24«||Der Anfang von abermillionen Küssen||
Ich bin noch nie so schnell gerannt.
Der Wind peitscht meine Haare durch die Luft und der Regen durchnässt meine Kleidung bereits nach wenigen Minuten.
Es ist kalt draußen.
Kriechend spüre ich durch den Stoff meines Pyjamas wie der Frost sich durch die Dunkelheit bahnt und die Straße schon bald in Glatteis verwandeln wird.
Meine Kleidung trieft vom dichten Regen und klebt an meiner Haut, dass ich sie am liebsten von mir reißen würde um mich von keinem Ballast aufhalten zu lassen.
Der Drang genau jetzt zu Ryan zu kommen und ihn genau jetzt zu sehen, regt meinen ganzen Körper an und das Adrenalin strömt so übermäßig in mir, dass ich kurzweilig Schleier vor meinen Augen sehe.
In meiner Lunge rasselt es.
Meine Atmung ist unkontrolliert und ich habe das Gefühl, als würde nicht ausreichend Luft in meinen Körper fließen.
Mein Herz rast. Wie wild pocht es und droht mir aus dem Brustkorb zu springen, als ich die Auffahrt zur Villa noch einmal an Tempo annehme.
Zu der Bettruhe, die man mir als Bedingung verschrieb gehört dieser nächtliche Ausflug in keinem Fall, aber als ich die Einträge von Ryan gelesen habe, blieb mir nur diese Möglichkeit. Die Sehnsucht nach ihm hatte mich übermannt und sie ging so weit, dass ich nicht einmal die Zeit hatte mir eine Jacke anzuziehen.
So laufe ich also in Pyjama und meinen abgewetzten braunen Boots zur Haustür und versuche hechelnd an mehr Luft zu kommen. Die Kontrolle ist meinem Körper vollstens entwichen und es gibt keine Faser in meinen Körper die sich frühzeitig beruhigen möchte.
Meine Finger prickeln, als ich auf die Türklingel drücke und im Inneren ein leises Bimmeln wahrnehme.
Ein merkwürdig platzendes Gefühl springt in meinem Magen auf und ab und kurzzeitig wird mir schwindelig, weil dieser Sprint einfach zu viel war.
Aber ich bereue ihn nicht. Noch nicht. Denn ich musste genau heute kommen. Ich muss Ryan genau heute ein zweites Mal zu küssen versuchen, denn wer kann mir garantieren, dass ich morgen noch die Möglichkeit dazu habe.
In gewissen Situationen darf man keine Zeit verlieren und ich weiß genau, dass ich sowieso kein Auge hätte zutun können, ohne diese Beziehung endlich klar zu wissen.
Ich will Ryan.
Und ich ertrage es keine weitere Sekunde, ohne das Wissen, dass er zu mir gehört und das er mich liebt und das er mich küssen will.
Ich kann nicht länger unwissend auf meinem Bett liegen und mir ausmalen, wie er ein anderes Mädchen glücklich macht. Ich kann nicht mehr.
Schritte sind zu hören. Eilig flitzen sie durch den Flur und drehen den Schlüssel im Schloss der Tür herum. Und dann sehe ich sie:
Schwarze Augen, die wie Sterne leuchten, und zartbittere Schokoladenhaare, die einem ganz wundervollen Menschen gehören.
»Lora !«
Seine Augen weiten sich überrascht und sein Körper verspannt sich beim Anblick meines nassen Ichs. Aber ich will mir keine Fragen anhören oder seiner tadelnden Stimme noch weiter lauschen. Ich will nur noch eins...
Von Energie gepackt überbrücke ich den Abstand zwischen uns und springe so schwungvoll an ihm hoch, das er ein paar Schritte zurücktaumelt, während ich unsere Lippen bereits zu einem Kuss vereine.
Und ich blühe darin auf.
Ryans Lippen sind weich und warm und sie lassen mein Herz augenblicklich schmelzen.
Die Luftballons in meinem Inneren beginnen zu platzen und mein Herz droht sich erneut zu überschlagen, als Ryan den Kuss zu erwidern beginnt.
