f o u r t e e n.
f o u r t e e n.
Ich denke, nun habe ich ihn endgültig verloren. Wenn man denn jemanden verlieren kann, der einem niemals wirklich gehört hat.
Um Punkt 12 Uhr betritt Ashton den Spielplatz.
Er setzt sich auf die Schaukel, wie immer. Er sieht in den Himmel, wie immer. Doch nach vier Minuten steht er auf und geht wieder, nicht wie immer.
Um sechs nach zwölf klingelt es an unserer Haustür.
Ich mache mir nicht die Mühe, aufzustehen und meinen Platz am Fenster zu verlassen, doch anscheinend hat meine Mutter andere Pläne für mich. Was mich nicht überraschen sollte, denn die hat sie immer.
„Julie! Es ist der Junge! Mach auf!", ruft sie zu mir hoch.
Ich schnaube kurz, denn bis gestern hätte sie alles dafür gegeben, dass ich die Tür nicht geöffnet hätte. Doch anscheinend hat der gestrige Abend alles verändert.
Langsamen Schrittes gehe ich die Treppe herunter, um das, was jetzt unweigerlich kommen wird, hinauszuzögern. Ich will Ashton nicht verletzen. Nichts liegt mir ferner. Doch mir bleibt keine andere Wahl. Jedenfalls nicht, wenn ich wieder in die Schule gehen will. Und das will ich.
Wahrscheinlich ist es ohnehin das Beste für ihn. Dann ist er nicht mehr mit dem krebskranken Anhängsel unterwegs, dass sich entgegen alle Vernunft in ihn verliebt hat.
Meine Mutter steht wartend in der Küchentür und sendet mir einen bestimmenden Blick, um mich noch einmal daran zu erinnern, was ich zu tun habe.
Ich nicke ihr widerwillig zu und öffne dann die Haustür, wobei ich mir vollkommen bewusst bin, dass meine Mutter von ihrer Position alles genau im Blick hat und zudem in Hörweite ist.
Einen Moment lang wünsche ich mir, dass sie einfach verschwinden würde, aber das würde auch nichts ändern.
„Hey Ashton", meine ich und versuche mich an einem Lächeln.
„Hey! Ich war auf dem Spielplatz, aber du bist gekommen und da dachte ich, ich klingele einfach mal", erklärt er mir.
„Ja, ähm, ich war beschäftigt", meine ich ausweichend.
Meine Mutter räuspert sich und ich weiß, dass sie mit meiner Ausrede ganz und gar nicht zufrieden ist. Himmel, erwartet sie etwa von mir, dass ich ihm ins Gesicht sage, dass ich ihn angeblich hassen würde?
„Bist du immer noch beschäftigt oder hast du Zeit etwas mit mir zu unternehmen?"
„Nein, ich bin nicht mehr beschäftigt", murmele ich.
Seine Augen funkeln mich an und ich hasse mich für das, was ich jetzt tun muss.
„Ich will aber auch nichts mit dir unternehmen."
„Oh, na gut. Dann komme ich einfach morgen wieder?", fragt er mich.
Ich wünschte, ich hätte das Flackern von Schmerz in seinen Augen nicht gesehen.
„Nein, Ashton. Es ist vermutlich besser, wenn du morgen nicht wieder kommst. Es ist am besten, wenn du gar nicht mehr wiederkommst", erkläre ich ihm und frage mich, ob meine Worte sein Innerstes ebenso sehr zum Schmerzen bringen wie meines.
„Oh okay. Schon verstanden. Du willst mich nicht mehr sehen. Kein Problem, ich hatte fast damit gerechnet. Ich bin es sowieso nicht wert", flüstert er.
Sein Gesicht wird von Traurigkeit überschattet und ich wünsche mir so sehr, dass ich einfach einen Schritt auf ihn zu gehen und ihn in meine Arme schließen könnte, während ich ihm immer und immer wieder ins Ohr flüstern würde, dass er alles im Leben wert ist. Immer und immer wieder.
