22«||Die Angst vor Einsamkeit||
»Wenn ich sie so ansehe, sieht sie nicht wie die Lora aus, die sie einmal war. Sie sieht viel zu friedlich und niedlich und brav aus.
Ihre Haare sind zu glatt und ihr Gesicht zu mäßig, zu weiß.
Auch wenn sie nicht geschminkt ist, sieht sie ihrem Naturell nicht mehr ähnlich und je länger ich hier sitze, desto mehr bilde ich mir ein, sie sei eine andere.
Aber sie ist nicht anders. Sie ist immer noch das Mädchen, mit den fransigen Haaren, dem Milchbart und unlackierten Fingern. Lora, mit einer Falte auf der Stirn, wenn sie nachdenkt, und sprenkelnden Sommersprossen unter den Augen.
Sie ist sich selbst in keiner Sekunde aus dem Körper gewichen und ich weiß, wen ich ansehe, wenn ich das Zimmer betrete.
Lora - das Kakaotrinkende Monster.
Lora - meine Freundin.«
Ryans Stimme war schon immer eine Melodie.
Sie zu hören ist so normal, wie Pommes mit den Fingern zu essen und auch wenn ich den Vergleich bescheuert finde, ist mir gedanklich danach zu lächeln.
Ryans Dasein ist normal.
Er ist der Alltag, den ich nie missen werde und würde ich mich selbst nicht so komisch fühlen, so aufgeregt und wiederbelebt, würde ich nun glücklich seufzen.
Aber ich kann nicht. Meine Lippen sind wie zugeschnürt und so trocken, dass ich glaube mich an ihnen schneiden zu können.
Unwohlsein durchströmt mich und vor lauter Nervosität glaube ich einen Moment mein Herz daran zu verlieren.
Aber es geschieht nicht.
Stattdessen füllt sich mein Körper und all die Leichtigkeit ist von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Ich spüre meinen Körper wieder, all die Schwere, die ich tragen muss und alle Schmerzen, die man mir hinterlassen hat.
Ermüdet versuche ich meine Augen zu öffnen und anders als all die Male zuvor, funktioniert es heute sogar.
Orange ist eine knallige Farbe, denke ich, als ich die Wand vor mir betrachte und nicht einmal überrascht von ihrem Anblick bin.
Ich kann sie nicht scharf sehen, das Sofa auch nicht und meine Hände auch nicht.
Alles sieht verschwommen aus und blickt sich wie durch eine Milchglasscheibe.
Aber des Gefühl einem grausamen Traum entkommen zu sein, erleichtert mich viel mehr als die Panik, die ich bei dieser Unschärfe bekomme.
Verschleiert nehme ich die Anwesenheit einer Person wahr und unsicher wende ich ihr meinen Blick zu, als sie meinen Namen haucht.
Es ist Dad und mit seiner warmen Hand an meiner kalten, durchfährt mich ein Schauer der Geborgenheit.
Sie sind immer noch da.
Ich bin nicht alleine.
»Hallo, Kleines.«
Sein Flüstern verunsichert mich und die Tatsache ihn immer noch nicht scharf sehen zu können, stört gewaltig.
Ich will mir die Augen reiben, die merkwürdigen Gefühle loswerden, aber meine Arme sind schwer wie Blei, als das ich sie anheben könnte.
Es kleiner angehend, versuche ich meine Finger zu bewegen und schaffe es tatsächlich mit reichlich Konzentration meinen Daumen fahren zu lassen.
Nach und nach, Minuten der Zeit, kommt auch das Gefühl zurück und all der Schlaf, der sich um meinen Körper gelegt hat, verströmt in Leben.
Ich spüre mich wieder.
Die Schmerzen in meinem Kopf und meine Zehenspitzen, meine nackten Arme. Ich fühle meine Glieder, mein rauschendes Blut und die Gedanken, die sich nach und nach sammeln und vereinen.
Fetzen, die mit einander zusammenhängen flattern durch mein Innerstes und setzen sich zusammen, dass ich nach einigen Anläufen eine Ahnung habe, wo ich mich befinde und was passiert ist.
Donnerstag war der Busunfall und nachdem ich Juan und Mr. Gilson gerettet hatte und drohte in der Hitze zu verbrennen, war da dieser letzte Impuls, ein letzter Sprung, der mir mein Leben gerettet zu haben scheint. Für den Moment war da Ryan, sein Lachen und eine Schüssel Cornflakes.
Und dieser Gedankengang hat mich so glücklich und sehnsüchtig gemacht, dass ich darauf zu springen wollte, es ergreifen und festhalten wollte.
Anscheinend war ich ins nichts gesprungen, aber immer hin aus dem Bus hinaus, bevor mich die unentwegte Dunkelheit mit sich gerissen hatte.