Meine Hände wandern in seinen Nacken und ziehen ihn fordernder zu mir, um diese Sehnsucht und Begierde zu stillen, die in mir die Oberhand übernommen hat. Die brave Lora verwandelt sich in seinen Armen zu einem völlig neuen Menschen.
Ich versinke in unserem Kuss.
Wärme umgibt mich und seit sehr langer Zeit finde ich den Schlüssel zu einem Zuhause wieder.
Mit dem Spiel unserer Körper gehe ich in Flammen auf und ich will mehr, als wir uns voller Atemnot lösen müssen. Unsere pochenden Herzen sind in der eisigen Stille des Flurs zu hören.
Ich beginne zu grinsen, als er mich mit einem undefinierbaren Blick betrachtet und enger an sich drückt, um sich zu vergewissern, dass das hier gerade tatsächlich geschehen ist. Oh, ja, dass ist es...
Seine Augen sind weich und flackern meinen entgegen und zum ersten Mal schimmert in ihnen ein Funken von Gold. Wie eine Flüssigkeit fließt es in einem einzelnen Strich durch seine Pupillen und fasziniert mich so sehr, dass ich aufhöre zu atmen.
Die ungewöhnlichsten Gefühle durchrauschen mich, als unsere Blicke sich in ein intensives Starren verwandeln und wir uns erneut zu küssen beginnen. Davon werde ich nie genug bekommen.
Mein gesamter Körper wird von Impulsen und Energie durchströmt und ich glaube einen Moment schwerelos zu sein, als wir keuchend unsere Stirnen aneinander pressen und uns ansehen.
»Du gehörst mir.«, haucht er in die begierige Luft und küsst meine Nasenspitze, als ich schmunzelnd zu nicken beginne.
»Nur mir.«, lächelt er und legt danach seinen Kopf in den Nacken um seine Atemnot zu kontrollieren.
Ich bin froh, als ich ihn betrachte und in seinen Augen endlich wieder den strahlenden Glanz erkenne, der mir die letzte Woche erspart geblieben war. Und ich sehe, wie ich Ryan endlich wiederbekomme.
Den echten Ryan, der nicht distanziert war und der mir immer beistand. Den Ryan, den ich liebe.
Eine ganze Weile sehen wir uns nur an, zeigen einander ohne Worte, dass wir mehr als Freunde sind und machen es für uns selbst offiziell, bis uns Schritte auf der Treppe trennen und er mich eilig zurück auf meine Beine lässt.
Der Junge, der mit den selben Haaren wie Ryan die Treppe hinabeilt, sieht ihm brüderlich sehr ähnlich und sein junges Aussehen, lässt mich sofort an Ethan, den älteren Bruder, denken.
»Oh.«, murmelt er, als er mich neben seinem Bruder entdeckt und schließlich zu lächeln beginnt.
»Was für eine Überrschung !«
Freudig tritt er näher.
»So siehst du also lebendig aus, Lora !«
Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen spricht mich der große Junge an und seine Ausstrahlung gefällt mir. Er ist direkt und ich sehe die Ehrlichkeit in seinen Augen funkeln. Das hat nicht jeder.
»Und du bist also Ethan, vor dem man mich gewarnt hat.«
Auch ich beginne zu grinsen und strecke meine Hand aus, die er lachend zu schütteln beginnt.
»Darf ich sie hiermit in der Familie willkommen heißen ? Sie gefällt mir nämlich als zukünftige Schwägerin.«, stellt Ethan seinem Bruder klar und dieser beginnt nun auch zu strahlen. Ich liebe dieses Lächeln...
»Darf ich sie denn heiraten, obwohl du noch Single bist ?«, fragt er seinen großen Bruder und hebt amüsiert eine Augenbraue.
»Als Mamas Lieblingssohn darfst du womöglich alles.«, betont Ethan extra ein wenig lauter und scheint damit auf eine Reaktion zu warten.
