Kapitel 2 - Von Adlern und Schlangen

Entweder verstand er es nicht – oder ignorierte es geflissentlich – denn statt zu gehen, trat er einen Schritt in den Innenraum des Abteils und schloss die Tür hinter sich.

„So voll wie jedes Jahr und genauso laut", erwiderte er und ließ sich auf das abgenutzte, karierte Polster sinken. Dann glitt sein Blick ein wenig deutlicher über die beiden Mädchen.

Die Jüngere trug den schwarzen Umhang einer Erstklässlerin, die ihrem Haus bisher nicht zugeteilt worden war. Den Umhang der Älteren zierte signifikante Blau-Bronze mit dem stolzen Adler der Ravenclaws. Rotes Haar, Ravenclaw und allein im Abteil, obwohl der Rest des Zuges beinahe aus den Nähten platzte. Schweigend betrachtete er sie einige Momente, die Arme vor der Brust verschränkt. „Loreley Oaksbury, richtig?", fragte er. Dabei hatte er ganz genau gewusst, wer sie war. Schon ehe er dieses Abteil betreten hatte.

Augenblicklich spannten sich Loreleys Muskeln an. Kurz glitt ihr Blick von ihm zu dem schlafenden Mädchen auf ihr und wieder zurück. Was stimmte nicht mit dem Kerl? Sah er nicht, dass hier jemand schlief? Oder war ihm das schlichtweg egal?

'Typisch Slytherin', dachte sie bitter und reckte das Kinn. „Und wenn?" Innerlich bereitete sie sich bereits darauf vor, blöde Sprüche und fiese Spitzen abzuwehren, die sicherlich gleich erfolgen würden.

Stattdessen verzogen sich die Lippen des Slytherin zu einem schiefen Lächeln. Schräg wie ein Gemälde, das an der Wand verrutscht war. Es wirkte einfach... falsch. „Ich habe dein Spiel gegen Slytherin im letzten Jahr gesehen."

Loreleys Augen verengten sich bei diesen Worten. Ob er es wusste oder nicht, er stach mit diesen Worten direkt in ein Wespennest. „Und trotzdem traust du dich in dieses Abteil?", zischte sie mit gesenkter Stimme und der Slytherin zog die Augenbrauen höher.

„Wow-wow-wow!", er reckte sich ergebend die Hände in die Höhe. „Ich bin nicht hier, um Ärger zu machen", stellte er schnell klar und diesmal senkte auch er endlich ein wenig die Stimme. „Um ehrlich zu sein, ich bin nicht wirklich ein Quidditch-Fan. Und Higgens konnte ich zugegebenermaßen sowieso nie sonderlich gut leiden."

Das Lächeln war aus seinen Zügen verschwunden. Aber Loreley hatte immer noch das Gefühl, als ob dieser Kerl nicht zufällig in dieses Abteil gestolpert war. Sie konnte nicht erklären, woher dieser Eindruck kam. Loreley versuchte angestrengt sich zu erinnern, ob sie ihn vorher schon einmal gesehen hatte. Allerdings war sie erst ein Jahr in Hogwarts und musste zusätzlich zu den Sprachlücken und Dialekten der einzelnen Schüler all die unzähligen neuen Gesichter und Informationen verarbeiten. Sicher war: in ihrem Jahrgang hatte sie ihn nicht gesehen. Warum also saß er dort und sah sie so seltsam an?

„Ich bin übrigens Caleb Fawley." Fawley deutete mit dem Kinn in Richtung der Kleinen. „Deine Schwester?"

Loreley nickte leicht und instinktiv strich sie über die Schulter des jungen Mädchens, als wollte sie verdeutlichen, dass sie unter ihrem Schutz stand. „Ja. Sie heißt Sophie", raunte sie leise.

„Ihr erstes Jahr?", gab der Slytherin zurück, aber seine Aufmerksamkeit schien sich nicht wirklich umzulenken. „Ich war damals so aufgeregt, ich hätte niemals auch nur eine Minute Schlaf gefunden."

Calebs Worte klangen tonlos und schienen die wahren Intensionen zu verschleiern wie schwarzer Samt. Er hätte genauso gut über das Wetter sprechen können und Loreley war sich sicher, dass er log. Aber warum?

