21«|| Was gestern, dass war und was heute, dass ist||
RYAN
Wie unwichtige Regentropfen fallen die Tage und schneller als gedacht neigt sich der Dezember dem Ende zu.
Stürmisch schneit sich die Welt vor meinen Augen zu und ich bedaure, dass Lora nicht eine einzige Schneeflocke von dem Sturm draußen zu sehen bekommt.
Womöglich trauert sie darum aber nicht halb so sehr, wie ich, denn im Gegensatz zu mir hält sie von den düsteren minus Graden rein gar nichts.
Seufzend wende ich mich von dem beschlagenen Wetter hinter dem Fenster ab und drehe meinen Blick in ihre Richtung.
Wie noch vor zwanzig Tagen liegt sie wie ein Engel im Bett und hat sich seit dem sechsten Dezember nicht ein einziges Mal gerührt.
Ich weiß, dass es ihr gut tut. Dieser tiefe Schlaf und diese unerträgliche Ruhe. Diese Zeit in der ihr Kopf sich keine Sorgen mehr zu machen hat und in der niemand etwas von ihr will. Wie erfahren, muss sie wohl auch die Pause ihrer Angst genießen und wie noch am ersten Tage bin ich geschockt, dass sie sich ihrer Angst wegen Schmerzen zugefügt hat.
Diese Tatsache macht aber nicht nur mich, sondern auch Grace und Jack ungeheuer fertig.
Seit Grace sich Zugang zu dem verschlossenen Bad ihrer Tochter verschaffen hat und ihr die blutige Klinge, die rote Flüssigkeit und Erbrochenes in der Toilette ins Auge fiel, isst sie nichts mehr und die Angst um ihre Tochter setzt sie so zu, dass sie wie eine wandelnde Leiche an ihrem Bett sitzt und trauert.
Ihre Augen haben jeglichen Glanz verloren und Grace wirkt viel verkommener und älter, als sie ist. Wir alle sind erschöpft von den ewigen Aufenthalten im Krankenhaus, aber keiner von uns will Lora in irgendeiner Sekunde alleine lassen. Die ganze Nacht und den ganzen Tag über sitzt jemand an ihrer Seite, meistens ich selbst.
Ich lerne für die Schule, während ich auf sie aufpasse, sehe sie stundenlang an oder schreibe mein Tagebuch über sie.
Teile meine Gedanken laut, werfe sie in den Raum und erkläre immer und immer wieder wie aufgekratzt sich meine Gefühle verhalten.
Aber nicht nur ich schenke ihr meine Aufmerksamkeit.
Nein, die ganze Stadt trauert und ehrt Lora für das, was sie getan hat.
Sie hat Herrn Girlson und seinem Enkel Juan das Leben gerettet.
Beide haben ihretwegen überlebt und das lässt sie nun im Rampenlicht stehen.
Die Medien berichten von dem Vorfall, von ihrer Tat, und auch wenn ich glaube, dass sie selbst nie beabsichtigt hatte später dafür gelobt zu werden, ist es eine menschliche Erweisung.
Ihretwegen wurde auch der Winterball geschmissen. Niemand von den Veranstaltern wollte länger feiern, während eine Mitschülerin im Krankenhaus gerade womöglich ihre Leben für das anderer ließ.
Eine gewichtige Stimme hatte in dieser Absage natürlich Stina, aber niemand hat sich gegen diese Entscheidung aufgeregt.
Weihnachten verlief für mich dieses Jahr auch ganz anders. Aber wir waren zusammen, dass kann man nicht anders behaupten.
Eingeengt saßen Ethan, Jack und ich auf der Couch in Loras Krankenzimmer, während Mum und Grace sich die Stühle gesichert hatten.
Die Stimmung war beengend und so wollte wohl dieses Jahr niemand feiern, aber die Gemeinschaft war es auch, dass wir am Ende alle zu lächeln hatten und das beste aus allem gemacht haben.
Es gab Geschenke, Zimtsterne und Glühwein und heute liegen nur noch Loras Geschenke trübselig auf dem Boden gestapelt.
Ich bin dankbar für Ethan und Mum, die sich ohne Frage an Weihnachten mit mir ins Krankenhaus gesetzt haben und einem fremden Mädchen ihre Aufmerksamkeit gewidmet haben.
Grace und Mum verstanden sich gleich und auch Jack und Ethan begannen locker über Football zu plaudern. Es war alles normal.
Vielleicht nicht ganz normal, aber so normal, wie es eben ging.
»Ich hoffe du weißt, was du verpasst, Lollipop.«
Wie schon so oft setze ich mich an ihre Bettseite und greife nach ihrer kühlen Hand.
Seit Wochen warte ich auf Lebenszeichen, auf ein anderes Geräusch als dieses nervende Piepen, auf flatternde Augen oder feuchte Lippen. Irgendetwas anderes als Totenstille.
»In fünf Tagen hast du den gesamten Dezember verschlafen.
All die Schneeflocken und die Weihnachtsdekoration, den Weihnachtsmarkt und deine Geschenke. Der Arzt sagt, dass du mittlerweile stabil bist. Deine Verbrennungen sind gut dabei zu verheilen, deine Brüche werden wieder ganz und auch deine Blauenflecken hat deine so weiße Haut verschlungen. Und ich weiß du brauchst diese Ruhe, diesen Frieden. Du hast so viel durchgemacht, so sehr gelitten auch unter mir. Wenn ich es könnte, dann würde ich die Zeit zurückdrehen bis da hin, wo ich noch die Möglichkeit dazu hätte dich zu umarmen und zu küssen.