Woran ich mich danach erinnern kann, sind Millionen Tage voller Schwärze in denen sich diverse Stimmen in meinem Unterbewusstsein gemeldet und geredet haben.
Stina war da, hat mir gesagt, dass sie mich lieb hat und ich ihre beste Freundin bin.
Sie hat von unseren Gegensätzen gesprochen, von Dingen, die sie an mir mag und von Erlebnissen der Vergangenheit, die unser Jetzt für immer prägen.
Mum und Dad waren da, haben meine Hand gehalten und, zwischen den vielen Reden über unsere Familie und unseren Zusammenhalt, geweint.
Am meisten weiß ich, dass Ryan hier war. Sein prägnanter Duft dominiert den widerlichen Geruch nach Desinfektion und es fühlt sich an, als sei ich in seiner Schutzhülle umarmt und zuhause angekommen.
Es nun doch könnend schließe ich genüsslich die Augen und atme einmal tief ein, ignorierend, dass mir dieser aufbauende Druck auf die Lunge geht und mir schwindelig wird.
Es ist befreiend wieder klar atmen und die Luft ganz einfach wieder ausstoßen zu können.
Es rasselt ein wenig, mein kratziger Hals ist trocken, aber nichts ist so gut, wie zu leben.
Ich lebe. Spüre mein Herz schlagen und meinen Puls am Halse pochen.
Ich bin wieder hier.
Und Ryan liebt mich. Er wollte mich küssen und er will mit mir zusammen sein. Für den Moment ist die Welt wieder eine heile.
All die Löcher in meinem Herzen finden eine Fülle und jeder Stich bekommt ein Pflaster. Es fühlt sich bearbeitet, aufgebessert, zusammengeflickt an. Vollständig.
»Lora ?«
Lächelnd öffne ich meine Augen wieder und strahle noch mehr, als ich meinen Vater endlich scharf ansehen kann.
Seine Haare sind zerzaust und sein Gesicht wirkt mir auf den ersten Blick Jahre älter. Aber er ist mein Dad, unverkennbar.
»Ich liebe dich, Dad.«
Die Stimme, die spricht, klingt anders und komisch. Sie kratzt in meinem Hals, dass ich husten muss und zu keuchen beginne.
Aber sie spricht geradewegs aus der Seele.
»Hier.«
Langsam reicht man mir ein Glas mit Wasser und konzentriert nehme ich es in meine Finger um es an meinen Mund zu führen.
Kühles Nass füllt meinen Mund und ich bin dankbar für das Wasser und seine Stille und Wirkung auf meinen Hals. Mit befeuchteten Lippen wiederhole ich meine Worte und könnte in Tränen ausbrechen, als auch er es tut.
»Ich liebe dich auch, Loralein.«
Lächelnd küsst er meine Hand und hält sie an sein Gesicht, während er meines genauestens inspiziert und beobachtet.
Für einen Moment bin ich glücklich. Lächle meinen Dad an und bin ohne weiteres mit all meiner Dankbarkeit durchströmt.
Dann aber fällt mein Blick an meinen Unterarm und so schnell wie die Freude kam, so schnell verfliegt sie wieder.
Beschämt entziehe ich Dad meinen Arm und halte ihn an mich, um die Schnitte nicht sichtbar zu lassen.
Von diesem Blut sollten sie nicht mitbekommen aber so gequält wie Dad den Kopf schüttelt und meinen Arm zurück zieht, scheint er zu wissen, was ich getan habe.
»Wir schaffen das, Lora. Du kannst es nicht mehr verstecken, aber das brauchst du auch nicht, denn wir werden das Morgen verändern, damit die Narben verblassen. Es lag an uns allen, wir haben einfach verlernt als Familie zu funktionieren und das werden wir ändern.«
Er lächelt liebevoll und besänftigt meine Skepsis an diese Worte.
Ich dachte er sei sauer, würde mir Vorwürfe machen enttäuscht sein. Diese grausame Qual.
Stattdessen hält er meine Hand und streicht mit dem Daumen über die verheilenden Arme, als seien sie wunderschön, ein Teil von mir und hinzunehmen.
»Wo ist Mum ?«, frage ich nach einer Weile in der wir still meine Wunden betrachten und versuchen damit Frieden zu schließen.
Dad scheint es geschafft zu haben und ein Gewissen klammert sich an meine Beine, dass er dafür Tage gebraucht hat, Tage in denen ich nicht hier war.
»Zuhause, aber sie wurde bereits über dein Erwachen informiert und ist auf dem Weg hier her.«
Ich nicke und vor Neugierde und Unwissen lasse ich seine Antworten kommentarlos in der Luft hängen und frage gleich weiter.