Um die Antwort herauszufinden, schien sie das Spiel fürs Erste mitspielen zu müssen. „Wir schlafen nicht gut zurzeit", antwortete sie deshalb.

Fawley gab ein leises Brummen von sich. Er saß still dort, bewegte sich kaum und wandte den Blick nicht von ihr ab. Es war unangenehm und machte sie unruhig. Der Slytherin erinnerte sie an das Wappentier auf seiner Brust: wie eine Schlange, die auf eine potenzielle Beute starrte. Und sie mochte dieses Gefühl nicht.

„Ihr seid vor einem Jahr aus Deutschland hergekommen?"

Loreley wollte stöhnen. Wie oft hatte sie diese Story schon erzählen müssen? „Ja, richtig. Mein Vater war Auror und starb auf einem Einsatz. Eine Tante verstarb kurz darauf und so erbten wir als letzte Familienangehörige ein Haus in England." Sie zuckte leicht mit den Schultern.

Obwohl sie sich bemühte es so daher zu sagen, konnte sie nicht verhindern, dass ein Hauch Bitternis ihre Stimme durchzog. Ihre Mutter hatte keinen von ihnen gefragt, ob sie das wollten. Insbesondere nicht Loreley, obwohl sie sich Mühe gegeben hatte, ihrer Mutter und Sophie eine Stütze und Entlastung zu sein.

Ihre Mutter traf der Verlust hart. Obwohl ihr Vater aufgrund seines Berufes nicht oft zu Hause gewesen war, liebte sie ihn doch von ganzem Herzen. Nach der Nachricht seines Todes waren die Tage und Nächte gezeichnet von dem Schluchzen und Weinen, das Loreley in den Schlaf begleitete und mit dem sie auch erwachte. Also übernahm sie es, Sophie abzulenken und ihre Fragen zu beantworten. Zum Dank verschleppte ihre Mutter sie nach England. Fort von ihren Freunden, ihrem Zuhause und allem, was sie kannte. In einer Phase, die auch für SIE nicht leichter gewesen war. Denn nachts, wenn ihre Mum mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt und Sophie eingeschlafen war, weinte Loreley ihren Schmerz ganz allein und ungehört in die Kissen.

Es war leichter, wegen des Umzugs und auf alles wütend zu sein. Sie konnte es sich nicht leisten, schwach zu werden... denn Loreley fürchtete sich, in einem Moment der Schwäche gänzlich einzubrechen.

„Unsere Mutter dachte wohl, es wäre eine gute Gelegenheit für einen Neuanfang", meinte sie und spürte doch den Stich in ihrem Herzen. Sie räusperte sich, um es zu überspielen. Doch Fawley schien nicht bemerkt zu haben, dass ihre Stimme einen raueren Ton angenommen hatte. Stattdessen sah sie in seinen Augen ein seltsames Aufblitzen.

„Deine Mutter... sie arbeitet für das Ministerium, stimmts?" Er konnte die Neugier hinter seinen Worten nicht verschleiern. Und diesmal schlug er mit einem Stock zu ungelenk nach dem Bienenstock. „Sie ist Unsägliche oder? Weißt du, was sie aktuell untersucht?"

Seine Worte trafen sie wie ein Messer, das ihr in den Magen fuhr. Und jede Frage drehte es und raubte ihr förmlich den Atem.

„Raus hier", knirschte Loreley zwischen den Zähnen hervor.

„Was?"

„Raus hier. SOFORT." In einer eindeutigen Geste deutete Loreley nun auf die Tür. Diesmal hatte sich eine frostige Schicht über ihre Stimme gelegt und schliff sie wie eine Messerklinge. Sie klang eisig und fest – obwohl es in ihrem Innern alles war, bloß nicht ruhig.

In den Zügen des Slytherin schien sich etwas zu verhärten und ein Muskel zuckte an dem schnittigen Kinn, während seine Lippen eine schmale Linie bildeten. Loreley konnte spüren, wie die Temperatur im Raum um einige Grad sank.

„Fein." Caleb erhob sich unvermittelt und seine Finger umschlossen den Messing-Griff der Abteiltür. Nur kurz warf er einen Blick über die Schulter zu ihr zurück. „Pass auf, wohin du gehst, Oaksbury. Es gibt Türen in Hogwarts, die aus gutem Grund verschlossen bleiben sollten." 

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