Doch stattdessen sehe ich ihm bloß hinterher, während er sich abwendet und wieder zum Spielplatz gegenübergeht.
Seine blonden Haare wehen im Wind, während er mit gesenkten Schulter läuft.
Ich kann es nicht ertragen, ihn so zu sehen. Aber vor allem kann ich es nicht ertragen, dass ich der Grund dafür bin.
Wahrscheinlich ist das gerade das letzte Mal gewesen, dass ich mit ihm geredet habe. Und ich wünschte, ich hätte ihm wenigstens sagen können, wie viel er mir bedeutet. Nicht, weil ich in ihn verliebt bin. Sondern einfach nur, weil er ein so wundervoller Mensch ist.
Ihm ist nicht einmal bewusst, wie viel er mir geholfen hat.
Seufzend schließe ich die Haustür und wende mich dann meiner Mutter zu.
„Bist du jetzt zufrieden?" Die Worte sollten wütend klingen. Stattdessen ist jedes einzelne von ihnen von Traurigkeit umhüllt.
Sie nickt mir einmal gnädig zu und verschwindet wieder in der Küche. Was hätte ich auch sonst erwarten sollen? Dass sie einsieht, dass sie gerade einen großen Fehler gemacht hat? Wohl kaum. Sie ist so von ihrer Meinung und Weltansicht überzeugt, so überzeugt davon, dass sie richtig liegt, dass sie nicht einmal mitbekommt, dass sie mir das Herz gebrochen hat.
„Ach und Julie?", ruft sie mir hinterher, als ich mich gerade auf den Weg zurück in mein Zimmer mache.
„Was?", frage ich mit tonloser Stimme. Nicht, dass ihr das aufzufallen scheint. Aber das erwarte ich auch gar nicht mehr von ihr. Diese Art von Erwartungen habe ich schon vor Jahren aufgegeben.
„Ich habe bei Doktor Hemilton angerufen. Du hast Glück, er konnte deinen Termin auf morgen früh vorverlegen."
Ich gehe nach oben, ohne ihr eine Antwort zu geben.
„Was machst du denn für ein missmutiges Gesicht, Julie?" Pikiert sieht meine Mutter mich an. „Ich dachte, das ist es, was du willst."
Meine Mutter parkt ihren Wagen auf dem Krankenhausparkplatz, womit wir wieder in der Zone des Waffenstillstandes angelangt wären.
Abgesehen davon habe ich keine Kraft, um mit ihr zu streiten. Nicht heute, wo mich Ashtons verletzter Anblick selbst in den Träumen verfolgt hat.
Es ist nicht einmal vierundzwanzig Stunden her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen habe und mein Herz schmerzt, als wären es Wochen.
Ich benehme mich irrational, das weiß ich. Ich sollte mir nicht so viele Gedanken über diesen Jungen machen, den ich erst seit ein paar Monaten kenne. Und vor allem sollte es sich nicht so anfühlen, als hätte ich Liebeskummer.
Wir waren nie zusammen. Verdammt, wir hatten uns ja noch nicht einmal geküsst.
Doch dieser Junge hatte es geschafft, etwas in mir zu berühren.
Und dann habe ich alles zerstört.
Darin war ich anscheinend überragend. Dinge zu zerstören. Träume. Menschen. Meinen eigenen Körper. Einfach alles.
„Das ist es auch, was ich will, Mum", versichere ich ihr mit einem müden Lächeln. Und das stimmt auch. Ich will wieder zur Schule gehen können.
Nur Ashton will ich eben auch. Ist das zu viel verlangt?
Laut meinen Eltern anscheinend schon.
Meine Mutter hakt sich bei mir unter und drückt meinen Arm etwas zu fest, sodass ich morgen zweifelsohne blaue Flecken auf ihm haben würde, aber ich bringe es nicht über mich, sie darauf hinzuweisen.
