50. | Alles was ich habe (2/2)

Hermines POV 


Mein Herz setzte für einen kurzen Moment komplett aus und ich konnte nicht anders, als mich auf besagte Schachtel zu stürzen.

„Oh mein Gott, das... Draco, ich... wie... wie lautet denn der Code?", fragte ich völlig hibbelig, den Puls gefühlt bei 200, als ich an dem kleinen, vierstelligen Zahlenschloss herumnestelte. Draco, der die Ruhe selbst war, griff schmunzelnd nach meinen Händen und nahm sie behutsam in seine, um mich wieder etwas zu beruhigen, was jedoch absolut nicht möglich war. Viel zu gespannt war ich auf die vielen Erinnerungen, die mich erwarten würden und die ich zum Teil bereits am Vorabend in seinen Rückblicken hatte sehen dürfen.

„1991", antwortete er völlig gelassen und mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht, mit dem er sich - die Arme hinter dem Kopf verschränkend - wieder in die Kissen sinken ließ.

„1991?"

Er schmunzelte. „Der 1. September 91. 1.9.91."

„Unser erster Schultag in Hogwarts?", hakte ich unsicher nach, was sein Lächeln wieder sanfter und liebevoller werden ließ.

„Ja, das... war der Tag, an dem ich dir das erste Mal begegnet bin."

Mein Herz schmolz dahin, als diese Worte seine Lippen verließen und ich spürte, wie mir sofort eine kleine Menge an heißen Tränen in die Augen stieg, doch ich schluckte diese herunter und mahnte mich zu Beherrschung, da ich nicht schon wieder weinen wollte.

„Und an dem ich dir den Kopf verdreht hab, oder?", stichelte ich, um meine eigentlichen Emotionen zu überspielen, doch meine zitternde Stimme ließ mich nicht so selbstbewusst wirken, wie ich erhofft hatte. Was offenbar auch Draco nicht entging, denn er lachte leise auf, stieg jedoch in meine Neckerei mit ein, indem er mir breit grinsend zuzwinkerte und mir einen theatralischen Luftkuss zuwarf, was mir ebenfalls ein Lachen entlockte.

„Mach sie auf.", wurde er wieder ernst, seine schimmernden Augen auf meine gerichtet, und legte erneut eine Hand auf meinen Rücken, über den er zärtlich streichelte.

Ich atmete noch einmal tief durch, nickte anschließend mit dem Kopf und drehte letztlich an dem kleinen Zahlenschloss, um besagten Code einzugeben und die Box zu öffnen. Mein Herz schlug dabei so laut, dass ich lediglich mein eigenes Blut in den Ohren rauschen hören konnte und alles andere komplett ausblendete.

Das Erste, das ich zu sehen bekam, war die Verpackung des Schokofrosches, den ich ihm - wie ich inzwischen ja wusste - damals im ersten Schuljahr zu Weihnachten geschenkt hatte.

Meine Lippen formten sich unwillkürlich zu einem bedrückten, fast schon wehmütigen Lächeln, als ich sie in die Hand nahm und neben mir ablegte, um auch die anderen Schätze zu begutachten. Direkt darunter befanden sich nämlich alte Pergamente und leicht zerknitterte Bilder, die ich mir sofort schnappte, da ich schon gestern Abend in seinen Erinnerungen unbedingt hatte wissen wollen, worum genau es sich hierbei handelte.

Dabei entdeckte ich auch den kleinen, herzförmigen Stein, den ich nach oben hielt und ebenfalls genauestens beäugte. Jedoch nicht lange, da ich spürte, dass langsam aber sicher Tränen in mir aufstiegen, die einen schimmernden Film über meine Augen legten und mir die Sicht zu nehmen drohten.

Ich legte die Verpackung des Schokofrosches und den kleinen Stein zurück in die kleine Kiste, stellte diese zur Seite und kuschelte mich - mit den Pergamenten und Bildern in der Hand - an Dracos Brust, da ich diese besonderen Erinnerungen mit ihm gemeinsam ansehen wollte.

Er nahm es schmunzelnd zur Kenntnis, legte einen Arm um mich und zog mich so fest wie möglich an sich heran, mir einen sanften Kuss auf die Stirn hauchend. Ein Blick in seine Augen verriet mir, dass er in diesem Moment ebenfalls stark mit seinen Emotionen zu kämpfen hatte, denn diese glänzten verdächtig und wiesen einen leichten Schimmer auf.

