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Es gibt zwei Arten des Wartens. Die eine ist die einfache. Die Art, bei der man auf den Bus wartet oder darauf, dass das Essen fertig ist. Und dann gibt es die zweite Art des Wartens. Die Art, bei der niemand weiß, wann und ob es überhaupt geschehen wird. Ungefähr so verhielt es sich mit meinem Tod.









„Julie! Alex steht vor der Haustür! Mach bitte auf und sag ihm, dass du nichts mit ihm zu tun haben willst."

Ich schmeiße mein Mathebuch auf den Boden und stapfte nach unten.

„Erstens, nenn mich nicht Julie, Mum. Zweitens, er heißt Ashton nicht Alex. Und Drittens, dass werde ich ihm garantiert nicht sagen", sage ich, während ich an ihr vorbei gehe.

Meine Mutter brummt nur einmal zustimmend und wendet den Blick nicht einmal vom Fernseher ab. Ich würde mein ganzes Geld darauf verwetten, dass sie nicht ein Wort von dem mitbekommen hat, was ich gerade zu ihr gesagt habe.

Seufzend laufe ich am Wohnzimmer vorbei und öffne dann die Haustür.

„Hey", meine ich, als ich sehe, dass es wirklich Ashton ist, der vor der Tür steht.

Seine Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln. „Hey."

„Ähm, woher wusstest du, dass ich hier wohne?", frage ich, nachdem wir einige Sekunden geschwiegen haben.

„Du kommst immer aus dieser Haustür, wenn du zum Spielplatz kommst. Deswegen habe ich scharf kombiniert und bin zu der Schlussfolgerung gekommen, dass du hier wohnst", erwidert er grinsend.

„Ja, okay. Das gibt Sinn", murmele ich und könnte ich mich ohrfeigen dafür, dass ich da nicht von selbst drauf gekommen bin.

„Hast du Lust für Level 2 von ‚Jul lernt ihr Leben zu leben'?" Fragend sieht er mich an.

„Ich kann nicht. Tut mir leid", murmele ich.

„Oh. Klar. Kein Problem. Ich sehe dich dann in den nächsten Tagen?", erwidert Ashton und dreht sich um. Ich meine eine kleine Spur von Enttäuschung in seiner Stimme hören zu können. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, weil ich mir verzweifelt wünsche, dass auch er mehr Zeit mit mir verbringen will.

„Ashton, warte!"

Ich werfe einen Blick über meine Schulter, um zu prüfen, ob meine Mutter lauscht. „Ich würde wirklich gerne Level 2 bestreiten, nur muss ich gleich noch wo hin. Aber wie wäre es mit morgen?"

„Wo musst du denn hin?" Neugierig sieht er mich an.

„Nicht so wichtig", murmele ich ausweichend.

„Ist das Teil deines Geheimnisses?"

Ich nicke. „Also, wie sieht es aus? Morgen?"

„Ja, das klingt gut. Dann bis morgen!"

Ich sehe ihm noch einen Moment lang hinterher, während er in Richtung des Spielplatzes geht, dann schließe ich die Haustür und frage mich, woraufhin ich mich gerade einlasse.

Doch egal was es ist, es fühlt sich richtig an.


„Julie. Zieh dir bitte noch eine Jacke über", meint meine Mutter, als wir gerade dabei sind, das Haus zu verlassen.

Ich seufze und entscheide, dass  ich sie nicht darauf hinweisen werde, dass draußen immer noch sommerliche Temperaturen herrschen. Ich weiß, dass sie sich nur Sorgen macht.

Also hole ich eine Strickjacke aus meinem Zimmer und stelle fest, dass es die ist, die Ashton mir gestern gegeben hat.

Meine Mutter mustert die Jacke missbilligend, denn auch sie kann zweifelsfrei sehen, dass es nicht meine ist. „Wem gehört die Jacke?"

„Calum. Er hat sie letzte Woche hier vergessen", lüge ich und bin froh, dass meine Mutter nicht weiter nachhackt.

