t h i r t e e n.

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Man kann die Vergangenheit verdrängen. Sie leugnen. Aber sie holt einen immer wieder ein.










„Julie..." Meiner Mutter ist jede Farbe aus dem Gesicht gewichen und sie starrt mich an, als wüsste sie nicht mehr, ob ich überhaupt ihre Tochter wäre.

„Mum, ich meine es ernst. Ich habe genug davon, den ganzen Tag zu Hause zu sein. Wenn das so weitergeht, werde ich in Selbstmitleid versinken und irgendwann Depressionen kriegen", erkläre ich ihr.

„Du wirst nicht wieder zur Schule gehen, Julie! Herrgott! Du bist krank. Was braucht es noch alles, damit du das einsiehst?", herrscht sie mich an.

Ihre blauen Augen, die meinen so sehr ähneln, funkeln mich wütend an. So als wäre ich bloß ein stures Kind, was bei ihr um einen Keks bettelt.

„Du verstehst es nicht, Mum! Du willst es einfach nicht verstehen! Ja, ich weiß, dass ich krank bin! Und nein, ich will nicht sterben! Aber vielleicht werde ich es! Und genau deswegen will ich wieder in die Schule", schreie ich sie an.

„Ich weiß nicht, was dieser Ashton dir für Flausen in den Kopf gesetzt hat, aber am besten vergisst du sie ganz schnell wieder. Du wirst hier zuhause bleiben. Ende der Diskussion."

Ihre Worte klingen endgültig. Sie wendet sich ab, ganz davon überzeugt, dass sie gewonnen hat. Doch ich bin noch nicht fertig. Ich habe genug davon, ein Leben zu führen, über das ich selbst keine Kontrolle habe.

Also tue ich etwas, was ich mir geschworen hatte, nie im Leben zu tun. Ich schreie ihr die Worte entgegen, von denen ich weiß, dass sie sie am meisten auf der Welt verletzen werden.

„Ich bin nicht Alexander, Mum! Ich bin nicht er! Du kannst mich wegen ihm nicht einfach den ganzen Tag lang einsperren! Und ich bin nicht schuld daran, dass ich Leukämie habe! Wann siehst du das endlich ein?"

Ich stürme die Treppe hinauf in mein Zimmer und drehe mich nur einmal gerade genug um, um zu sehen, dass die Gesichtsfarbe meiner Mutter der eines Gespenstes gleicht.

Kaum in meinem eigenen Reich angekommen, knalle ich die Tür zu und werfe mich aufs Bett, wo ich in mein Kissen hineinschreie.

Meine Mutter verbietet mir so gut wie alles. Sie erlaubt mir nicht einmal, meinen besten Freund Calum öfter als zwei Wochen zu sehen. Und doch fühle ich mich mies.

Ich hätte dies nicht zu ihr sagen sollen. Sie trifft keine Schuld. Ausnahmsweise einmal nicht.

Verdammt, ich fühle mich furchtbar.

Seufzend starre ich die Decke über meinem Bett an. Wieder einmal.

Wenn man den ganzen Tag lang nichts zu tun hat, dann merkt man auf einmal, wie beschäftigt man sein ganzes Leben zuvor gewesen ist. Schule hat mir kaum Zeit für eigene Hobbies gelassen. Und nun habe ich viel zu viel Zeit totzuschlagen.

Und absolut keine Ideen, wie ich diese Zeit füllen soll. Also liege ich manchmal einfach stundenlang auf meinem Bett und starre an die Decke.

Als kleines Kind hätte ich sie am liebsten blau gestrichen und mit Leuchtsternen beklebt, aber meine Mutter hat mich entsetzt angesehen und gesagt gegeben, dass blau einfach keine Farbe für ein Mädchen sei. Dabei ist es einfach nur eine Farbe.

Mein achtjähriges Ich hatte genickt und ihr dann schnellstens erzählt, dass ich als beste in dem Mathetest abgeschnitten hatte.