Dieser Anblick versetzte mir einen Stich ins Herz, da ich den Schmerz, der sich in diesem Augenblick durch seinen Körper fraß, regelrecht sehen konnte, weshalb ich mich etwas in seinen Armen aufrappelte, um ihm einen liebevollen Kuss zu geben.

Seine Gesichtszüge wurden daraufhin weicher und sanfter, was mich wieder beruhigte, denn ich konnte es inzwischen absolut nicht mehr ertragen ihn leiden oder traurig zu sehen.

Ich kuschelte mich wieder richtig bei ihm ein und legte meinen Kopf auf seiner Brust ab, um mich nun den Pergamenten zu widmen, die ich der Reihe nach durchblätterte.

Diese waren - wie sich dann herausstellte - keine normalen Pergamente, sondern Briefe, die jeweils mit 'Dein kleiner Bücherwurm' unterzeichnet waren und allesamt mit 'Hallo mein kleiner Drache' begannen.

Letzteres ließ mich verwirrt das Gesicht verziehen, mir jedoch gleichzeitig das Blut in den Kopf schießen.

„Mein kleiner Drache?", murmelte ich und sah unsicher zu Draco, der meine Worte mit einem breiten Grinsen quittierte und sich sichtlich zusammenreißen musste, aufgrund meiner Reaktion und meines hochroten Gesichts nicht loszulachen, doch er verkniff es sich und nickte stattdessen langsam mit dem Kopf.

„Das war dein Spitzname für mich."

„Oh Gott." Ich lachte leise auf und vergrub peinlich berührt mein Gesicht in den Händen, doch Draco nahm diese sofort in seine und löste sie wieder von meinen Augen, sodass ich gezwungen war, ihn wieder anzusehen.

„Schäm dich nicht dafür, Süße. Wir waren Kinder."

Ich nickte und formte meine Lippen letztlich zu einem liebevollen Lächeln, mit dem ich freudestrahlend zu ihm aufsah.

„Und du warst total verknallt in mich, da ist sowas doch normal.", fügte er nach einer kurzen Pause schelmisch grinsend hinzu, worauf ich ihm sofort empört aufatmend einen Klaps auf die Brust verpasste, der ihn spöttisch auflachen ließ.

„Ach komm schon, diese Briefe lassen dich das noch nicht mal abstreiten."

Meine Wangen nahmen nach diesen Worten einen noch dunkleren Rotton an, doch nicht, weil es mir unangenehm war, sondern weil ich ihm bedauerlicherweise recht geben musste, denn besagte Briefe ähnelten tatsächlich kitschigen Liebesbriefen. Von den kleinen Herzchen, die ich an die Ränder der Pergamente gemalt hatte, ganz zu schweigen.

„Denk dir nichts, ich war mindestens genauso verknallt wie du.", säuselte er, worauf ich süßlich schmunzelte.

Seine weichen Lippen berührten meinen Hals und hinterließen eine heiße Spur auf meiner Haut, was ein leichtes Kribbeln in meinem Inneren verursachte, während ich angestrengt versuchte, aufgrund seiner Geste nicht schon wieder komplett den Verstand zu verlieren. Was er zu bemerken schien. 

Er schmunzelte und löste sich so weit von mir, dass er mir in die Augen sehen konnte, überbrückte jedoch schon wenig später erneut die Distanz zwischen uns, indem er sich zu mir herunterbeugte und mich küsste.

Ich machte es mir anschließend wieder richtig neben ihm bequem und kuschelte mich ganz fest an meinen Draco, um auch noch die restlichen Erinnerungen zu begutachten.

Besonders gespannt war ich auf die Bilder, da ich keine Ahnung hatte, was mich erwarten würde, sodass ich mich nun dem kleinen Stapel widmete und die Pergamente zurück in die Schachtel legte. Die ersten beiden Fotos kannte ich jedoch bereits, da das jene waren, die ich gestern Abend in seinen Erinnerungen zu sehen bekommen hatte, weshalb ich diese ebenfalls beiseite legte.

Und was ich dann zu sehen bekam, ließ mein Herz auf ein Tausendfaches anschwellen.

