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Manchmal muss man lernen, dass nicht immer alles so ist, wie man es vermutet. Nicht alles was augenscheinlich ist, muss auch gleich der Wahrheit entsprechen.









„Gehst du eigentlich nie zu Schule?", frage ich Ashton und gehe zu ihm herüber auf den Spielplatz.

Pünktlich um zwölf ist er auf dem Spielplatz gekommen und ich habe daraufhin das Haus verlassen.

„Doch. Immer. Jeden Tag",  erwidert er und schaukelt leicht.

Nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob das nicht völlig umständlich für ihn ist, denn seine Beine sind so lang, dass sie eigentlich jedes Mal über den Boden schrappen müssten, wenn er sie nicht ausstrecken würde.

„Und wie kommt es, dass du dann jeden Tag um zwölf Uhr hier sitzt?", entgegne ich verwundert.

Ich lasse mich auf die andere Schaukel fallen und stoße mich leicht vom Boden ab.

„Ich habe nie behauptet, dass ich auch den ganzen Tag in der Schule bleibe. Ich habe nur gesagt, dass ich hingehe." Grinsend wendet er sich mir zu und blinzelt leicht gegen die Mittagssonne an, um mich besser sehen zu können. Ich kann nicht umhin zu bemerken, dass das wirklich süß aussieht.

„Oh, wirklich? Wir haben heute wohl unseren frechen Tag", stelle ich fest.

„Scheint so", meint Ashton und schenkt mir ein Lächeln.

„Warum?" Fragend sehe ich ihn an.

„Warum was?"

„Warum sitzt du jeden Tag um zwölf Uhr hier?"

Ashton  sieht plötzlich wieder in die Ferne, wie an dem Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Seine Augen bekommen den traurigen Ausdruck, den er vorgestern gehabt hat, als ich ihn nach seinem Vater gefragt habe.

„Nur so", murmelt er.

„Ashton-"

„Nenn mich Ash, Jul. Ashton klingt so formell", entgegnet er und schenkt mir ein winziges Lächeln, dass seine Augen allerdings nicht ganz erreicht.

„Ash. Willst du darüber reden?"

„Ich wusste doch, dass ich dich nicht täuschen kann. Du bist zu gut darin, Lügen zu erkennen", entgegnet er.

Ich muss plötzlich an den Spruch denken, den ich irgendwann einmal gelesen habe. Menschen, die oft Lügen erzählen, erkennen am leichtesten, ob ihr Gegenüber lügt.

„Was ist, wollen wir los?" Ashton springt von seiner Schaukel ab und streckt mir dann fragend seine Hand entgegen.

Nickend ergreife ich sie und lasse mich von ihm hochziehen.

„Willst du deiner Mum Bescheid sagen, dass wir jetzt gehen?"

Er deutet auf das Küchenfenster, von dem aus meine Mutter uns beide beobachtet.

Ich schüttele den Kopf. „Sie weiß schon, dass wir woanders hingehen und ist einverstanden", lüge ich.

Himmel, ich muss lebensmüde sein. Meine Mutter war alles andere als einverstanden mit meiner Freundschaft zu Ashton. Sie würde mich heute Abend umbringen. Wobei, wohl nicht umbringen, dafür versucht sie viel zu sehr den Krebs alleine mit Blicken zu heilen. Aber ich würde definitiv einen Wutanfall über mich ergehen lassen.

Doch Ashton ist dies wert.


„Also, was machen wir dieses Mal?", frage ich Ashton, während wir scheinbar ohne Ziel durch die Straßen Sydneys laufen.

Einen Moment lang habe ich gedacht, dass wir wieder mit dem Bus irgendwo hinfahren würden, aber Ashton ist ohne Zögern an der Haltestelle vorbeigelaufen.

„Überraschung", erwidert Ashton grinsend und drückt einmal kurz meine Hand, die er nicht einmal losgelassen hat, seitdem er sie auf dem Spielplatz vorhin wie selbstverständlich in meine genommen hat.

„Ich hasse Überraschungen", grummele ich, obwohl  ich mir sicher bin, dass er sich darüber bewusst ist, wenn man bedenkt, dass ich es ihm vor ein paar Tagen schon einmal erzählt habe.

Es interessiert ihn nur einfach nicht.

Vielleicht ist es gerade dies, was Ashton so interessant macht. Ich kann ihn nicht durchschauen. Ich weiß so gut wie nichts über ihn. Und ich dränge danach, ihn kennenzulernen. Zu wissen, was ihn zum Lachen bringt. Zu wissen, was ihn zum weinen bringt. Zu wissen, was ihn glücklich macht. Vielleicht sogar eine der Personen zu sein, die ihn glücklich machen.