»Ohh...«
Augenrollend kommt Sekunden später eine brünette Frau aus der Küche in den Flur und zwickt ihm in die Seite.
»Ich habe keinen Lieblingssohn.«, tadelt sie den grinsenden Jungen und wendet sich dann an mich.
»Hallo, Lora, schön dich endlich kennenzulernen, Ryan hat viel von dir erzählt. Ich bin Thea, die Mutter der beiden.«, stellt sie sich vor und schenkt mir ein einladendes Lächeln, dass ich ihre Umarmung kaum ausschlagen kann.
»Oh, Süße, bist du durch den Regen gerannt ?«
Erst jetzt scheint der Familie meine durchnässte Kleidung aufzufallen und ich versinke in Scham, als ich selbst an mir hinabblicke.
Der geringelte Mickey Mouse Pyjama klebt an meinem Körper und ich bereue, dass meine Zeit nicht für eine neutrale Jacke gereicht hat.
Mit erhitzten Wangen starre ich zu Boden und wünsche mir einmal mehr im Leben, dass er sich öffnen würde.
»So ist Lora, Mum. Spontan und absolut einzigartig, ich liebe sie dafür.«
Anstatt zu lachen, strahlt Ryan solche Freude über meinen urkomischen Anblick aus, dass ich mich doch traue ihn anzusehen und ihm einmal mehr für diese Menschlichkeit und Selbstachtung zu danken.
Lieblich nimmt er mich an der Hand und drückt sie kurz, ehe er uns entschuldigt und mich mit nach oben zieht.
»Wie wäre es mit einem Pullover oder willst du einen Pyjama ?«
In seinem Zimmer beginnt er nun doch zu witzeln und ich rolle genervt mit den Augen, ehe ich mich, für dieses Kommentar rächend, auf sein Bett werfe und seine Decke nass mache.
»Also ein Pullover.«, entscheidet Ryan und sucht in seinem Schrank nach etwas geeignetem für meinen unterkühlten Körper.
Ich bin dankbar als er mir einen gefütterten Pullover mit Bauchtaschen überreicht und sich ohne Kommentar umdreht, damit ich mich umziehen kann.
Weich schmiegt sich der Stoff um meinen Körper und reicht mir bis zu den Oberschenkeln, dass ich mich vollstens darin vergraben kann. Ich seufze glücklich und lasse mich zurückfallen um Ryan damit aufzufordern, sich neben mich zu legen.
Es tut gut, die verlorenen Wochen mit etwas gewohntem aufzuholen und gemeinsam mit Ryan auf seinem Bett zu liegen und die Sterne von hier aus zu beobachtend, gehört zu meinen Gewohnheiten.
Schon oft lagen wir ohne ein Wort nebeneinander und haben in diese Endlosigkeit gestarrt, jeder davon fasziniert wie schön die Sterne sind. Ich bin froh, dass ich genau solche Dinge wieder problemlos machen kann und ich dafür nicht einmal meine tauben Finger missen muss.
»Genau das hier habe ich vermisst.«, verrate ich der Stille und rücke ein wenig näher an Ryan um mich an seinem Körper zu wärmen.
Ohne Kommentar zieht er mich ganz an seine Seite und bettet meinen Kopf auf seiner Brust, um mit meinen Haaren spielen zu können.
»Sicher, dass du nicht das hier vermisst ?«, fragt er und haucht mir einen Kuss auf die Stirn.
Ich schmunzle.
»Das werde ich hoffentlich nie vermissen müssen.«
»Vergiss das hoffentlich.«
Es vergeht eine ganze Weile in der wir nichts als unsere Zweisamkeit genießen. Ryans Herz schlägt mittlerweile regelmäßig an meinem Ohr und auch meines hat sich von der Ruhe mitreißen lassen. Genüsslich schließe ich die Augen.
Ist es zu fassen ? Ich liege hier mit Ryan. Meinem Ryan...
Und er liegt hier mit mir. Freiwillig und ungezwungen und nur, weil er mich mag. Er sieht nicht das stille Mauerblümchen, sondern Lora. Und er sieht auch nicht den Streber oder die verwöhnte Arzttochter in mir, sondern Lora.
