e i g h t.
e i g h t.
Manchmal kann man nichts dagegen tun, einen Menschen zu vermissen. Der Verstand sagt einem, das man Loslassen soll, aber dann gibt es noch das Herz, dass mit aller Kraft schreit, bloß nicht aufzugeben.
Es gibt doch nichts schöneres, als an einem Samstagmorgen von einer Fliege geweckt zu werden, die deinen Kopf als Lieblingslandeplatz ausgewählt hat.
Ganze fünf Minuten versuche ich das nervige Vieh zu vertreiben.
Das Gute: Das Tier ist doch tatsächlich irgendwo in den Weiten meines Zimmers verschwunden.
Das Schlechte: Jetzt bin ich wach und ich kann es vergessen, noch einmal einzuschlafen und dem Ganze Drama meines Lebens wenigstens für ein paar weitere Stunden zu entschwinden.
Wundervoll. Besser könnte der Tag doch gar nicht beginnen.
Stöhnend quäle ich mich aus meinem Bett, bleibe ein paar Sekunden sitzen, um den Schwindelanfall zu vertreiben, der mittlerweile zu meinem ständigen Begleiter beim Aufstehen geworden ist.
Ich ziehe mir meine Lieblingsjeans an und merke bestürzt, dass ich die sonst so enge Hose nun einfach hochziehen kann. Früher hätte ich mich über den Gewichtsverlust gefreut, aber heute führt es mir noch einmal vor Augen, wie krank ich eigentlich wirklich bin.
Die meiste Zeit bemerke ich es nicht einmal, denn diese Krankheit kommt schleichend. Aber dann, in Momenten wie diesen, da erwischt es mich plötzlich und ich muss mich zusammenreißen, um nicht zusammenzubrechen. Um nicht aufzugeben.
Denn tue ich dies einmal, dann werde ich es mir auch ein zweites Mal erlauben. drittes Mal. Und ein viertes Mal. Und irgendwann habe ich dann verloren.
Ich habe mir vorgenommen zu kämpfen und das Beste aus dem Rest meines Lebens zu machen.
Wer weiß, wenn ich mich stark gab, vielleicht würde ich das Ganze sogar lebend überstehen.
Aus diesem Grund straffe ich die Schultern, setze ein unechtes Lächeln auf und versuche mir einzureden, dass ich gute Laune hätte.
Was nicht sonderlich einfach ist, denn Ashton und sein abweisender, verletzender Blick drängen sich immer wieder in meine Gedanken.
Vielleicht habe ich mir einfach eingebildet, dass er mich genauso sehr mag wie ich ihn. Vielleicht bin ich einfach nur ein Zeitvertreib für ihn gewesen. Dass verrückte, geheimnisvolle Mädchen, dass eine Lachnummer für jeden ist.
Ich gehe die Treppe herunter – extra laut, um meiner Mutter zu verstehen zu geben, dass ich sauer auf sie bin – und gehe in die Küche, an der meine Eltern schon am Esstisch sitzen.
Natürlich. Denn wer würde an einem Samstagmorgen auch nicht um 8 Uhr aufstehen? Schließlich konnte man ansonsten nicht genügend Arbeit erledigen.
„Jules." Mein Vater nickt mir einmal zu, bevor es sich wieder in den Finanzteil der Tageszeitung vertieft.
Ich mache mir nicht die Mühe, seine Begrüßung zu erwidern und mache mir eine Schüssel Cornflakes.
„Julie, nächstes Mal gehst du leiser die Treppe herunter. Was sollen denn die Nachbarn denken", meint meine Mutter mit säuerlichem Gesichtsausdruck.
Als würden unsere Nachbarn auch nur irgendetwas davon mitbekommen haben.
Ich wende demonstrativ den Blick von ihr ab und sehe in meine Schüssel. Lustlos schiebe ich die Cornflakes mit dem Löffel hin und her, bevor ich mich dazu überwinde, überhaupt etwas zu essen.
Die eingeweichten Cornflakes schmecken nach Pappe und ich muss mich dazu zwingen, sie herunterzuschlucken.
„Jules. Ich rede mit dir!" Die Stimmlage meiner Mutter schnellt gefühlte zwei Oktaven nach oben.