Ich überlege, ob ich mit dem Bus zum Baumarkt fahren und blaue Farbe kaufen sollte, nur um meiner Mutter stummen Protest zu bieten, tue es aber aus zwei Gründen nicht. Erstens, würde meine Mutter mich zweifelsohne erwischen, sollte ich heute versuchen, mich aus dem Haus zu schleichen und zweitens hat mir ein Blick auf die Uhr gerade zu verstehen gegeben, dass jeder Baumarkt im Umkreis schon geschlossen ist.

Anscheinend halten sie es nicht für nötig um neun Uhr abends geöffnet zu haben, nur damit ein krebskrankes Mädchen einen Eimer blauer Wandfarbe kaufen kann.

Statt mich also davonzustehlen, beschließe ich, meinen besten Freund anzurufen.

Es dauert nicht lange, bis seine Stimme mich vom anderen Ende der Leitung begrüßt.

„Hey Cal", lächele ich.

„Schön, dass du auch mal wieder von dir hören lässt, Jules", meint Cal sarkastisch.

Ich lache kurz.

„Tut mir leid. Ich hatte viel zu tun", schwindele ich.

„Ach ja? Was denn? Zuhause auf dem Bett rumliegen und die Decke anstarren? Denn ich wette das hast du die letzte Stunde lang gemacht", erwidert er.

„Habe ich nicht", lüge ich und wir wissen beide, dass er mich ertappt hat.

„Ich kenne dich einfach zu gut, Jules. Lügen ist zwecklos", lacht er.

Es tut gut ihn Lachen zu hören. In letzter Zeit habe ich auch ihn viel zu selten Lachen gehört.

„Ja, wahrscheinlich." Ich ziehe eine Grimasse, auch wenn ich weiß, dass er mich nicht sehen kann.

„Also, warum rufst du an?"

„Darf ich nicht einfach mal mit meinem besten Freund reden wollen?", trieze ich ihn.

„Doch. Aber ich weiß, dass du nicht nur zum Plaudern angerufen hast. Ich kann in deiner Stimme hören, dass du geweint hast." Er zögert kurz, bevor er weiterspricht. „Du...Wie geht es dir? Rufst du an, um mir zu sagen, dass..."

Er bricht ab und ich seufze.

„Dass?"

Ich will hören, wie er den Satz beendet, auch wenn ich weiß, wie er enden wird.

„Dass- Du weißt schon, Jules", redet er um die Wahrheit herum.

Das tut er immer. Wenn er mich nicht gerade bemitleidet, weigert er sich, überhaupt über meine Krankheit zu sprechen. Manchmal frage ich mich, wie ich mit dem Ganzen umgehen würde, wenn unsere Rollen vertauscht wären. Wenn er krank wäre und ich seine gesunde beste Freundin. Würde ich mich so verhalten wie er? Oder anders?

„Dass ich sterben werde?", ergänze ich den Satz für ihn.

Schweigen am anderen Ende ist die einzige Antwort, die ich bekomme.

„Cal, ich werde nicht sterben, okay? Jedenfalls nicht in den nächsten Wochen, soweit ich weiß. Das ist nicht weswegen ich angerufen habe."

Ich verschweige ihm absichtlich, dass das Nasenbluten häufiger wird, um ihn nicht noch mehr zu beunruhigen. Ich weiß, dass er sich nur Sorgen um mich macht. Und ich liebe ihn dafür.

Doch manchmal wünsche ich mir einfach, dass er es ignorieren könnte.

„Okay. Gut. Das freut mich zu hören. Wirklich. Wirklich Wirklich. Weißt du, ich hatte wirklich Angst, dass du mir mitteilst, dass du im Krankenhaus bist. Oder auf dem Weg dahin. Oder vielleicht hast du auch einfach aufgehört zu atmen. Wobei du dann wahrscheinlich nicht mit mir reden könntest. Ich bin so ein Idiot. Oh und ich sollte wahrscheinlich aufhören zu reden." Ich kann die Erleichterung in seiner Stimme hören.

