Kapitel 10 - Von Winterfrost und süßem Honig

Vermutlich kam es der Hexe nur so vor, doch der Türgriff schien abnormal schwer, als sie ihn nach unten drückte. Kaum jedoch hatte sie das getan, schwang die Tür mit einem Mal so leicht auf, dass sie den ersten Schritt in den Raum eher stolperte, als ihn aufrecht zu überbrücken.

„Wen haben wir denn da? Beehren Sie uns nun am Ende doch noch mit Ihrer Anwesenheit, Miss Oaksbury?", drang die strenge Stimme von Professor Sharp durch den großen Raum. Unter der Kälte, die darin lag, schienen selbst die Flammen unter den Kesseln zu erzittern.

Wie immer trug Professor Sharp den mit Ornamenten verzierten, dreiteiligen Anzug mit einem braunen Mantel. Dazu die hellbraunen Cord-Weste, einem weißen Leinenhemd mit einer braunen Krawatte und beigen Hose. Schulterlanges, braunes Haar fiel um die strengen Züge und Augen, die im matten Lichtschein des Klassenzimmers hier unten in den Kerkern beinahe schwarz erschienen. Die große, blitzförmige Narbe, die sich quer über sein linkes Auge zog, verlieh ihm eine umso respekteinflößendere Ausstrahlung.

Sharp.

In Deutsch, ihrer Heimatsprache, bedeutete es 'scharf' - und kaum ein Name hätte zu diesem Mann besser gepasst, denn genau das waren seine Art und seine Ausstrahlung. Scharf wie ein geschliffenes Messer, an dem man sich schnell schneiden konnte, wenn man damit nicht umzugehen wusste. Genauso blitzend war auch sein Blick, den er über die brodelnden Kessel auf langen Tischen hinweg zur Tür warf, die er scheinbar allein mit einem beiläufigen Schwung seines Stabes geöffnet hatte. Woher er ahnte, dass sie hinter der Tür stand, mochte nur der Teufel wissen. Vielleicht war es das Gespür für Ärger – und jene, die es verursachten – welches er sich noch von seiner früheren Karriere als Auror erhalten hatte?

Loreley jedenfalls versuchte den kühlen Hauch zu ignorieren, der ihr förmlich wie eine Winterbrise entgegenwehte und räusperte sich.

„Verzeihung Professor, es gab einen Vorfall bei-"

„Sparen Sie sich Ihre Ausreden, Miss Oaksbury. Fünf Punkte Abzug für Ravenclaw", unterbrach Professor Sharp sie harsch und deutete auf einen der Tische. „Und nun hören Sie auf, den Unterricht noch zusätzlich länger zu unterbrechen."

„Na super. Dabei hatte ich uns die fünf Punkte gerade erst verdient. Toll gemacht Oaksbury", zischte der Ravenclaw entnervt, der als einziger noch allein an einem der paarweise zugeteilten Kessel stand. Loreleys Schritte wären automatisch langsamer geworden und sie hätte sich normalerweise ausgiebig Zeit für ein leidiges, genervtes Stöhnen gegönnt – hätte sie nicht Professor Sharps stechenden Blick wie Dolche im Rücken gespürt.

Der Ravenclaw, der dort so ungesellig allein an einem Kessel stand, tat dies nicht grundlos, wie Loreley selbst aus eigener Erfahrung gelernt hatte. Denn der Muggel-geborene Mahendra Pehlwaan war ein solcher Regelhüter und Klugscheiser, dass selbst die Professoren von seiner Atitüde genervt waren. Und das sollte etwas heißen. Jetzt warf er ihr einen fast so finsteren Blick zu, dass es perfekt zu seinem dunkelbraunen Haar und seinen Augen passte.
„War es nicht genug, dass dein ständiger Hang Ärger zu verursachen uns im letzten Jahr schon den Hauspokal gekostet hat?", fuhr er grimmig fort und rümpfte sichtlich die Nase, sodass sich darauf kleine Falten zeigten. „Vielleicht könntest du versuchen dieses Jahr einfach... unsichtbar zu sein, Oaksbury?", schlug er vor und schob ihr merklich abgeneigt das Buch für Zaubertränke entgegen, damit sie sehen konnte, was heute auf dem Unterrichtsplan stand: ein Stärkungs-Serum.

„Unsichtbar? Damit würdest du uns allen einen Gefallen erweisen", mischte sich nun ein anderer Schüler vom Kessel gegenüber ein.

