1«||Brennende Blicke||
»Guten Morgen, Mr. Gilson!«, begrüße ich den Busfahrer, der mich jeden Donnerstag zur Schule bringt.
»Hallo, Lora.«
Freundlich lächelnd lässt mich der alternde Herr einsteigen und die Doppeltür hinter mir wieder schließen.
»Wie geht es Ihnen?«, frage ich gut gelaunt und stelle mich neben ihn an das Lenkrad um zu plaudern, während er weiterfährt.
»Gut, deine Muffins von letzter Woche waren ein Traum. Magarete und ich haben uns sehr gefreut.«
Er lächelt sein gewohntes Busfahrerlächeln, das ich schon in und auswendig kenne, und fährt mit schwachem Tempo um die nächste Kurve.
»Das freut mich, bitte richten Sie ihr meine Grüße aus.«
»Das werde ich«, verspricht der Herr mit den weißen Haaren und mit einem letzten Lächeln wende ich mich ab, um mich hinzusetzen.
Ich habe die freie Auswahl.
Niemand sonst fährt mit diesem Bus.
Ich könnte auf den Einzelplatz ganz vorne oder in einen der Viersitzer, in die fünfer Reihe ganz hinten oder einfach in den Zweier an der Tür.
Dort sitze ich am liebsten. Nahe der Tür, mittig und mit gutem Blick aus den Fenstern.
Gut gelaunt zücke ich mein Handy und setze meine Kopfhörer auf.
Das Gefühl von Musik geleitet durch die Welt zu fahren beruhigt mich und ich liebe es, wenn die Scheiben von meinem Atem beschlagen und ich Gesichter malen kann, um die halbe Stunde Fahrzeit irgendwie herum zu bekommen.
Es ist schon komisch morgens alleine hier zu sitzen. Wie in einem Geisterbus in die Hölle.
Ich wünschte manchmal, es wäre anders. Ich säße hier gerne mit einer zweiten Seele und würde plaudern oder lachen oder einfach die angenehme Stille genießen wollen.
Aber eine zweite Seele sitzt nur neben mir, wenn ich die Augen schließe und vor mich hin fantasiere.
Sie hat blaue Augen und trägt ein Hard-Rock T-Shirt aus Chicago.
Sie ist männlich und lustig und gleicht einem Teddybären.
Ich mag die zweite Seele und was sie tut, wenn ich meine Augen schließe und sie neben mich lasse.
Dann bin ich nicht alleine.
Dann bin ich nicht mehr so einsam und ich fühle mich auch nicht mehr eingesperrt in einem Käfig der dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr geschlossen ist.
Mit der zweiten Seele fühle ich mich frei und vielleicht ein kleines Bisschen zu wohl.
Aber niemand weiß von ihr, daher kann ich in meiner Fantasie spinnen, wie ich will.
Niemand sonst -
Erschrocken reiße ich meine Augen auf, als der Bus mit einer ruckartigen Bremsung stehen bleibt und resigniert bekomme ich im Unterbewusstsein mit, wie die Türen beim Fahrer vorne aufspringen.
Was ist denn jetzt los?
Angespannt und noch immer erschrocken sehe ich nach vorne und traue meinen Augen kaum, als ein junger Mann den Bus betritt.
Seine Hose ist an den Knien zerrissen und eine graue Kapuze versteckt das halbe Gesicht des muskulösen Fremden.
Seine Hände sind vergraben in einer Jeansjacke und mit einem emotionslosen Blick sieht er zu Mr. Gilson.
Ich kann nicht hören über was die beiden reden, aber es dauert auch nicht lange und der Fremde wendet sich zum Gehen.
Sein Blick ist gesenkt, während er näher tritt und ich kann sein Gesicht in der beschatteten Dunkelheit nicht erkennen.
Beinahe fasziniert beobachte ich wie er durch den Gang läuft und sich in einem der Viersitzer direkt vor meine Nase setzt.
