n i n e.
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Ashton war anders. So anders als jeder Junge, den ich in meinem Leben getroffen hatte. Und das war es, was ihn so besonders machte.
Ashton hat wieder einmal diesen Blick, in dem er nur körperlich anwesend ist und einfach in den Himmel starrt.
„Hey." Als ich auf ihn zugehe, steht er nicht auf, aber immerhin hebt er den Blick, um mich anzusehen und geht nicht weg.
Ich beschließe, dass ich das als gutes Zeichen deute und setze mich auf die Schaukel neben ihm.
„Irgendwie scheint das zu einer Art Ritual von uns zu werden", meine ich und stoße mich leicht von Boden ab.
Ashton antwortet nicht. Er tut nichts, um mir zu verstehen zu geben, dass er mich überhaupt gehört hat. Aber ich weiß, dass er mich gehört hat und ich werde nicht lockerlassen.
An diesem Punkt waren wir vor ein paar Monaten schon einmal. Damals habe ich es geschafft, ihn zum Reden zu bringen.
Und ich habe vor, heute genau das Gleiche zu erreichen.
„Du weißt schon. Das ich fast jeden Tag neben dir hier sitze. Ich meine, ich weiß, dass du sowieso jeden Tag hier bist, aber irgendwie hast du mich jetzt mit darein gezogen", kommentiere ich.
Immer noch keine Antwort.
Ich seufze, denn anscheinend wird er auf die sanfte Tour nicht mit mir reden. Also nehme ich mir vor, ihn direkt zu konfrontieren und erhebe mich von der Schaukel, nur um einen Moment später direkt vor ihm zu stehen.
Ich verdecke die Sonne mit meinem Rücken, aber selbst der Schatten, der nun auf ihm liegt und seine Augen dunkler erscheinen lässt, kann nicht verhindern, dass ich kurz etwas in ihnen aufflackern sehe. Es dauert nur einen Moment lang, bis er sich wieder voll unter Kontrolle hat. Fast so kurz, dass man es sich auch einbilden könnte. Aber ich bin mir sicher, dass ich es mir nicht eingebildet habe.
Ich kann nicht genau einschätzen, worum genau es sich gehandelt hat. Ich hoffe nur, dass es nicht Hass war.
„Ich kann es verstehen, wenn du mich hasst. Wirklich. Du hast allen Grund dazu. Nur bitte sag es mir einfach, sodass ich gehen und mein Leben weiterleben kann", verlange ich. „Also, hasst du mich?"
Ich hoffe, dass er nicht auf meinen Bluff hereinfällt. Als könnte ich einfach gehen und ihn vergessen. Dafür ist es schon zu spät.
Aber vielleicht kriege ich ihn so weit, wenigstens etwas zu sagen.
„Nein."
„Wow. Ich hätte gedacht, wir sind über die Zeit, in der du mir nichts weiter als einsilbige Antworten gibst, hinweg", erwidere ich.
Ein kurzes Zucken umspielt seinen Mundwinkel. „Ich hasse dich nicht, Jul. Und es ist auch nicht deine Schuld. Du musst dich für nichts schuldig fühlen."
„Meine Mutter hat dich ohne jeglichen Grund angeschrien. Ich denke schon, dass ich mich schuldig fühlen darf", entgegne ich.
„Wie du schon sagtest, es war deine Mutter, die Dinge über mich gesagt hat. Nicht du", meint Ashton.
„Du bist mir also nicht böse?", versichere ich mich noch einmal.
„Nein."
Ashton steht auf, sodass er mich nun um mindestens einen Kopf überragt. Was nicht daran liegt, dass ich sonderlich klein wäre, sondern eher an seiner Größe.
„Du solltest aber dennoch lieber gehen und dich von mir fernhalten", murmelt er und streicht mir eine Haarsträhne aus den Augen, bevor er seine Hand schnell fallen lässt, als hätte er sich verbrannt.