In Gedanken mache ich mir eine Notiz, dass ich Ashton die Jacke dringend wiedergeben muss.

Ich folge meiner Mutter zum Auto und steige auf der Beifahrerseite ein.

Wir fahren größtenteils schweigend und als wir nach zehn Minuten vor dem Gebäude des Krankenhaus stehen, merke ich, wie mein Atem schwerer wird.

Es fühlt sich an, als würde mir jemand von innen heraus die Luft abschnüren und ich kann nichts dagegen tun.

In den letzten Wochen habe ich es akzeptiert, dass ich vielleicht sterben würde, den Gedanken aber immer so weit es geht in den Hintergrund geschoben. Ich habe mir geschworen, meine verbliebene Zeit so gut wie möglich zu nutzen. Ich würde mein Leben bis zum vollsten leben.

Aber jedes Mal, wenn ich hier vor dem Krankenhaus stehe, stürzt alles wieder auf mich ein. Wieder und wieder.

Meine Mutter streckt mir ihre Hand entgegen und ich nehme sie haltsuchend. Hier vor dem Krankenhaus, verwandele ich mich jedes Mal wieder in ein kleines Kind, dass seine Mummy braucht.

Ich spüre, wie meine Mutter einmal kurz meine Hand drückt, als wir das Gebäude betreten und schenke ihr ein dankbares Lächeln.

Das Krankenhaus ist zu unserem Friedensgebiet geworden. Hier ist es egal, wie sehr meine Mum und ich uns streiten. Hier ist es egal, wie unterschiedliche Vorstellungen wir vom Leben und Erfolgen haben. Hier herrscht Waffenstillstand.

Um den Empfangstresen hat sich eine ganze Großfamilie versammelt, die aufgeregt mit der Empfangsdame diskutiert und auch sonst ist es nicht erheblich stiller.

Wenn ich mich umsehen würde, dann würde ich in besorgte und panische Gesichter blicken. Gesichter von Menschen, die größtenteils vollkommen ausgelöst sind.

Aber hier befinden nur die akuten Fälle und davon werden so ziemlich alle das Krankenhaus schon in wenigen Stunden wieder gesund verlassen dürfen.

Die wenigsten müssen hier um ihr Leben fürchten. So wie ich es tue.

Uns immer noch an den Händen halten, bahnen wir uns ein Weg durch die Menschentraube, die sich am Empfangstresen gebildet hat und machen uns auf den Weg zu Dr. Hemiltons Büro.

Diesen – und auch den Weg zu seinem Behandlungszimmer - kenne ich inzwischen auswendig, so oft wie ich ihn in den letzten Wochen gehen musste.

Nach einigen Minuten, die viel zu schnell vergangen sind, stehen wir vor dem richtigen Raum.

Der Krankenhausflur, in dem wir stehen, ist eintönig und abweisend und vermutlich identisch mit jedem anderen Flur des Gebäude wenn nicht sogar mit jedem Hospitalflur in ganz Australien.

Doch das Schild rechts neben der Tür verrät, dass wir uns vor dem Raum ‚Dr. Hemilton - Büro  - Onkologe' befinden. Außerdem lassen sich darunter noch einige fachspezifische Dinge finden, von denen ich allerdings null verstehe. Und ehrlich gesagt auch gar nicht verstehen will.

Hätte meine Mutter nicht geklopft, dann hätten wir wohl noch ewig vor der verschlossenen Tür gestanden.

Nach wenigen Sekunden hören wir von drinnen eine Stimme, die uns bittet, einzutreten.

Das Büro sieht nicht besser aus als der kahle Krankenhausflur draußen und momentan würde ich den Flur gerne den Vorzug geben.

„Setzen sie sich doch schon einmal. Dr. Hemilton wird in wenigen Minuten bei ihnen sein", lächelt eine Krankenschwester und deutet auf die Couch, die vor dem Schreibtisch platziert ist.

Am liebsten will ich die Frau fragen, wie sie so unbeschwert lächeln kann, während sie sich durchaus darüber bewusst ist, dass ich an Krebs leide. Doch vermutlich gehört das einfach zu ihrem Job.