Blaue Flecken. Das ist noch so etwas, was ich an meiner Krankheit hasse. Ich muss mein Bett oder meine Zimmertür auch nur streifen und kann darauf wetten, dass sich dort ein blauer Fleck bilden wird.
Es gibt Tage, da sehe ich nicht nur spindeldürr und krank aus, nein, da bin ich auch noch über und über mit blauen Flecken übersäht.
An diesen Tagen wage ich es meist nicht einmal in den Spiegel zu blicken und anfangs habe ich versucht das Ganze so gut es geht zu verdrängen.
Stadium 1, hatte Doktor Hemilton das genannt. Das Nichtwahrhabenwollen gegebener Tatsachen.
Mittlerweile bin ich über dieses Stadium hinweg. Nicht, dass das mein Leben wieder besser gemacht hätte. Ich habe es nur mittlerweile aufgegeben, die blauen Flecken zu leugnen.
Wenn dein Körper die meiste Zeit aussieht, als hätte jemand willkürlich blaue Flecken an empfindlichen Stellen aufgemalt, musst du es irgendwann einfach akzeptieren.
Meine Mutter führt mich durch den Eingangsbereich des Krankenhauses, wobei sie der Empfangsdame einmal kurz zunickt und mich dann in Richtung Doktor Hemiltons Büro zieht.
Wiederwillig folge ich ihr und versuche, nicht in Panik zu geraten.
Ich habe schon immer wenige Dinge so sehr gehasst wie Arztpraxen und Krankenhäuser.
Seit dem Vorfall vor Jahren habe ich es für ein paar Monate nicht einmal ertragen auch nur in einem Wartezimmer zu sitzen.
Und nun würde ich noch viele, viele Stunden in diesem verdammten Krankenhaus verbringen.
Wie bei jedem meiner Besuche fängt mein Herz an, schneller zu schlagen, als wir an Doktor Hemiltons Tür klopfen und eine Schwester uns hereinbittet.
Ich lasse mich schweigend neben meiner Mutter auf dem Sofa nieder, was mir so zuwider ist. Es schreit förmlich, dass schon zu viele kranke Menschen in ihren letzten Tagen zu viele Stunden auf ebendiesem Sofa verbracht haben.
„Bitte haben sie noch einen Moment Geduld. Der Doktor kommt sofort zu ihnen", lächelt uns die Krankenschwester zu und beginnt daraufhin, meine Krankenakte zu suchen und alles weitere für Doktor Hemilton vorzubereiten.
Während wir warten, frage ich mich, ob seine Krankenschwestern sein Mädchen für Alles sind. Sind sie es, die ihm seinen Kaffee – schwarz und ungezuckert, wie ich mittlerweile herausgefunden habe – kochen? Holen sie seine kleine Tochter aus dem Kindergarten ab, wenn seine geschiedene Frau nicht kann?
Nach der achten Frage wird mir dieses Spiel zu langweilig und stattdessen zähle ich die vorbeigehenden Sekunden.
Nach weiteren 373 Sekunden öffnet sich die Tür und Doktor Hemilton kommt mit einem Lächeln auf uns zu.
Meine Mutter schüttelt ihm eiligst die Hand und stößt mir einen Ellbogen in die Seite, damit ich es ihr nachtue.
Mein Lächeln ist daraufhin etwas schmerzverzerrt, aber ich bemühe mich, mir nichts anmerken zu lassen.
Sie hat zugestimmt, mich wieder zur Schule zu lassen. Und ich werde es mir auf keinen Fall mit ihr verscherzen, sodass ich doch nicht gehen darf. Der Gedanke daran, wieder zur Schule gehen zu dürfen, ist das Einzige, was mich über Ashtons Abwesenheit hinwegtröstet.
„Miss Morrison. Jules, wie schön sie beide wiederzusehen", lächelt der Doktor.