„Warum?", frage ich und hoffe, dass meine Stimme nicht zittert.
„Ich bin nicht gut für dich", antwortet er.
Ich lache, denn diese Aussage ist so furchtbar absurd. Wenn einer nicht gut für jemanden ist, dann bin ich das. Ich, das krebskranke Mädchen, das sich eigentlich von allen fernhalten sollte, um nicht noch mehr Menschen mit in den Abgrund zu reißen, falls sie sterben sollte.
Ich sollte mich von ihm fernhalten und ihm das Leid ersparen, nur leider kann ich das nicht.
Ashton umfasst meine sanft meine Handgelenke und sieht mich an. „Jules, ich meine das Ernst. Ich bin nicht gut für dich. Ich werde dich nur verletzen. Oder enttäuschen. Wahrscheinlich beides."
„Glaubst du das wirklich?", frage ich ihn.
„Ist das deine sechste Frage?", entgegnet er und versucht sich an einem lockeren Grinsen, das furchtbar misslingt.
„Ich meine das Ernst, Ash. Glaubst du das Wirklich?"
Er nickt und ich kann in seinen Augen sehen, dass er wirklich davon überzeugt ist.
„Das ist Schwachsinn, Ash! Bitte sag mir nicht, dass du irgendwas von dem geglaubt hast, was meine Mutter gestern von sich gegeben hat."
Dieses Mal bin ich es, die ihn eindringlich ansieht. Seine Augen, vor ein paar Augenblicken noch so unbewegt, verströmen plötzlich eine tiefe Trauer und Bedauern.
Ashton weicht meinem Blick aus. „Ich bin nicht gut. Ich verletze Leute ohne es zu wollen. Ich enttäusche so gut wie jeden. Egal, wie oft ich auch versuche, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Ich bin einfach nicht gut genug. Ich will dir das nicht antun, Jul."
Statt einer Antwort, schlinge ich meine Arme um ihn, ziehe ihn näher an mich und drücke ihn fest, während ich ihm über den Rücken streiche. Zuerst wehrt er sich, aber dann lässt er sich in eine Umarmung fallen.
Ich bin nicht gut darin, Leute zu umarmen. Ich weiß nicht einmal wieso, aber es gibt nicht viele Leute, mit denen ich je Umarmungen geteilt habe. Aber anscheinend scheine ich nicht allzu viel Falsch zu machen, denn ich merke, wie sich Ashton kaum merklich entspannt und sein Gesicht an meiner Schulter vergräbt.
„Wie kommt es, dass du so denkst?", frage ich mich, nachdem wir uns wieder voneinander gelöst haben.
„Können wir bitte nicht mehr darüber reden?"
Wenn ich mich nicht irre, dann blinzelt er gerade ein paar Tränen weg. Der Anblick bricht mir das Herz und ich muss mich wirklich davon abhalten, ihn direkt wieder zu umarmen.
„Klar. Tut mir leid. Ich wollte dich zu nichts drängen oder so. Ich weiß, dass es mich eigentlich nichts angeht. Ich kann schon verstehen, warum du es mir nicht erzählen willst", erwidere ich und meine es auch so. Es gibt keinen Grund warum er mir irgendwas erzählen muss.
„Ich kann nicht darüber reden. Es liegt nicht daran, dass ich es dir nicht erzählen will", meint er. „Vielleicht irgendwann anders einmal."
„Okay, klar. Irgendwann anders klingt gut", entgegne ich hastig und beiße mir auf die Unterlippe, unsicher, was ich noch sagen könnte.
„Also, ich nehme an, dass der Tag von jetzt an nur noch besser werden kann?", meine ich schließlich in einem Versuch das Schweigen zu brechen und entlocke ihm ein trockenes Lachen.
„Also, was machen wir?", frage ich und füge hinzu: „Natürlich vorausgesetzt, dass du überhaupt etwas mit mir machen willst."
„Ich weiß, du hasst Überraschungen. Aber lass dich einfach überraschen, okay?", schlägt er vor und ich nicke zustimmend.