Es sind Momente wie dieser. Momente, in denen Cal redet und redet und redet, ohne nachzudenken. Momente wie dieser erinnern mich daran, wie unsere Freundschaft überhaupt begonnen hat.

„Erinnerst du dich an den Tag, an dem wir uns das erste Mal begegnet sind?", frage ich ihn lächelnd.

Ich höre ihn lachen. „Ich habe dir meine Milch über dein pinkes Prinzessinnenshirt geschüttet und habe mich entschuldigt und entschuldigt, bis du mich angeschrien hast, dass ich verdammt nochmal endlich aufhören sollte zu reden. Und dann hast du mich furchtbar erschrocken angesehen, nur weil du ‚Verdammt' gesagt hattest."

„Du hättest mich dafür nicht auslachen sollen. Ich war sieben, Cal. Mit sieben war ‚Verdammt' ein verdammt schlimmes Wort", lache ich.

„Nun, vermutlich hätte ich dich auch nicht mit Milch überschütten sollen, aber ich würde es jederzeit wieder tun, wenn ich dich dafür als beste Freundin bekommen würde", erwidert er.

„Achtung, es wird kitschig", antworte ich immer noch lachend.

„Du hast damit angefangen", entgegnet Calum.

Wir schweigen kurz in der Erinnerung, bis seine Stimme meine Gedanken unterbricht.

„Also, warum hast du angerufen?"

„Ich will wieder zur Schule und meine Mum will es mir nicht erlauben", erzähle ich ihm.

„Sie ist eine Bitch", erwidert Cal.

„Ja, wahrscheinlich", gebe ich zu. „Aber ich habe ein paar Dinge erwähnt, die ich nicht hätte sagen sollen."

„Die wären?"

„Alexander."

Mehr muss ich nicht sagen, ich weiß auch so, dass er mich verstanden hat.

„Okay, vielleicht hättest du ihn nicht erwähnen sollen", stimmt Cal mir zu.

„Ich bin furchtbar, oder?" Ich presse die Augen zusammen.

„Nein, bist du nicht Jul. Du hast ihn erwähnt und das war vielleicht nicht die beste Idee. Aber es ist auch nicht so, als könntet ihr alles totschweigen, was auch nur im Entferntesten mit ihm zu tun hat. Dadurch wird das, was passiert ist, nicht weniger wahr."

„Ich weiß. Es ist nur so, dass ich ihn kaum kannte. Klar, ich kenne die Geschichte und ich weiß, wie er aussah. Aber mehr nicht. Ich habe fast keine Erinnerungen an ihn. Ich war zu klein. Es ist nicht fair, ihn Mum gegenüber zu erwähnen", beichte ich ihm.

„Alexander war dein Bruder, Jules. Du hast jedes Recht, über ihn zu sprechen."

„Du hättest ihr Gesicht sehen sollen. Sie war so furchtbar weiß", murmele ich.

„Es ist nicht deine Schuld. Vielleicht hast du ein paar Dinge gesagt, die du besser nicht gesagt hättest, aber was passiert ist, ist passiert und lässt sich nicht ändern. Außerdem ändert das Ganze nichts daran, dass deine Eltern dich wieder zur Schule gehen lassen sollten", entgegnet Cal.

„Irgendwelche Ideen, wie ich das anstellen soll?"

„Nun, du könntest weglaufen und bei mir einziehen", schlägt mein bester Freund zu.

„Sicherlich nicht", lache ich.

„Nun, ein Versuch war es wert. Uns wird schon irgendwas einfallen."

„Okay."

„Ich muss jetzt Abendessen. Meine Mutter ruft. Steht unser Treffen nächste Woche noch?", fragt er mich.

Ich nicke, bis mir einfällt, dass er mich ja nicht sehen kann und bestätige es eilig mit einem Jahr.

