6«||Sterbender Tod||


»Ich wusste das du es schaffst mir einen Platz freizuhalten.«

Mit einem schiefen Grinsen läuft der gut aussehende Junge durch den Bus und lässt sich neben mir auf den Sitz fallen.
Seine olivgrüne Jeans ist an den Knien aufgerissen und das graue T-Shirt liegt eng um seinen Körper, dass ich trotz der Jeansjacke darüber, sehen kann, wie muskulös er ist. Wie immer tritt er sehr geheimnisvoll und skurril auf und seine verschlossene Ausstrahlung
passt nicht zu dem so frech grinsenden Jungen. Und trotzdem schlägt mir mein Herz alleinig wegen der Faszination und Freude gegen die Brust und nicht weil er Abstand ausstrahlt.

»Es gab einige Strapazen aber ich habe um diesen Sitz gekämpft.«
Lachend balle ich meine Hand zu einer Faust und demonstriere wie ich all die Leere im Bus bekämpft habe um diesen Platz freizuhalten.

»Wie kühn von dir.«
Er lacht noch immer und täuscht eine Verbeugung an, die auch mein Gekicher nicht leise lässt.
Ihn wieder zu sehen grüßt mich in vieler Hinsicht auf eine begeisterte Weise und ich kann nicht erklären, was für Freudensprünge mein Herz macht.

»So bin ich nunmal. Eine wahrhaftige »Ehrenfrau««, erkläre ich grinsend und kann die Glücksgefühle in mir kaum bändigen.
Es pulsiert, es pumpt und ich stecke plötzlich voller Energie.

»Ich merk's. Und was hat die Ehrenfrau am Wochenende so getrieben ?«
»Ähm...ich habe den ganzen Samstag Rommé gespielt und am Sonntag gelernt«, erzähle ich und schaue erwartungsvoll zu ihm auf.
Es interessiert mich was er wohl die freien Tage über gemacht hat.
Spielt er Fußball oder hat er seine Freundin besucht ? Ob er wohl eine hat ?

»Ich habe Samstag die Buchreihe zu 'Der Herr der Ringe' beendet und am Sonntag meine Mutter zum Flughafen gefahren. Sie ist geschäftlich nach Frankreich gereist.«

Dass er solche Klassiker lesen würde hätte ich ihm kaum zugetraut und auch, dass er so private Sachen erzählt, obwohl ich eine Fremde bin, zeigt mir, dass er mir zu vertrauten scheint.
Und es freut mich auf eine ehrliche Art und Weise.

»Wow, dass du solche Bücher liest hätte ich nicht gedacht. Liest du viel ?«
»Oh ja, deswegen ist Bücherwurm auch keine Beleidigung aus meinem Mund, denn ich bin schließlich selbst einer.«
»Was liest du am meisten ?«, will ich wissen und merke selbst wie ich an seinen Lippen hänge.
»Alles mögliche, aber am liebsten Thriller.«
»Hast du eine Lieblingslektüre ?«, frage ich weiter und bin nun komplett in meinem Konzept.
Über Bücher könnte ich mich immer unterhalten und jemanden neben sich zu haben, den dieses Thema nicht abspeist, ist selten, dass ich es unbedingt ausnutzen will.
»Ja, von Dietrich Thal: »Zerrissener Schrei«. Das Buch habe ich mit vierzehn bekommen und seitdem lese ich es jedes Jahr.«
»Den Autor kenne ich, ich habe von ihm mal »Sterbender Tod« gelesen aber dein Titel sagt mir so jetzt nichts.«

»Dann muss ich dir das Buch empfehlen. Es ist fantastisch.
»Sterbender Tod« ist auch animalisch und wirklich spannend formuliert aber »Zerissener Schrei« fordert dich dazu auf es gleich zweimal zu lesen.«

Der begeisterte Funken in seinen Augen reißt mich für einen Moment aus meiner Welt und im Inneren einer Blase gefangen lausche ich seinen Erzählungen über den Autor und seine fantastischen Bücher.

Letzte Woche schien er mir gleich bei unserer ersten Begegnung wie ein arroganter Draufgänger und diese spielerische Seite zeigte er mir auch in Zügen, die ich abneigend fand. Aber der Junge der mir nun Gesellschaft leistet ist der verspielte Schönling mit der Begeisterung für Wissen und Bücher und seine Erzählungen sind so dermaßen sympathisch, dass ich nicht verstecken kann wie angetan ich bin.

Diese Seite gefällt mir so viel besser an ihm und es ist merkwürdig schon nach nichtmal fünf Begegnungen so über ihn handhaben zu können.

»Lora ?«
»Mhm ?«

Aus meinen Gedanken gerissen, starre ich in ein hämisch grinsendes, selbstgefälliges Gesicht, dass mich amüsiert und vielsagend ansieht.
»Verstehe, eingenommen in meine Wenigkeit und fasziniert von meiner selbst kann der süße Lollipop mir nicht zuhören.«

Als ich rot werde zwinkert er einmal und nutzt zum wiederholten Male meinen Scham aus.
Ihn angestarrt zu haben ist eine Sache die mir unangenehm ist. Aber es dann auch noch so offensichtlich gezeigt zu haben, holt mich kaum mehr aus dem aufgetanen Boden hoch.