Sofort spannten sich Loreleys Muskeln neu und ihr Blick gewann an Schärfe. Mit dem blöden Gerede von Pehlwaan kam sie zurecht. Mit diesem hatte sie im letzten Jahr ständig Streit gehabt, weil ihre Malheure mit umfallenden Schränken oder anderen Einrichtungsgegenständen und das Treppen-Debakel Ravenclaw eine ziemliche Menge an Punkten gekostet hatten. Aber verdammt – sie konnte nichts dafür, dass die blöden Treppen ständig die Richtung wechselten und sie nie dahin brachten, wohin sie wollte oder musste! Seit sie in Hogwarts angekommen war, ging alles immer nur schief. Nach dem, was sie gehört hatte, war Ravenclaw noch nie so nah dran gewesen, den Hauspokal zu gewinnen. Slytherin führte mit den meisten gewonnenen Jahren der letzten Zeit und sie verstand auch auf gewisse Weise den Frust, der sich deshalb über ihr entlud.

Besonders Pehlwaan hatte es sich scheinbar seitdem in den Kopf gesetzt, ihr auf die Nerven zu gehen. Sie hatte sogar eine Eule in den Ferien von ihm erhalten. Zahlreiche Seiten voller klein geschriebener Predigten, wie wichtig es war, sich an die Regeln zu halten, warum es zum Wohle aller – und vor allem Ravenclaws war – und mit Vorschlägen, wie sie am besten an sich und ihrem 'schadhaften' Verhalten arbeiten konnte. Sie erinnerte sich nicht mehr an viel daraus. Aber der Brief hatte ein schönes Feuer abgegeben.

Wie dem auch sei. Der Schüler, der ihr über den Tisch ein breites, aber gehässiges Grinsen zuwarf, war eine ganz andere Hausummer als der König der Paragraphenreiter.

Unter haselnussbraunem Haar stand ein herzförmiges Gesicht mit markantem Kiefer, der so scharf war, dass selbst ein Messer sich daran hätte schneiden können. In den grünen Augen mit den hellen Sprenkeln, welche im Sonnenlicht aussahen wie Bernstein, stand eine offene Herausforderung.

„Hast du nichts Besseres zu tun, als mich zu nerven, Hunter? Dir die Haare kämmen oder Liebesbriefe lesen zum Beispiel?", gab sie nicht weniger scharf zurück. Beide gaben sie sich schon lange keine Mühe mehr, die spitzen Klingen unter seidenweichen Stimmen zu verbergen.

Allein wenn sie dieses Lächeln sah, welches aus einer Annonce für Zahncreme im Tagespropheten hätte stammen können, drehte sich ihr der Magen um. Und zwar nicht auf die Art und Weise voller Schmetterlinge und Bienchen, wie es die anderen Mädchen immer so seufzend in ihren rosafarbenen Zettelchen an den Schulschwarm beteuerten.

„Was ist los, Oaksbury? Neidisch, weil ich im Gegensatz zu dir weiß, wie man eine Bürste benutzt?"

Loreley hätte ihm so furchtbar gerne einen Fluch entgegen gezischt, der ihm das Grinsen aus dem Gesicht wischte.

Hunter Wide war ein Muggelgeborener, zu dem man aus zehn verschiedenen Mündern wohl mindestens acht unterschiedliche Meinungen hören würde. Großer Mädchenschwarm, der jüngere und sogar manche älteren Mitschülerinnen anzog als wäre er der Honig und sie die Bienen. Der Hüter der Gryffindors und der große Stolz der Kätzchen. Und das nur, weil er einen einigermaßen passablen Hüter abgab. Warum manche von einem herausragenden Talent sprachen, ließ sie nur mit den Augen rollen. Es verschaffte dem ohnehin viel zu großen Ego des Gryffindor-Prinzen kaum einen Dämpfer.

Viele, die sich hingegen mehr auf Traditionen und Blutreinreinheit einbildeten, hätten für Hunter weit weniger schmeichelnde Worte. Nicht nur wegen seiner Herkunft, sondern vor allem auch deshalb, weil er außer im Quidditch kaum mit irgendetwas glänzte und damit gewisse Theorien zu bekräftigen schien, die Salazar Slytherin einst aufgestellt hatte.

Obwohl Loreley ebenfalls aus einer alten Familie stammte, deren Wurzeln hier in England zu finden waren, besaß ihre Abneigung gegen Hunter jedoch andere Gründe. Egal, wie breit seine Schultern durch das Training sein mochten und wie toll er ohne Shirt aussehen mochte: Sie konnte einfach nicht verstehen, was die ganzen Mädchen an ihm fanden. Sein Lächeln war für sie nicht "zuckersüß" oder "hinreißend", sondern furchtbar klebrig. Für sie war er schlicht und simpel ein totaler Idiot. Viele Muskeln und wenig Hirn.

„Schhht!", zischte Pehlwaan neben ihr und warf ihnen beiden giftige Blicke zu, die sogar den Slytherin Konkurrenz hätten machen können.

„Was ist los, Pehlwaan?", mischte sich Leander Prewett ein und seine Stimme triefte bereits vor höhnender Ironie. „Bist du eifersüchtig, weil Hunter mit deinem Schätzchen redet?", stichelte der Gryffindor und man konnte sehen, wie Pehlwaan die Hitze in die Wangen und die Ohren stieg.

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