Mein ganzes Leben lang habe ich nach einem Plan gelebt, den meine Eltern für mich entworfen haben. Ashton passt nicht in diesen Plan.

Das erste Mal in meinem Leben tue ich etwas, nicht weil meine Eltern es mir vorschreiben, sondern weil ich es will.

„Nun, ich liebe Überraschungen", meint Ash triumphierend.

„Ja, dass habe ich mittlerweile gelernt."

„Komm schon, Jul. Zieh nicht so ein Gesicht. Sei fröhlich. Und wer weiß, vielleicht gebe ich dir dann sogar eine Chance, zu erraten, was wir tun werden." Ashtons Augen funkeln fröhlich, als sich unsere Blicke kreuzen.

„Okay. Wie viele Versuche habe ich, es zu erraten?", erkundige ich mich.

„Die traditionellen drei Versuche."

Ich überlege einen Moment, bevor ich meinen erste Vermutung ausspreche. „Gehen wir Bunjee Jumping?"

Lachend schüttelt Ashton den Kopf. „Warum denken immer alle direkt an Bunjee Jumping, sobald man davon redet, dass man verrückte Dinge tut?"

„Ich weiß nicht. Vielleicht weil Bunjee Jumping verrückt ist?", erwidere ich sarkastisch. „Gehen wir Sclittschuhlaufen?"

„Schlittschuhlaufen. Ernsthaft, Jul? Was soll daran bitte verrückt sein?"

Ich zucke mit den Achseln. „Ich weiß nicht. Ich habe gehört es soll Spaß machen."

„Willst du mir sagen, dass du noch nie in deinem Leben Schlittschuhlaufen warst?" Er sieht mich geschockt an.

Plötzlich ist es mir peinlich, dass ich dies überhaupt erwähnt habe. Welcher Mensch war denn bitte schön noch nie Schlittschuhlaufen in seinem Leben? „Ich bin irgendwie noch nie dazu gekommen", murmele ich. Außerdem hätten meine Eltern es mir nicht erlaubt. Einfach aus dem Grund, dass ich mir etwas hätte brechen können.

„Dann müssen wir das definitiv im Laufe der nächsten Wochen tun. Nicht weil es etwas Verrücktes ist, sondern einfach nur, weil es Spaß macht", meint Ashton.

Ich bleibe stehen und zwinge auch ihn zum Anhalten. Ein paar andere Passanten schimpfen mit uns, weil wir den Gehweg blockieren, aber das ist mir momentan egal.

„Ashton." Auf seinen Blick hin verbessere ich mich. „Ash. Du musst das nicht machen."

„Du musst was nicht machen?" Er sieht mich an und ich kann die Verwirrung in seinen Augen lesen.

„Das hier. Mich herumführen. Mir Sachen zeigen. Mich zum Schlittschuhlaufen einladen. Du musst das nicht nicht", erkläre ich ihm. Es fühlt sich einfach nicht richtig an, dass er all dies für mich tut.

„Wer sagt denn, dass ich dich zum Schlittschuhlaufen einlade? Noch hatten wir nicht geklärt, dass ich für dich zahlen werde", meint er grinsend.

„Ash", erwidere ich immer noch im ernsten Tonfall.

„Ich will das tun, okay?"

„Warum? Was hast du davon, so viel Zeit mit mir zu verbringen?", frage ich ihn und beiße mir unsicher auf die Unterlippe. Noch so eine Angewohnheit, die meine Eltern nicht ausstehen können. Ich kann das Gesicht meiner Mutter förmlich vor mir sehen: ‚Julie, lass das sein. Unsicherheit steht dir nicht. Du bist eine starke und selbstbewusste Frau.' .

Nur dass ich das nicht bin.

„Nun, irgendwer muss dir doch dabei helfen, anzufangen, dein Leben zu leben, oder?", meint Ashton in dem Versuch, mich zum Lachen zu bringen. Es reicht nicht ganz, aber meine Mundwinkel ziehen sich zu einem Lächeln hoch. „Außerdem, so schwer das auch zu glauben ist, ich mag dich, Jul. Frag mich nicht warum, aber du hast etwas an dir, was mich dazu bringt, dich zu mögen."

„Oh", murmele ich überrascht. Bis jetzt hatte ich gedacht, dass ich diejenige war, die ihn als einen Freund haben wollte und nicht umgekehrt. Ich dachte, dass er mich immer noch als nerviges Mädchen ansah, dass einfach nicht aus seinem Leben verschwinden wollte.

Ich weiß nicht, ob ich froh darüber sein soll oder nicht. Denn welches Recht habe ich dazu, mich mit ihm anzufreunden, wenn ich weiß, dass ich ihn mit aller Wahrscheinlichkeit bald alleine zurücklassen werde.