Entspannt lehnt er sich in seinen Sitz zurück und starrt zugleich aus dem Fenster, während der Bus weiterfährt als sei gerade nicht ein kleines Wunder geschehen.
Nur ich scheine es zu bemerken.
Nur ich bin wie erstarrt über diese dritte Person, die mir seit sechzehn Jahren nie über den Weg gelaufen ist.
Er war noch nie hier im Bus.
Warum also heute?
Warum fährt plötzlich jemand mit diesem Bus?
Noch nie ist es zu einer Ausnahme gekommen. Noch nie saß jemand mit mir in diesem Bus.
Das hier ist eine Premiere und dementsprechend muss ich auch aussehen.
Starrend sehe ich den Fremden an und sauge jedes Detail seines Körpers in mich auf.
Muskatbraune Haarsträhnen sprießen unter seiner Kapuze hervor und sein breitgebauter, stämmiger Körper wird von einem grauen Pullover bedeckt, dessen Aufschrift auf der Brust ich nicht lesen kann.
Seine Jeans sitzt locker und seine Knie, sind die einzigen Körperstellen die zeigen wie gebräunt sein Körper sein muss.
Unglaublich.
Die Tatsache, dass hier ein wahrhaftiger Mann meinen Alters im Bus sitzt, lässt mein Herz wild pochen und aufgeregt wippen meine Füße vor sich hin.
Ich bin neugierig.
Neugierig, wer sich hier in dieses Gefährt gewagt hat und warum dem so ist.
Ist er neu hergezogen?
Wo wohnt er denn?
Geht er auf meine Schule oder auf eine andere?
Geht er überhaupt noch zur Schule?
Fragen häufen sich in meinem Kopf und ich muss mich schon wundern, was für Probleme mein Kopf mit diesem Zusatz hat. Es scheint ihm gar nicht zu passen, dass ein Fremder plötzlich einen meiner freien Sitze besetzt, obwohl ich mir genau das immer gewünscht habe.
Verwirrt schüttle ich meinen Kopf und zücke mein Smartphone aus der Hosentasche um das Lied zu wechseln.
Vielleicht liegt es am Schlagzeug und dem eher hitzigen Part des Songs, dass ich plötzlich so aufgekratzt bin.
Bon Jovi sollte ich fürs Erste aus meiner Playlist streichen.
Eilig drücke ich auf den rechten Pfeil und das Lied wechselt.
Erleichtert atme aus.
Ein ruhiges Lied.
Das sollte mein Herz herunterfahren und meinen Kopf die Fragen löschen lassen, die sowieso viel zu unnötig sind.
Was geht mich dieser Fremde überhaupt an?
Er ist halt da, mehr nicht.
Ich schaue wieder aus dem Fenster.
Die Augen zu schließen und zu träumen scheint mir unangebracht und ich rede mir ein, dass ich sowieso nicht müde bin um jetzt schlafen zu können.
Der einzige Grund allerdings meine Augen offen zu halten, ist, dass ich ihn dann aus dem Augenwinkel beobachten und mir Details merken kann, um ihn nicht zu vergessen.
Kaum sehe ich allerdings aus dem Fenster und versuche mich fokussierend auf die Umgebung draußen zu konzentrieren, finde ich meine Aussicht langweilig und trotz eines inneren Kampfes verliere ich gegen meinen Kopf und schaue zurück.
Direkt in zwei schwarze Augen, die mich durchdringlicher mustern, als je etwas sonst.
Luftanhaltend starre ich ihn an und kann förmlich spüren wie sich das pumpende Blut in mir zu Eis verwandelt. Es rührt sich nichts mehr in mir und meine Augen sind zu gefangen, um mich irgendwie abwenden zu können.
Der Fremde starrt mich an.
Intensiv, impulsiv und doch so verschlossen, dass ich nicht weiß, was ich davon halten soll.