„Verstehen sie mich nicht falsch, Doktor Hemilton. Aber mir wäre es lieber, wenn ich sie nie wieder sehen müsste", erwidere ich.
Er zwinkert mir zu, während meine Mutter mir einen schockierten Blick zuwirft.
„Wie schön zu sehen, dass ihr Humor trotz der Leukämie nicht auf der Strecke geblieben ist", meint er zu mir und bedeutet mir und meiner Mutter, wieder Platz zu nehmen.
„Wollen wir zu ihrem Anliegen kommen. Ich habe gehört, dass du wieder zur Schule gehen wollst, Jules?"
Ich nicke.
„Ihre neuen Blutwerte sind gestern angekommen", berichtet er mir daraufhin ernst.
Ich winde mich innerlich, während ich mich auf die nächsten Sätze gefasst mache. Bloß nicht an das Schlimmste denken, Jul. Es ist alles gut, oder jedenfalls so gut wie es sein kann, spreche ich mir selbst Mut zu.
„Keine Angs, es ist nichts herausgekommen. Bestimmte Werte haben sich verschlechtert, aber das war über kurz oder lang zu erwarten. Die gute Neuigkeit ist, dass das Medikament, das ich dir vor ein paar Wochen verschrieben habe, anfängt zu greifen", erklärt er mir.
Ich atme erleichtert aus. Das hört sich doch besser an als erwartet.
„Heißt das, dass Julie wieder gesund wird?", fragt meine Mutter sogleich mit zittrigen Fingern.
Doktor Hemilton redet behutsam. „Die Möglichkeit besteht natürlich immer, Miss Morrison, aber ich will ihnen nichts vormachen. Das Medikament wurde noch nicht allzu oft verwendet und es ist auch gut aus möglich, dass Jules Körper anfangen wird, es abzustoßen."
„Wann würde das passieren? Nach wie vielen Tagen oder Wochen?"
Ich bemühe mich, ein Augenverdrehen zu vermeiden. Das ist so typisch meine Mutter.
Alles muss für sie in ihren Zeitplan passen.
Würde ein Todesdatum für mich feststehen, hätte sie es sicherlich schon mit pink – ihrer Farbe für wichtige Termine – eingetragen.
Wahrscheinlich sollte ich froh sein, dass ich mein Tod immerhin wichtig genug für pink ist.
„Das ist vollkommen unterschiedlich und hängt von vielen Faktoren ab, Miss Morrison. Fakt ist, dass es heute passieren könnte, genauso gut aber auch gar nicht. Ich bin jedoch ziemlich positiv, dass es zumindest nicht in den nächsten Wochen passieren wird", berichtet der Arzt. „Das ist durchaus positiv, so haben wir Jules eine längere Zeitspanne verpasst, was auch heißt, dass wir mehr Zeit haben werden, nach möglichen Therapiebehandlungen zu suchen."
„Sie werden aber deswegen nicht weniger intensiv suchen und ihre Arbeit schlampen lassen", meint meine Mutter in ihrem Tonfall, der allen klar macht, dass man es sich besser nicht mit ihr verscherzen sollte.
„Natürlich nicht. Wir tun alles Mögliche und werden dies auch weiterhin tun", versichtert Doktor Hemilton.
„Aber momentan ist alles soweit noch in Ordnung, habe ich das richtig verstanden?", mische ich mich ein und unterbreche meine Mutter, die gerade eine weitere Frage stellen will.
Doktor Hemilton nickt und ich seufze erleichtert auf.
„Das heißt, ich darf wieder zur Schule gehen?"
„Vorerst ja", bestätigt der Arzt.
Der Knoten in meinem Bauch löst sich langsam auf und ich merke, wie sich in weites Lächeln auf meinem Gesicht anbahnt.
Wenigstens einen Moment lang vergesse ich Ashton und alles andere und bin einfach nur froh, meine Freunde regelmäßig wiedersehen zu dürfen.
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