„Ich aber nicht mit dir!", erwidere ich genervt und stehe vom Tisch auf, ohne die Cornflakes auch nur noch einmal anzurühren. Ich habe sowieso keinen Hunger.
Ich stapfe die Treppe wieder hoch und lasse mich rückwärts auf mein Bett fallen. Dort spiele ich zwei Stunde lang lustlos mit meinem Handy, bevor ich entschließe, dass es spät genug ist, um meinen besten Freund aus dem Bett zu werfen und schreibe ihm eine SMS.
10:03
To: CalPal
Bist du schon wach?
10:05
To: Juleeeeees
Yep. Wieso???
10:05
To: CalPal
Mir ist langweilig
10:06
To: CalPal
Caluuuuuum kann ich dich anrufen?
Sekundenspäter klingelt mein Telefon und ich hebe erleichtert ab.
„Hey, Jules! Wie geht es dir?", fragt Calum mich sogleich und ich kann die Besorgnis aus seiner Stimme heraushören.
„Gut. Mir geht es gut", erwidere ich
„Kann ich irgendwas für dich tun?"
„Nein, schon gut. Aber danke", meine ich und versuche ein Seufzen zu unterdrücken.
Ich liebe Calum als meinen besten Freund und ich bin irgendwie auch froh darüber, dass er sich solche Sorgen um mich macht. Wahrscheinlich wäre ich an seiner Stelle genauso besorgt.
Nur ich kann diese ganze Sorge und das Mitleid einfach nicht mehr ertragen.
Das ist einer der Gründe, warum ich mich gerne in Ashtons Anwesenheit befinde. Er behandelt mich so, als wäre ich gesund und dadurch fühle ich mich auch automatisch besser.
„Also, was ist los? Warum rufst du an?", erkundigt sich Calum.
„Kann ich nicht einfach mal mit meinem besten Freund reden wollen?", ziehe ich ihn auf.
„Doch natürlich", beeilt er sich zu sagen.
„Ich habe Langeweile", jammere ich ihn voll.
Sein Lachen dringt durch das Telefon zu mir durch. „Dann mach was", entgegnet er und ich kann sein grinsendes Gesicht vor meinen Augen sehen.
„Was denn?", grummele ich.
„Mal was?"
„Habe ich in letzter Zeit schon viel zu oft gemacht", seufze ich.
„Lesen?"
„Auch schon zu oft."
„Nun, vielleicht solltest du wieder zur Schule gehen. Da ist einem wenigstens nicht langweilig, sondern man ist eher genervt", zieht Calum mich auf.
„Ich weiß, Cal. Glaub mir, ich würde unheimlich gerne endlich mal wieder zur Schule. Auch wenn du mich nun für verrückt erklären wirst, aber ich vermisse Schule", entgegne ich.
Ich bekomme als Antwort nur ein Schnauben, was mich zum Lachen bringt.
„Wirklich! Okay, ich vermisse nicht die Schule direkt, aber dich und meine anderen Freunde. Und die Pausen. Selbst Tiffany wäre mir gerade als Gesellschaft lieb", beteuere ich.
„Tiffany? Glaub mir, nach nur zehn Sekunden würdest du sie aus deinem Zimmer verbannen", entgegnet er.
„Okay, wahrscheinlich", grinse ich. „Also, was soll ich jetzt machen?"
„Mach was mit deinen Eltern?", schlägt er vor.
„Nein, danke!", sage ich hastig.
Er seufzt. „Befindet ihr euch schon wieder im Krieg?"
„Ja. Mum und ich", erzähle ich ihm. Dad hat sich bis jetzt herausgehalten, was mich ehrlich gesagt überrascht hat. Wahrscheinlich ist auch dies ein Teil vom Krebsbonus.
„Was hat sie dies Mal gemacht?"
„Nicht so wichtig", murmele ich. Ich will mit ihm nicht über Ash reden.
„Kannst du nicht vorbeikommen? Und mich vor meilenweiter Langeweile retten?"
„Ich würde gerne Superman spielen, aber meine Eltern zwingen mich dazu, heute mit ihnen Essen zu gehen", seufzt Cal. „Tut mir leid."