»Ich habe dir schon zugehört. Aber deine blendende Schönheit hat mich zuletzt aus der Bahn geworfen«, spiele ich sein Getue mit und grinse entschuldigen.

Theatralisch fast er sich ans Herz und sieht mit gehobener Nase in die Ferne.
»Dann verzeihe ich dir«, erzählt er und bricht sein eigenes Spiel mit einem Schmunzeln ab.
»Was liest du überhaupt am liebsten, Lolli ?«

Ich muss einen Moment in mich gehen, ehe ich darauf antworten kann, denn unter hunderten von Büchern eines zu finden, was ich wirklich herausragend gut finde, ist gar nicht mal so leicht.

»Ich lese alles mögliche. Thriller finde ich klasse, aber nicht wenn es um Verrückte und psychisch Gestörte geht. In meiner Leseliste befinden sich auch Romane, die im letzten Jahrhundert spielen oder sogar noch auf wahren Begebenheiten beruhen, oder  deutsche klassik Autoren wie Erich Kästner mit dem doppelten Lottchen. Ich mag alle Arten von Büchern, wenn mich der Stil des Autors mitreißt.«

»Das doppelte Lottchen also, das haben wir damals in der Grundschule gelesen«, erzählt er und ich nicke.
In der vierten Klasse las man daraus vor, aber damals kannte ich es bereits.
Meine Eltern haben mir seit dem Kindergarten täglich ein anderes Buch vorgelesen, weil sie es für sehr wichtig halten sich mit Worten auf Papier auseinanderzusetzen.

Es hat viele Vorteile lesen und gut schreiben zu können.
Lesen fördert und vor allem in Sprache und Rechtschreibung hilft es ungemein.

»Lotte oder Luise ?«, fragt er und wackelt mit den Augenbrauen, dass ich abgewandt lachen muss.
»Weder noch«, entscheide ich und würde im geglichenen Bild wahrscheinlich eher Lotte ähneln.
Sie ist der ruhigere, anständigere und fügsamere Zwilling und nicht so aufgedreht wie Luise.

»Du bist einzig wahr und ohne Duplikat mein Lolli«, sagt er feierlich und lässt mich wieder zu ihm sehen.

Hat er gerade mein Lolli gesagt ?

Ich bin sicher mich nicht verhört zu haben und dementsprechend bin ich überrascht.

»Ich bin also dein Lolli ?«, hake ich nach und bekomme bei diesen Worten selbst eine Gänsehaut.
Wie schafft er es sowas nach nur kurzer Zeit zu sagen ?
Natürlich hat er mir diesen Spitznamen gegeben und ich gehe davon aus, dass niemand sonst ihn von ihm erhalten hat, aber das ich gleich sein Lolli bin.
Es überrascht mich innerlich und kratzt an meiner Achtung.

»Vielleicht bist du das.«

Er klingt plötzlich abgewandt und ruhiger. Das Lächeln hat gegen seinen Ernst verloren und nachdenklich sehe ich den ausdruckslosen Jungen an, der Minuten später ohne ein weiteres Wort den Bus verlässt.

Verwirrt sehe ich ihm hinterher.
Eine Gruppe von Gleichaltrigen hat sich an der Bushaltestelle platziert und nimmt Ryan mit grinsenden Gesichtern in sich auf.
Ohne sich noch ein weiteres Mal umzudrehen, verschwindet der Lockenkopf in der Menge und lässt mich zurück.

Ein eisiger Stich löchert meine Brust und sein so plötzlicher, magerer Abgang hinterlässt Fragen.
Ist er sauer ? Habe ich etwas falsches gesagt ? Bereut er seine Wortwahl ? Habe ich ihn gekränkt ?

Ich würde ihm gerne nachschreien, hinterherrufen und mich entschuldigen, obwohl ich nicht einmal weiß wofür.
Es ist etwas wie Sehnsucht und Angst, dass er nun nicht mehr zurück kommt.
Dass er nicht im Bus sitzen wird, wenn ich heute Mittag einsteige.
Dass wir uns nicht wieder sehen.

Es ist komisch so etwas zu fühlen.
Leere die den Körper durchströmt und ganz unangenehme Rückstände hinterlässt.
Wie kennen uns nicht mal eine Woche und ich vermisse ihn, seine Stimme und Aufmerksamkeit.
Ich würde es gerne verrückt nennen, unglaublich, aber es ist nicht nur verrückt, es ist Energie.
Etwas, was man braucht.
Ich bin mir plötzlich sicher, dass Ryan mehr werden könnte, als er ist.

Vielleicht ist er bereits mehr.
Vielleicht aber auch nicht.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top