisten verletzen.
Das habe ich auf die schmerzhafteste Tour lernen müssen, als Alexander plötzlich nicht mehr am Leben war und mich zurückgelassen hat.
Harry trifft auch dieses Mal jeden Kegel bis auf den letzten und klatscht mich und Ashton daraufhin strahlend ab.
„Du bist dran, Jul", flüstert Ash in mein Ohr und schiebt mich grinsend auf die Kugeln zu.
Ich nehme mir eine, dieses Mal eine pinke, und trete wieder auf die Bahn zu, während ich mich frage, wie die Irwins das Ganze so spielend leicht aussehen lassen können.
„Jul, warte!", ruft Ashton, als ich gerade anfangen will, zu werfen.
Ich drehe mich um und sehe, wie er auf mich zukommt.
„Du hältst den Arm falsch. So kann das gar nichts werden", meint Ashton und stellt sich dann hinter mich, um mir zu zeigen, wie ich es richtig machen muss.
Seine Nähe trägt nicht gerade dazu bei, dass ich mich konzentrieren kann, aber als er seine Hand über meine legt, die die Bowlingkugel fest umklammert hält und wir gemeinsam ausholen, schaffe ich es doch tatsächlich, zumindest 3 der Kegel umzuwerfen.
Den nächsten Wurf versuche ich alleine und treffe immerhin zwei der Kegel.
„Siehst du! Schon viel besser! Du wirst noch richtig gut!", strahlt Harry mich anfeuernd an.
Ich schenke ihm ein breites Lächeln und wuschele ihm durch die Haare.
Vielleicht geht es auch gar nicht so sehr darum, das hier zu gewinnen. Vielleicht geht es einfach darum, glücklich zu sein.
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