„Also, was ist deine dritte Vermutung?" Ashton nimmt meine Hand wieder in seine und geht weiter, als wären die vergangenen Sekunden nie passiert.

„Ich weiß nichts mehr. Mir fällt nichts Verrücktes mehr ein", entgegne ich.

„Denk dir was aus. Komm schon, werde kreativ." Auffordernd sieht er mich an und ich kann nicht umhin, mich von dem Funken in seinen Augen anstecken zu lassen.

„Hmm. Planen wir einen Bankraub?", erwidere ich grinsend.

„Nein. Aber das wäre etwas Verrücktes." Lachend zieht er mich in eine größere Straße und plötzlich weiß ich, wo wir sind.

Im offiziellen Slumviertel Sydneys. Dem Ort, an dem es angeblich mehr Kriminelle geben soll, als Häuser.

Ich weiß es, obwohl ich noch nie hier gewesen bin. Ein Blick auf die absplitternden Fassadenwände und die hungrigen Blicke mancher Männer, sobald sie mich sehen, bestätigen meine Vermutung.

Ein paar Kinder laufen durch die Straßen und rufen lachend, während sie fangen spielen. Ein älteres Ehepaar – jedenfalls nehme ich an, dass sie verheiratet sind, denn wäre ich anstelle der Frau, wäre ich schon längst gegangen – schreit sich an.

Ein zerzauster Hund schleicht um die Eingangstür eines Hauses herum, die aussieht, als würde sie gleich aus den Angeln fallen. Auch der Hund hat sicherlich schon seine besseren Tage hinter sich.

Mein Blick streift den eines verwahrlosten Mannes in den Vierzigern, der seine Augen auf mich gerichtet hat.

Hastig senke ich meinen Kopf, drücke mich unmerklich näher an Ashtons Seite und versuche, niemanden direkt anzusehen.

Würden meine Eltern mich hier sehen, sie würden einen Herzinfarkt bekommen. Oder wahrscheinlich so tun, als wäre ich nicht mit ihnen verwandt.

Vielleicht würden sie mich auch erst gar nicht erkennen, weil sie immer noch nicht verstanden haben, dass ich ein eigenes Leben besitze. Dass ich nur ein Leben habe und vorhabe, dass Beste daraus zu machen.

Auch wenn dies heißt, nicht mehr ihre Vorzeigetochter zu sein.

„Jul?" Ashtons Hand wedelt vor meinem Gesicht herum.

„Was?", antworte ich etwas irritiert.

„Ich habe dich gerade gefragt, ob wir 20 Fragen weiterspielen?"

„Wo dass das letzte Mal so gut geklappt hat? Ich glaube, wir haben letztes mal insgesamt drei Fragen hinbekommen", necke ich ihn.

„Wir beiden spielen das Spiel halt in mehreren Etappen", grinst er.

„Okay. Du warst dran", meine ich zustimmend.

„Wie alt warst du, als du gelernt hast, Fahrrad zu fahren?", fragt er mich.

Vermutlich sollte ich mich über diese Frage wundern, denn wer will schon solche Dinge wissen. Aber es ist Ashton, der diese Frage gestellt hat. Mich hätte es mehr gewundert, wenn es eine normale Frage gewesen wäre.

„Ich glaube, ich war sechs oder sieben. So genau weiß ich es nicht", antworte ich ehrlich. „Hast du einen zweiten Namen?"

„Ugh, ich hasse dich für diese Frage."

„Komm schon. Du musst antworten. Dass sind die Regeln", fordere ich ihn grinsend auf.

„Fletcher."

„Wirklich?"

„Ja." Er verzieht das Gesicht und streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht, die in fünf Sekunden wieder zurückfallen wird.

Ich muss über seinen Gesichtsausdruck lachen. Er benimmt sich, als wäre das ein Weltuntergang.

„Es gibt schlimmere", meine ich achselzuckend.

„Ach ja? Hast du einen?"

„Ist das deine dritte Frage?", frage ich ihn.

„Würdest du mir sonst nicht antworten?"

„Nein", grinse ich.

„Uh, freches Mädchen", lacht Ashton. „Also gut. Das ist meine nächste Frage. Auch wenn ich sie eigentlich für eine viel zu gewöhnliche Frage verschwende."

„Ja, ich habe einen", antworte ich ihm ehrlich.

„Und der wäre?"

„Ist das deine vierte Frage?" Neckend sehe ich ihm an.

„Jul, du bist gemein", grummelt Ashton. „Aber ja. Das ist Frage 4."

„Mein zweiter Name ist Anne."

„Julie Anne. Gefällt mir."

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