Es ist, als würde mir schwindelig werden, als würde Feuer in mir auflodern aber es nicht schaffen, meine eisige Starre zu lösen.
Wie von metallenen Ketten umringt, hält mich sein Blick gefangen und keiner von uns beiden scheint gewillt, sich abzuwenden.
Ich kann einfach nicht.
Selbst wenn ich es wollen würde, könnte ich es nicht.
Mein Wille lässt sich nicht kontrollieren und ich glaube kurzzeitig nicht mehr Herr meines Körpers zu sein.
Was ich empfinde, was für kühle Schauer mich durchfahren, ich kann nichts gegen sie tun.
Eine Gänsehaut übergießt meinen Körper und erst nach Minuten schaffe ich es endlich wegzusehen.
Mein Herz beginnt wieder taktvoll zu schlagen und mit verbissenen Zähnen sehe ich gezwungenermaßen aus dem Fenster, um seinem Blick zu entkommen.
Hier muss etwas gewaltig falsch laufen.
Bin ich völlig übergeschnappt oder ist der Typ wirklich kein Traum?
Vergewissernd sehe ich nach rechts.
Er sitzt immer noch da und immer noch liegen seine Augen auf mir.
Hitze schießt durch meinen Körper und ich kneife mir einmal selbst in die Hand, um sicher sagen zu können, dass ich nicht träume.
Es zwickt und meine Hand wird augenblicklich rot an der gekniffenen Stelle. Ich bin also wach.
Das hier ist kein Traum und die beinahe schwarzen Augen starren mich tatsächlich an.
Mir wird unwohl.
Was guckt er denn so?
Habe ich etwas im Gesicht?
Hat er sich wieder abgewendet?
Ein Blick und meine Frage wird verneint.
Nein, er schaut immer noch zu mir und sieht mich unverwandt, schamlos und als würde er es selbst nicht bemerken, an.
Hat er noch nie etwas von Privatsphäre gehört?, frage ich mich und starre auf meine Beine.
Es ist unhöflich jemanden so anzusehen, noch dazu wird mir unter seinem Blick so komisch, dass ich gewillt bin ihn anzumaulen endlich wieder aus dem Fenster zu sehen.
Was in mir passiert ist nicht normal und ich bin beinahe dankbar, als der Bus das Ortsschild passiert und ich seinem Blick nur noch zehn Minuten stand halten muss.
Zehn Minuten leben, mit diesem überschlagenden Herzen und der feurigen Haut, die mir Schweißperlen auf die Stirn malt.
Mir ist ungemein warm.
Den letzten Rest der Busfahrt versuche ich ihn zu ignorieren.
Er scheint das Wort Privatsphäre nämlich nicht zu kennen und schweifen meine Augen in seine Richtung, so sehen sie in schwarze Sterne.
Da mich dieser Blickkontakt allerdings unwohl und nervös macht, traue ich mich nicht ihn anzusprechen oder mit meinem Blick abzuschrecken.
Gerade traue ich mich gar nichts und ich sehe auch keinen Sinn ihn zu einer Diskussion aufzufordern.
Ich würde sowieso verlieren, denn so selbstsicher und arrogant wie er scheint, wird er vermutlich auch sein.
Und dann liege ich in einem treffendem Nachteil. Worte sind nämlich nicht gerade meine Stärke und einem Fremden zu kontern, der mich so nervös macht, scheint mir unmöglich.
Ich warte also einfach und werde zu meinem Glück sogar schon fünf Minuten früher erlöst, als der Bus am Billberry- Gymnasium hält und dem großen Jungen die Tür öffnet.
Gemächlich tritt er aus dem Bus und ich kann nicht anders, als ihm sprachlos nachzusehen.
Wer bitte versteckt sich unter dieser Kapuze ?
Wessen Blick hat mich heute so aus dem Konzept gebracht ?
Und warum, bitte, war das hier erst der Anfang ?
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