Es tut gut nur ich zu sein.
Lora - keine Heldin.
Lora- keine Cheerleaderin und Lora - keine Langweilerin.
Einfach Lora.
Hier, neben Ryan, fällt mir auf, dass ich auch nie mehr als ich selbst sein wollte. Die Tatsache, dass Stina mehr Freunde und Bekannte hat, als ich, stört mich gar nicht und ich habe falsch gedacht, als ich glaubte so wie sie sein zu wollen. Das will ich gar nicht.
Ich will keine weiteren Freunde und auch keinen Ruf an der Schule. Ich will nur das behalten, was ich habe und so weiter machen, wie bisher. Das Bisher reicht, es ist mehr als genug.
»Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen ?«, fragt mich Ryan und scheint meinen Magen gehört zu haben.
»Heute mittag.«, murmle ich und hebe meinen Kopf, damit er aufstehen kann.
»Gut, dann lass mich ein guter Freund sein und Dir ein Müsli anbieten.«, schlägt er vor und reicht mir seine Hand, dass ich aufstehen kann.
»Nichts würde ich lieber essen als das.«, schwärme ich und lasse mich von ihm nach unten ziehen.
Ich weiß gar nicht wie es kommt, aber am Ende sitzen wir nicht mehr zu zweit auf dem Sofa im Wohnzimmer und rühren in unseren Schüsseln voll Milch, sondern zu viert.
Thea erzählt von der Kindheit der Jungen und Ethan reißt einen Witz nach dem anderen, dass es gar nicht anders kommen kann, als das ich mich sofort willkommen und wohl fühle.
Wie auch Ryan ist seine Familie loyal und offen und sie sind unglaublich freundlich, dass ich die Angst, sie könnten mich nicht mögen, nach ganz hinten schiebe.
Lachend sitzen wir beisammen und reden über längst vergangene Zeiten.
Ich erfahre von der Zeit in der Ryan ein Baby war und ich sehe Bilder von den Jungen im Grundschulalter. Schon damals war Ryan ein wirklich verdammt hübscher Junge.
Auch meine Koma- Zeit wird Thema der Runde und unter Lachtränen erfahre ich, dass sich unsere Familien bereits mehr als gut kennen.
Ethan und mein Dad haben gemeinsame Tennisspiele geplant und auch Ryan wurde von meinen Eltern bereits komplett ausgefragt, um sich als mein Freund zu beweisen. Da sie mich nicht suchen, scheint er sie überzeugt zu haben und das wundert mich nicht. Sie haben ihn schon bevor sie ihn überhaupt beim Namen kannten geliebt. Einfach, weil er existierte.
»Wie habt ihr zwei Hübschen euch überhaupt kennengelernt ?«, fragt Ethan nach einer Weile und hebt neugierig seinen Blick.
»Nun ja...«, beginnt Ryan und macht eine lange Pause in der er bloß mit meinen Fingern spielt.
»Wir haben uns zum ersten Mal im Bus auf dem Weg zur Schule gesehen. Eigentlich bin ich jeden Morgen allein gefahren, aber an einem Donnerstag stand Ryan plötzlich in der Tür. Und da fing alles irgendwie an ...«
Ich will nicht fortfahren. Die ganze Geschichte geht nur ihn und mich etwas an, auch wenn sie kein Geheimnis ist.
Ethan scheint allerdings auch mit dieser Kurzfassung zufrieden und lächelt uns beiden entgegen, ehe er das Thema wechselt.
Während er und seine Mum plötzlich über Topflappen reden, wende ich meinen Blick zu Ryan, der einen Arm um meine Schultern gelegt hat und unterbewusst mit meinen Fingern spielt.
Sein Blick geht gen Fenster in den Himmel hinauf und ich folge ihm lächelnd.
Als eine Sternschnuppe dann über die Wolken huscht schließe ich die Augen und wünsche mir etwas.
»Ich habe mir dich gewünscht«, flüstert Ryan an mein Ohr.
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