Ashton nimmt meine Hand in seine, so wie er es immer macht, wenn wir zu einer unserer Unternehmungen aufbrechen. „Also gut, dann lass uns gehen. Aber sag hinterher nicht, dass ich dich nicht vor mir gewarnt hätte."
-
„Ashton?", quengele ich und hüpfe kurze Zeit neben ihm auf und ab. Ich halte nicht lange durch. Schon nach diesen wenigen Minuten bin ich kurzatmig und ich verfluche mich dafür. Früher konnte ich eine halbe Stunde joggen, ohne großartig außer Atem zu sein. Und heute nach dem Krebs, halte ich noch nicht einmal wenige Minuten durch.
Manchmal kommt es mir so vor, als müsste man mein Leben in „Vor dem Krebs" und „Danach" einteilen.
Doch würde ich dies tun, dann wäre ich viel zu deprimiert, denn während „Vor dem Krebs" immerhin einige positive Aspekte auf der Liste stehen würden, so gäbe es auf der „Danach" Liste nur Negatives.
Okay, bis auf Ashton.
Ashton käme garantiert in die positive Spalte.
„Ash. Ich will nicht mehr Laufen", beschwere ich mich und ziehe jedes Wort in die Länge, sodass ich wahrscheinlich wie eine Vierjährige klinge.
Ashton lacht leise und ist eindeutig wieder guter Laune.
Ich bin überrascht darüber, wie schnell er seinen Zusammenbruch abgehackt hat. Aber vor allem bin ich froh. Denn es tat mir in der Seele weh, Ashton am Rande der Tränen zu sehen.
„Soll ich dich tragen?", bietet er an und geht in die Knie, sodass er mich Huckepack tragen kann.
„Danke", grinse ich und lege meine Arme um seinen Hals. „Wohin gehen wir eigentlich?"
„Das ist das erste Mal, dass du mich das nicht schon zehnmal gefragt hast. Ehrlich gesagt hätte ich erwartet, dass du diese Frage schon nach den ersten zwanzig Sekunden auf mich loslässt. Bist du etwa in den letzten 24 Stunden ein geduldiger Mensch geworden?", erwidert er. Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen kann, weiß ich, dass er amüsiert grinst.
„Nein. Aber du hättest es mir doch sowieso nicht verraten. Deswegen habe ich mir die Mühe erspart", argumentiere ich.
„Und wie kommst du dann darauf, dass ich es dir jetzt verraten würde?"
„Ich hatte gehofft, dich in einem guten Moment zu erwischen", erwidere ich.
Ashton lacht erneut, gibt aber keine Antwort.
„Es ist also kein guter Moment gewesen?", erkundige ich mich grinsend.
„Nein. Frag nächstes Mal lieber, wenn ich grade nicht dabei bin, dich durch Sydney tragen zu müssen", lacht er.
Seufzend gebe ich auf. „Sagst du mir wenigstens, wie weit es noch ist?"
„Nicht mehr weit. Ehrlich gesagt, sind wir da", meint Ashton und lässt mich grinsend wieder runter.
„Ist das dein Ernst?" Du hast mich ganze zwanzig Meter weit getragen. Überanstrenge dich bloß nicht", meine ich sarkastisch.
„Es waren sogar ganze zweiundzwanzig Meter", erwidert er und sieht ziemlich zufrieden mit sich aus.
Lachend sehe ich mich um, werde aber nicht schlau aus unserer Umgebung. Wir befinden uns in einer Straße, in der sich vor allem Einfamilienhäuser befinden.
Man merkt, dass wir nicht wirklich weit gelaufen sind, denn diese Gegend ähnelt der, in der das Haus meiner Eltern steht, sehr. Wir befinden uns immer noch im Viertel der reicheren Leute.
Ich schüttele verständnislos den Kopf und sehe Ashton fragend an. „Was machen wir hier?"