Ich hoffe du weißt, dass ich dich, wenn ich das alles hier gewusst hätte, nie losgelassen hätte.
Wie sagt man immer: Was gestern, dass war und was heute, dass ist.
Ich kann dir sagen, heute lasse ich dich auch nie wieder gehen. Von heute bis zum letzten Morgen.«
Ihre geschlossenen Lider lassen mich abermals seufzen und mit brennenden Augen wende ich mich ab.
»Weißt du eigentlich, wie weh das tut ? Dich so zu sehen, so friedlich und still. Als hättest du deinen Seelenfrieden ohne mich gefunden und bräuchtest mich gar nicht.
Ich weiß, du musst dich ausruhen. Du bist ein Held und Helden brauchen auch mal eine Auszeit.
Aber so egoistisch wie wir Menschen sind, vermisse ich dich.
Auch, wenn es dir dort wo du gerade bist womöglich besser geht als hier bei mir. Ich hätte nie damit gerechnet einmal so viel Angst um dich zu haben, wie jetzt.
Und diese Angst ist nicht einmal das schlimmste, nein, schmerzvoller ist dieses Blut an deinen Armen. Ich hätte nie gedacht, dass du nur noch diesen einen Ausweg findest.
Du bist wirklich etwas besonderes, Lolli, das hätte ich dir schon damals sagen sollen.
Ich war dumm, bitte verzeih mir das. Es wird nicht das letzte Mal sein, aber Vergeben und Vergessen gehören zum Leben und ich hoffe du siehst Fehler ähnlich wie ich.
Als Schicksal.
Oh, es ist nicht zu erklären, wie sehr ich dich vermisse. Dein Lachen, deine schlechten Witze, deine Stimme. In einen Raum zu reden, in dessen Akustik nur deine Stimme widerhallt, ist unglaublich eintönig und komisch.
Aber was noch viel komischer ist, das Gefühl nicht zu wissen, ob du mich überhaupt hörst.
Hast du gehört, dass ich dich liebe und das ich dich nie wieder stehen lassen werde ? Spürst du, dass ich deine Hand halte und das ich immer erschaudere, weil sie so kalt ist ?
Weißt du, dass ich jeden Tag hier bin und das deine Mum sich zuhause tödliche Sorgen macht, seitdem sie von allem weiß ?«
Die Tatsache, dass sie tatsächlich nichts von diesen zwanzig Tagen mitbekommen haben könnte, setzt mich für Sekunden zu.
Sie hätte wirklich jede Sekunde verpasst und ich würde vollkommen sinnlos hier sitzen und mit ihr reden.
»Entschuldige.«
Es ist wie eine Kettenreaktion, wie ein Kurzschluss in meinem Gehirn.
Auch wenn es nie sicher ist, ob Menschen dich im Koma reden hören und ich es hätte wissen müssen, überfordern mich die Gedanken für den Moment unglaublich und als ihr regloser Körper mir ins Auge sticht und das Piepen immer schneller fiept, renne ich überfordert einfach nach draußen.
Hinaus in den Flur, geradewegs an Dr. Trevor und Jack vorbei, die Treppen hinab und aus dem Gebäude raus in den Schneesturm.
Der späte Nachmittag hat sich von Dunkelheit verschlingen lassen und es ignorierend, laufe ich mitten durch den aufwirbelnden Schnee, durch die Kälte.
Die Stadt wirkt, wie so oft die letzten Tage, wie ausgestorben, Schaukeln des nahen Spielplatz quietschen im Wind und die Straßenlaternen werfen nur auf meinen Körper einen Schatten, ansonsten brennen nicht einmal Lichtern in den Häusern an denen ich vorbei laufe.
Autos schneien zu und der eisartige Schnee glättet, wie auch an jenem Donnerstag, die Straße und jeden Bürgersteig.
Meine unterkühlte Nasse führt mich zur Strandpromenade und die Leute in den Restaurants ignorierend, wate ich mit aufgezogener Kapuze und den Händen in den Taschen, die Pier über dem Sand entlang.
Es raucht in meinen Ohren, das Meer rauscht in meinen Ohren, aber nichts hat mich je mehr beruhigt als dieser Klang und diese Kälte.
Es war dumm von mir zu gehen. Wegzulaufen, wo der Herzmesser gerade anfing wie wild zu Piepen.
Aber Dr. Trevor war wie jeden Tag um diese Uhrzeit für seine Untersuchungen auf dem Weg zu Lora und auch Jack, hätte mir nun Gesellschaft geleistet, dass was auch immer es war, nicht unentdeckt bleiben würde. Sie würden sich um Lora kümmern, womöglich etwas feststellen, an das ich gar nicht denken möchte und was auch immer es ist, es macht mir so große Angst, dass ich zu rennen beginne.
Vielleicht verliere ich Lora heute.
Vielleicht waren das ihre letzten Herzschläge und nun ist Ruhe.
Vielleicht träumt sie gerade nicht mehr gut oder hat wieder Angst.
Es tut mir leid, dass ich nicht mehr da bin, nicht wie versprochen ihre Hand halte.
Aber das Weinen laugt auch meine Seele aus und zieht an meinen Kräften, dass mich jeglicher Verlust unglaublich verletzen würde.
Lora zu verlieren, ist wirklich meine größte und schmerzvollste Angst und mit etwas Pech, besiegt sie mich heute ohne Frage.
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