„Ich hab dich lieb, CalPal."

„Ich hab dich auch lieb, JulieBenulie."

Als ich am nächsten Morgen in die Küche komme, bin ich überrascht, sowohl meinen Vater als auch meine Mutter am Esstisch sitzen zu sehen.

„Musst du heute nicht arbeiten?", frage ich meinen Dad irritiert.

Er räuspert sich kurz. Etwas, dass er oft tut, um wichtiger zu erscheinen. Oder seine Nervösität zu überspielen. Ich frage mich, was von beidem gerade der Fall ist. „Ich fahre heute später."

„Wieso?"

„Julie. Bitte setz dich hin. Wir müssen reden", meint meine Mutter.

Unsicher, wie ich mich ihr gegenüber verhalten soll, setze ich mich auf meinen Stuhl. „Es tut mir leid, Mum. Ich hätte das Gestern nicht sagen sollen."

Sie schenkt mir ein gnädiges Nicken.

„Aber du hast es so gemeint", erwidert sie.

„Ich-Nun ja, ich habe den Teil gemeint, in dem ich sagte, dass du mich nicht einsperren kannst", murmele ich beschämt und warte auf ihre Reaktion.

Was dann passiert, ist jedoch außerhalb des Bereiches, was ich für möglich gehalten hätte.

Sie schenkt mir ein Lächeln. Ein echtes, kleines Lächeln. Und sagt etwas, was ich nicht glauben würde, würde ich es gerade nicht selbst miterleben.

„Du hattest Recht, Julie. Ich kann dich hier nicht einsperren. Ich kann dich nicht vor allem beschützen. Ich konnte dich nicht vor dem Krebs beschützen."

Meine Mum schluchzt einmal heftig.

„Es ist nicht deine Schuld, dass ich krank bin!", versichere ich ihr eilig.

Sie räuspert sich und tauscht einen Blick mit meinem Dad aus, bevor sie sich einmal kurz zunicken. Manchmal frage ich mich, wieso sie überhaupt geheiratet haben, denn die meiste Zeit gehen sie miteinander um wie Geschäftspartner.

„Dein Vater und ich haben entschieden, dass du wieder zur Schule gehen darfst", meint sie.

Ich verschlucke mich an einem Schluck Wasser und brauche kurz Zeit, um mich wieder zu sammeln. „Ich darf wieder zur Schule? Wirklich? Meint ihr das Ernst?", frage ich nach, nicht ganz sicher, ob ich mich verhört habe.

„Ja, allerdings nur unter drei Bedingungen, an die du dich halten wirst", erwidert mein Vater.

Ich nicke enthusiastisch. Solange ich wieder zur Schule gehen darf, ist mir alles andere egal.

„Erstens, du wirst vorher von deinem Arzt absegnen lassen, dass du in der Lage bist, zur Schule zu gehen."

Ich nicke, denn ich weiß, dass Doktor Hemilton es erlauben wird. Er war von Anfang an dafür. Meine Eltern waren dagegen gewesen.

„Zweitens. Du wirst uns regelmäßige Updates über deinen Gesundheitszustand geben zwischen den Unterrichtsstunden. Wenn Doktor Hemilton bei irgendeinem deiner Arztbesuche meint, du wärest zu schwach, um zur Schule zu gehen, wirst du dich klaglos fügen und nie wieder mit dem Thema anfangen."

Ein erneutes Nicken meinerseits. Das klingt zwar lästig, aber durchaus machbar.

„Drittens. Du wirst diesen Jungen nicht mehr sehen."

„Ashton? Nein, das könnt ihr nicht machen!", schreie ich.

„Mein Gott, Julie. Es ist nur ein Junge! Ist er dir plötzlich Wichtiger, als die Möglichkeit, wieder zur Schule gehen zu können?" Meine Mutter sieht mich an, als wäre ich verrückt.

Ja, das ist er, will ich ihr entgegenschreien. Doch stattdessen nicke ich bloß.

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