Statt einer Antwort lässt er sich auf den Boden fallen und klopft einladend neben sich. „Setz dich, Jul."
„Wieso?"
„Vertraust du mir?" Seine Augen, die an dem einen Tag grün zu sein scheinen und an dem nächsten schon wieder braun, sehen unter seinen dichten, langen Wimpern zu mir hoch. Ein fragender, fast zögerlicher Ausdruck steht in ihnen. Fast so, als hätte er Angst vor dieser Antwort.
Und ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob welche Antwort er genau befürchtet, von mir zu bekommen.
„Ja", antworte ich schließlich. „Ich vertraue dir."
„Dann setz dich zu mir. Bitte."
Zögernd komme ich seiner Aufforderung nach. Jeden anderen hätte ich wahrscheinlich angesehen, als wäre er gerade verrückt geworden, aber bei Ash habe ich irgendwie das Gefühl, als wüsste er, was er tut.
Also sitze ich nun an einem beliebigen Nachmittag auf einer beliebigen Straße Sydneys neben einem Jungen, der alles andere als beliebig ist.
„Was tun wir, wenn Fußgänger kommen?"
„Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass zu dieser Zeit überhaupt jemand auf der Straße ist", erwidert er.
„Nur wir beide", erwidere ich grinsend.
„Nur wir beide", meint Ashton bestätigend und ich sehe seine Mundwinkel zucken.
„Falls Fußgänger kommen, sollen sie halt um uns herumgehen", meint er und zuckt achtlos mit den Schultern. Für ein paar Sekunden ist er wieder der Ashton, den ich kennengelernt habe. Rücksichtslos, gelangweilt, arrogant.
Doch während ich vorher dachte, dass dies Alles ist, was in ihm steckt, habe ich mittlerweile gelernt, dass er so viel mehr ist als das. Er ist so viel mehr als das Bild, dass ich nach unserer ersten Begegnung mit ihm hatte.
Ich komme Ashtons Beispiel nach, der sich mit dem Rücken gegen die Häuserwand gelehnt hat. Seine Augen sind geschlossen und er hat sein Gesicht der Sonne hinzugewandt. Seine dunkelblonden Haare wirken im Sonnenschein fast golden.
„Jul? Ich merke, dass du mich anstarrst", murmelt er.
Augenblicklich legt sich eine leichte Röte auf meine Wangen und ich bin mir nur zu sehr darüber bewusst, dass sich sein Arm scheinbar zufällig direkt neben meinem befindet.
Ich müsste nur meine Finger Millimeterweit ausstrecken, um unsere Hände miteinander verschränken zu können. Natürlich tue ich es nicht. Aber alleine der Gedanke macht mir Angst.
„Ich starre dich nicht an", entgegne ich und weiß nicht, wen von euch beiden ich gerade zu überzeugen versuche.
Ashton gluckst leise und dreht sein Gesicht dann in seine Richtung. „Komm schon, Jul. Schließ die Augen und sie nach oben."
Schweigend komme ich seiner Aufforderung nach.
„Spürst du die Sonne auf deiner Haut? Diese leichte Umarmung, diese angenehme Wärme? Sie wirkt fast tröstend, oder?" Ashton bricht kurz ab. „Immer wenn mir alles zu viel wird, dann setze ich mich hin. Einfach um die Sonne auf meinem Gesicht zu fühlen. Um überhaupt etwas zu fühlen."
Seine Stimme klingt nachdenklich, fast melancholisch.
Ashton tut das, wofür ich vorhin zu feige war. Er verschränkt unsere Hände miteinander.
Ich genieße die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, merke, dass er Recht hat. Er wollte mir helfen, mein Leben zu leben. Und das Ganze hier ist auf ganz absurde Art und Weise ein Teil davon.
Solange ich die Sonne spüren kann, solange ich überhaupt etwas spüren kann, bin ich am Leben. Solange ich noch die Chance habe, etwas zu genießen, werde ich es tun.
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