»Wie lange war ich nicht ansprechbar ?«
Schluckend beantwortet man mir auch diese Frage und ich bin mehr als erschrocken den ganzen Dezember verschlafen zu haben.
»Zwanzig Tage, heute ist der sechsundzwanzigste Dezember.«, berichtet man mir und erklärt damit auch offen, dass ich alles verpasst habe.
Den Winterball und meinen achtzehnten Geburtstag, Nikolaus, Weihnachten und sogar die Weihnachtsfeiertage, die wir normalerweise bei Oma verbringen.
Das Jahr neigt sich dem Ende zu und ich habe die womöglich spannendsten Tage des Jahres verpasst. Meinen ersten selbstgeplanten Ball, meinen Geburtstag ins Reich der Erwachsenen und mein erstes Weihnachten mit Ryan, bei dem
ich selbstgesehen nur halb dabei war.
Frustriert und enttäuscht lasse ich meinen Blick schweifen und starre aus den Fenstern in die Trübe der Stadt.
Die dort draußen, die haben Weihnachten gefeiert und ihren achtzehnten haben sie bestimmt auch nicht im Koma verschlafen.
Die dort draußen enden dieses Jahr mit einem Lächeln, während meines verstirbt.
Die Enttäuschung plagiiert mein Gesicht und ich kann nicht verstecken wie sehr ich mein Schicksal für diesen Unfall hasse.
War es Absicht, sollte ich den Winterball nie mitfeiern ?
Trotz dessen, dass ich niemanden hatte, der mit mir hingehen wollte, hätte ich gerne gesehen, wie die Pärchen über die Tanzfläche segeln und wie gut die Dekorationen bei Schülern ankommen. Aber diese Werte und Aussichten sind laut Datum schon zehn Tage her.
Die Tränen in meinen Augen halte ich zurück als die Tür plötzlich aufspringt und eine leichenblasse Frau, mit tränenden Augen und dicken Augenringen hineinstürzt.
Es ist Mum.
Die Frau, die sonst stets ein Lächeln auf den Lippen trug und die nie zu weinen hatte, deren Probleme sie immer hingenommen hat und deren Schicksal sie immer als Botschaft sah.
Meine Mum.
»Lora !«
Mit zittriger Stimme eilt sie an mein Bett und ohne auf mich selbst zu achten öffne ich meine Arme, um sie halten zu können.
Mum ist warm, ihr Gesicht ist vom weinen gerötet und ich streiche ihr beruhigend über den Rücken, nur um dieses unerträgliche Weinen eben zu lassen.
»Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«, haucht sie an mein Ohr und bemerkt gar nicht, wie ihre Tränen auf mich überlaufen und mir die Wange hinab kullern.
Es tut gut Mum so nah zu sein.
Bei ihr brauche ich keine Rolle zu spielen und auch meine Sorgen nicht halten.
Je stärker ich mich an sie klammere und je näher mir ihre Körperwärme geht, desto weniger kann ich verstehen, wie ich ihr so Misstrauen konnte. Wie hatte ich glauben können, sie würde mich nicht lieben.
Wieder fressen mich meine Vorwürfe und wieder könnte mich dafür selbst bestrafen aber damit muss ich endlich aufhören.
»Wie fühlst du dich ?«
Mum spricht leise. Als sie sich löst und auf der anderen Seite meines Bettes niederlässt sehe ich zum ersten Mal wie kaputt sie aussieht.
Ihre Haut ist fahl und sie scheint mir körperlich deutlich kantiger geworden sein. Es ist also, wie man es mir bereits gesagt hatte. Sie hat aufgehört zu essen.
Die vielen einseitigen Gespräche nun vor Augen geführt zu bekommen fühlt sich wie ein Schlag in die Magengrube an und unwillkürlich verspannt sich mein Körper.
Wie habe ich je so egoistisch denken können. Mein Gewissen plagt mich unermesslich und ich fühle mich so schlecht, als müsste ich mich gleich übergeben.
»Lora, was geht schon wieder in deinem Kopf vor?«
Das klingt unglaublich erschöpft und wieder erinnere ich mich an Ryans Worte, die er mir die letzten Tage zugeflüstert hat. Sie entsprechen der puren Wahrheit und sind real noch deutlich schlimmer.
Was habe ich nur getan ?
»Bitte rede mit uns.«
Mum beginnt abermals zu weinen und ich hasse den Trauer, der sich in ihren Augen spiegelt.
Sie hat das alles nicht verdient und ich habe ihre Aufmerksamkeit nicht verdient. Sie braucht eine Tochter, die ihren guten Willen wertschätzt und nicht eine, die sich voller Angst in die Arme ritzt.