Wenn ich in den letzten Wochen mit Menschen zu tun gehabt habe, dann haben sie mich grundsätzlich mitleidig angesehen, weil sie sich über meine Krankheit bewusst waren. Oder sie wussten eben nicht Bescheid.

Einen kurzen Moment lang frage ich mich, ob Ashton mich wohl auch mitleidig ansehen würde, wenn er Bescheid wüsste. Dann verdränge ich den Gedanken wieder. Ich habe nicht vor, Ashton je davon zu erzählen. Warum sollte ich mir also Gedanken über das ‚Was wäre wenn' machen?

Die Krankenschwester schenkt uns noch ein weiteres Lächeln und verschwindet dann in den Nebenraum, wo sie beginnt Krankenakten zu ordnen. Oder jedenfalls nehme ich das an, denn sie hat die Tür so hinter sich zugezogen, dass mir nur ein Spalt bleibt, um sie zu beobachten.

Seufzend setze ich mich neben meiner Mutter auf die Couch und betrachte unbehaglich die Wanduhr.

Ich habe Doktor Hemilton in meiner ersten Sitzung gefragt, warum er eine Couch anstatt Stühlen für seine Patienten besitzt und er hat mir geantwortet, dass er es seinen Patienten stets so behaglich wie möglich machen will.

Damals hatte ich das aufmerksam und nett gefunden, doch mittlerweile drängt sich mir der Gedanke auf, dass die Couch vor allem dort steht, weil einige seiner Patienten zu schwach sind, um sich längere Zeit auf einem Stuhl zu halten. Und mich graust es davor, irgendwann herauszufinden, ob diese Vermutung stimmt.

„Wir werden keine schlechten Neuigkeiten bekommen. Nicht heute", sagt meine Mutter plötzlich und sieht mich an.

„Was macht dich da so sicher?" Ich beiße mir auf die Unterlippe.

„Ich weiß es einfach. Ich fühle es", murmelt sie und ich bringe es nicht übers Herz, ihr mitzuteilen, dass sie so etwas nicht fühlen kann.

Selbst ich kann nicht fühlen wie genau es meinem Körper geht. Natürlich gibt es Tage, da geht es mir schlechter als an den meisten Tagen. An diesen Tagen bin ich furchtbar müde und ausgelaugt.

Aber die meiste Zeit über  merke ich gar nicht, dass ich krank bin. Da kann ich stundenlang laufen und ohne Schlaf auskommen.

Unruhig spiele ich mit meinem Armband herum. Ich besitze es schon seit langem und das Leder sieht mittlerweile ziemlich mitgenommen aus, doch ich käme gar nicht auf die Idee, es zu entsorgen, egal wie sehr meine Mutter es verabscheut. Denn sobald mir unwohl ist oder ich gelangweilt bin oder Ablenkung bin, drehe ich es an meinem Handgelenk.

Meine Mutter wirft mir einen missbilligenden Blick zu, sagt aber nichts weiter zu meiner Angewohnheit. Jedenfalls noch nicht. Wer weiß, was sie von sich gibt, sobald wir diesen Raum wieder verlassen haben. Sobald wir wieder in der Kriegszone angekommen sind.

Nach einer Ewigkeit, die in Wirklichkeit nur 12 Minuten gedauert hat, betritt Doktor Hemilton den Raum.

Anfangs habe ich noch versucht, an seinem Gesicht abzulesen, ob er gute oder schlechte Neuigkeiten für uns hat, aber er ist so professionell, dass er nie eine Miene verzieht.

„Misses Morrison. Jules." Er schenkt uns beiden ein Lächeln und schüttelt unsere Hände.

Ich erwidere sein Lächeln und bin insgeheim froh, dass er mich Jules nennt und nicht Julie. Meine Mutter hat ihn einmal darauf hingewiesen und alles was er dazu gesagt hat, war, dass es meine Entscheidung sei, wie er mich anredet und nicht ihre. Sie hat ausgesehen, als hätte man ihr gerade festgeteilt, als wäre das Budget für ihren Shoppingtrip auf 500 Dollar begrenzt worden, hat das Thema allerdings nie wieder angesprochen.