„Schon okay. Ich werde schon irgendwas finden", versichere ich ihm.
„Ich muss mich jetzt fertig machen."
„Okay. Bis dann", murmele ich.
Nachdem Calum aufgelegt hat, werde ich von der Langweile praktisch überrollt. Wieder einmal.
Ich hätte nicht gedacht, dass Ashton so wichtig in meinem Tagesablauf geworden ist, aber das ist er.
In den letzten Wochen habe ich immer damit rechnen können, dass er um Punkt 12 Uhr auf dem Spielplatz erscheinen wird.
Bis dahin musste ich mich selbst beschäftigen, aber alleine die Gewissheit, dass er auftauchen wird, hat die Stunden vor unseren Treffen verkürzt.
Und heute – heute war nicht einmal klar, ob er überhaupt auftauchen würde. Und selbst wenn er da sein würde, hieß das noch lange nicht, dass er mich überhaupt sehen wollen würde.
Ein Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken.
„Was willst du, Mum?", frage ich sie genervt, nachdem sie ohne meine Erlaubnis einfach eingetreten ist.
„Mit dir reden."
„Ich aber nicht mit dir", erwidere ich.
„Julie." Sie kneift die Augenbrauen zusammen. „Wenn ich mit dir reden will, dann hörst du mir gefälligst zu.
Ich seufze und schließe demonstrativ die Augen.
„Ich wollte dich nur daran erinnern, dass morgen Abend die Sommerparty deines Vaters stattfinden wird. Ich hoffe, du hast schon ein Kleid gekauft."
„Ist das dein Ernst, Mutter? Willst du jetzt einfach so tun, als wäre gestern nie passiert?", frage ich sie angewidert.
„Was denkst du eigentlich, wie du mit mir sprichst, Julie? Hast du denn gar keine Manieren mehr? Das Thema von gestern ist abgeschlossen", entgegnet sie.
„Ach ja? Also soll ich einfach hinnehmen, dass du Ash ohne jeden Grund beleidigt hast? Du hast mich blamiert! Und wenn ich ihn das nächste Mal sehe, weiß ich nicht einmal, ob er überhaupt noch etwas mit mir zu tun haben will!"
„Es wird egal sein, ob er überhaupt noch etwas von dir will, denn du wirst ihn nicht wiedersehen!", befiehlt sie herrisch.
„Das ist nicht fair! Du kennst ihn doch nicht einmal!"
Wütend fechten wir einen Starrkampf aus und ich stelle befriedigt fest, dass sie die erste ist, die blinzelt.
„Ich kannte seinen Vater, Julie. Glaub mir, wenn du schlau bist, hältst du dich von dem Jungen fern", meint meine Mutter und knallt beim Herausgehen die Tür hinter sich zu.
Wie erwachsen von ihr.
Ich vergrabe mein Gesicht in mein Kissen und versuche einmal laut zu schreien, komme mir dabei aber so bescheuert vor, dass ich stattdessen anfangen muss zu lachen.
Wer auch immer diesen Weg erfunden hat, um seine Wut rauszulassen, ist mir plötzlich um einiges suspekter geworden.
Nachdem ich erneut meine Zeit damit verbracht habe, an meine Zimmerdecke zu starren und die Flecken zu zählen – und sie wieder und wieder zu zählen, denn es sind nur drei und wüsste meine Mutter, dass sie überhaupt existieren würden, hätte sie schon längst einen Maler angerufen -, werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr.
11:56 Uhr.
Ich beiße mir auf die Lippe und sehe dabei zu, wie die Minuten kaum merklich vergehen. Wüsste ich es nicht besser, würde ich schwören, dass die Zeit plötzlich langsamer voranschreiten würde, als sonst.
11: 58 Uhr.
Noch zwei Minuten.
11:59 Uhr.
Bitte lass ihn auftauchen. Bitte, bitte, bitte, flehe ich und starre aus dem Fenster.
12: 00 Uhr.
Erleichtert sehe ich dabei zu, wie sich sein Umriss langsam nähert und noch bevor er sich wie immer auf eine der beiden Schaukeln gesetzt hat, bin ich schon aus meinem Zimmer gestürzt und auf dem Weg zum Spielplatz.
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