Ich bin schrecklich aber so bin ich nunmal.
Ich kann nicht ändern, ihre Tochter zu sein und auch nicht, dass ich mehr Probleme im Leben habe, als keine.
Wir können nicht ändern, das wir als Familie funktionieren müssen.
Und vielleicht sollten wir auch nicht versuchen, das zu ändern.
»Ich hatte schon immer diese unglaubliche Angst. Sie kommt ganz plötzlich und dann frisst sie mich. Wenn sie kommt, dann schwirrt da diese schwarze Wolke über meinem Kopf und verfolgt mich und es ist egal was ich tue, ich kann sie nicht auflösen.
Die Wolke ist dunkel und böse. Sie verhöhnt mich, wenn ich vor ihr weglaufe, und sie jagt mich.
Sie lässt mich Dinge sehen, die nicht existieren und sie löscht Dinge, die nicht zu löschen sind.
Wenn ich nachmittags nach Hause komme dann wartet sie auf mich und kaum seid ihr nicht da, gehen mit euch alle Erinnerungen aus der Tür. Plötzlich sind keine Bilder mehr von uns in den Regalen und Dad deine Socken sind verschwunden und Mum deine Gummistiefel. Ich bleibe allein zurück und vor meinen Augen nimmt man mir, was ich liebe.
Ich wollte mich wehren, wollte euch nicht damit enttäuschen, dass ich Angst habe nicht mehr geliebt und allein gelassen zu werden.
Ich wollte euch nie einen Vorwurf machen, dass ich eure Nähe vermisst habe, denn ich wusste doch, dass ihr Gutes tut, wenn ihr mich verlasst. Ihr rettet Leben, wie sollte ich da je meinen Egoismus einquartieren ? Das ging doch nicht !«
Ich klinge verzweifelt. Genauso fühlt es sich auch an. Aber ich bin noch nicht fertig mit den Erzählen und ich muss all das Aufgestaute endlich loswerden um mich nicht mehr so beladen zu fühlen. Egal wie weh ich ihnen tue, sie müssen es wissen. Erfahren, was in mir vorging in den letzten Wochen.
»Ryan war eine hervorragende Füllung der Löcher, die ihr nicht ersetzt habt. Er war von Anfang an jemand, dem ich bedingungslos vertraut habe und der mir gefiel, dass ich unglaublich gerne in seiner Nähe war. Von jetzt auf gleich war er da und hat sich mit mir auch über die absurdesten Dinge unterhalten. Er ist mir unglaublich wichtig geworden, wichtiger als wichtig und umso trauriger war ich, als er sich von mir ferngehalten hat. Heute weiß ich wieso aber vor ein paar Wochen wusste ich es nicht und immer wenn ich geweint habe, lag das an ihm. Und plötzlich, war niemand mehr da, mit dem ich Nachmittags telefonieren konnte, wenn ihr weg wart. Keiner mehr da, der mit mir Bus fährt und mich zum Denken anregt, dass mir den Nachmittag gar nicht vor Augen kommt, dass ich alleine bin. Er war nicht da und damit war automatisch wieder öfter zuhause als mit Freunden weg.
Die letzten Wochen hat es sich gestaut. Die Wolke tauchte plötzlich täglich unheilvoll vor mir auf und ich habe einfach keinen Ausweg mehr aus meiner Panik gesehen. Sie fraß mich mit purem Höhn und bereitete mir Bauchschmerzen aber gleichzeitig wollte ich euch nie auch noch mit meinen Problemen belasten, wenn ihr abends so erschöpft nach Hause kamt.«
»Und dann hast du es versteckt und in dich hineingefressen.«, folgert Mum als würde sie endlich verstehen.
»Ja, aber das war nicht der einzige Grund. Immer wenn ihr da seid, geht es mir bestens. Es reichen Sekunden und die Wolke ist verschwunden. Deswegen konnte ich euch nie erklären was los ist, denn es war nichts los, wenn ihr da wart. Es reicht der Kontakt eines Menschen und mir geht es gut und deswegen klang in meinen Ohren alles noch bekloppter. Ich fühle mich wie eine Irre, eine Fremde aber ich bin nicht verrückt, das weiß ich.«
»Und wir wissen es auch.«
Dad greift nach meiner Hand und findet ein Lächeln in dieser Trauer.
Und ich weiß, dass diese Lächeln der Anfang ist.
Der Anfang von etwas Neuem.
Der Abschluss von Geheimnissen in unserer Familie und Anfang einer besseren Zeit in unserer Beziehung.
Und ich weiß, dass ich meine Angst so überwinden kann.
Sie wird gehen, wenn ich bereit dafür bin.
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