„Jules? Wie geht es dir heute?"

Er setzt sich hinter seinen Schreibtisch und schlägt die aktuellste Seite meiner Krankenakte auf, bevor er sich einen Kugelschreiber in die Hand nimmt und mich auffordernd ansieht.

„Gut. Erstaunlich gut", erwidere ich ehrlich. Es gibt Tage, da fühle ich mich völlig kraftlos und möchte nicht einmal das Bett verlassen. Aber die letzte Woche war ich erstaunlich wach.

„Keine Veränderung zu merken? Keine merkliche Verschlechterung?"

Ich schüttele den Kopf.

„Das ist gut. Sehr gut", meint Doktor Hemilton und schenkt mir ein anerkennendes Lächeln.

„Sie ist zu wenig", wirft meine Mutter anklagend ein.

„Das stimmt nicht, Mum. Ich esse genug", unterbreche ich sie, bevor sie anfängt noch mehr Dinge aufzuzählen, die ich anscheinend falsch mache. Manchmal glaube ich, dass sie wirklich denkt, ich wäre krank, einfach weil ich es will.

„Bist du appetitlos?" Fragend sieht der Arzt mich an und lässt die Miene seines Kugelschreibers klackern.

„Ja. Meistens habe ich keinen Hunger. Aber ich esse trotzdem genug", antworte ich ihm.

Er nickt und notiert sich etwas. „Das ist keine Seltenheit bei deiner Krankheit. Die meisten Leute, die unter chronischer Leukämie leiden, leiden unter Appetitlosigkeit. Solange du allerdings genug ist, ist das nicht unser größtes Problem."

Nein, denn unser größtes Problem ist der Kreis selbst, denke ich, spreche es aber nicht aus.

„Und könnten sie Jules bitte erklären, dass es ihrer Gesundheit nicht gut tut, wenn sie ihre jeden Tag draußen stundenlang mit einem fremden Jungen verbringt", bittet meine Mutter Doktor Hemilton.

„Misses Hemilton. Ich verstehe ihre Sorge", entgegnet er und meine Mutter sendet mir einen triumphierenden Blick.

„Allerdings denke ich nicht, dass es Jules schadet, ihre Zeit draußen an der frischen Luft zu verbringen. Ich würde eher sagen, dass es ihrer Gesundheit hilft, solange sie sich nicht überanstrengt", ergänzt er.

Ha. Ich werfe meiner Mutter den gleichen triumphierenden Blick zu, mit dem sie mich noch vor Sekunden gestraft hat.

 „So, dann wollen wir jetzt zu ihren Ergebnissen der letzten Untersuchung kommen."

Ich balle meine rechte Hand zur Faust, so fest, dass sich meine Fingernägel unangenehm in meine Haut bohren.

„Ihre Blutwerte haben sich nur kaum merklich verschlechtert", teilt er uns mit und schenkt mir ein kleines Lächeln.

Ich merke, wie sich der Knoten in meinem Bauch langsam wieder löst und atme einmal tief durch. Kaum merklich ist nicht gut. Es ist aber auch nicht sonderlich schlecht. Damit lässt es sich leben.

„Also kriegt Julie keine Chemotherapie?", hakt meine Mutter nach.

„Ich rate zum jetzigen Zeitpunkt noch davon ab. Sicherlich ist dies eine weitere Behandlungsmöglichkeit, die wir in der Zukunft in Betracht ziehen sollten. Doch momentan denke ich, dass wir einfach abwarten und genau beobachten sollten", erklärt er ihr. „Haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen? Oder du Jules?"

Meine Mutter und ich schütteln einvernehmlich den Kopf.

„Also dann, wünsche ich ihnen noch einen schönen Tag. Und vergessen sie den Termin nächsten Montag nicht", meint Doktor Hemilton und verabschiedet sich von uns beiden mit einem Händedruck, bevor er wieder aus dem Raum verschwindet.

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