Es waren etwa 20 Bilder, alle mit meiner alten Sofortbildkamera aufgenommen, auf denen entweder Draco, ich oder wir beide abgebildet waren. Ich nahm jedes genauestens unter die Lupe und musste mir eingestehen, dass das mit Abstand die süßesten Fotos waren, die ich jemals gesehen hatte.

Je länger ich diese betrachtete, desto stärker musste ich mich zusammenreißen, nicht in Tränen auszubrechen. Draco und ich wirkten auf jedem einzelnen nämlich überglücklich und sorglos, was mir, wenn man daran dachte, was nur ein paar Wochen später passiert war, einen äußerst schmerzhaften Stich ins Herz versetzte.

„Das hier ist mein Lieblingsbild von dir.", drang Dracos sanfte Stimme an mein Ohr, die mich augenblicklich wieder aufhorchen ließ und mich ins Hier und Jetzt zurückschickte. Er strich mit seinem Daumen über ein kleines, zerknittertes Bild, auf dem lediglich ich zu sehen war und auf dem ich derartig herzlich und befreit lachte, dass ich nicht anders konnte, als zu schmunzeln.

„An dem Tag waren wir in dem kleinen Gang und haben die ganze Zeit herumgealbert. Wir haben Süßes gegessen und... Bilder gemacht und... und gelacht... und..." Er hielt einen Moment inne, in dem er einmal tief durchatmete. „Ich war einfach nur glücklich.", seufzte er bedrückt und äußerst leise, den Blick unentwegt auf besagtes Foto gerichtet, und der Moment, in dem sich eine einzelne Träne aus seinem Augenwinkel löste, war gleichzeitig der Moment, in dem auch ich mich nicht mehr länger zurückhalten konnte.

Ich klammerte mich so fest wie nur möglich an meinen Draco, beobachtete mit Tränen in den Augen, wie er einen Kuss auf das Foto hauchte und es schließlich beiseitelegte, um mich wieder richtig in seine Arme zu schließen.

Wir kuschelten unter dem wunderschönen Sternenzelt und schenkten einander - wie so oft in den letzten Tagen - diese Nähe und Liebe, die wir wie nichts auf der Welt brauchten und die Balsam für unsere Seelen waren. Dabei lauschte ich abermals seinem Herzschlag, der zwar etwas zu schnell, gleichzeitig aber unglaublich beruhigend war, und mich in Gedanken versinken ließ.

Nicht sonderlich schöne oder fröhliche Gedanken, sondern eher das genaue Gegenteil, denn ich hatte mir seit gestern Abend immer wieder dieselbe Frage gestellt. Eine Frage, vor dessen Antwort ich unheimlich Angst hatte, denn diese könnte alles verändern. Ob zum Positiven oder zum Negativen wusste ich noch nicht so genau, doch ihm diese überhaupt erst zu stellen kostete mich schon all meinen Mut.

„Draco?", begann ich vorsichtig und löste mich so weit von ihm, dass ich zu ihm aufblicken und ihm in die Augen sehen konnte, die inzwischen wieder getrocknet waren und mich liebevoll musterten.

„Ja?"

Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und sortierte weitestgehend das Gedankenchaos in meinem Kopf, ehe ich ein letztes Mal tief durchatmete und schließlich über meinen Schatten sprang.

„Kennst du... also... Gibt es eigentlich... einen Zauberspruch, der... also... einen Gegenzauber für... für den Obliviate-Zauber?"

Einige Sekunden, die mir wie mehrere, qualvolle Stunden vorkamen, war es totenstill und es war, als wäre die Welt für einen Moment komplett stehengeblieben. Meine Hände wurden schlagartig eiskalt und mein Puls in unmessbare Höhen katapultiert, was ein immer lauter werdendes Rauschen in meinen Ohren verursachte.

Ich blickte ihm tief die Augen, auf der Suche nach einer - hoffentlich - positiven Antwort, doch seiner Reaktion nach zu urteilen würde diese ausbleiben.

Er presste seinen Kiefer zusammen und musste schwer schlucken, während er merklich angespannt versuchte, meinem Blick so gut wie möglich auszuweichen. Mein gesamter Körper verkrampfte sich, ich begann zu zittern, bekam nur noch schwer Luft und merkte, wie meine Sicht zunehmend verschwamm, bis ich in ein tiefes schwarzes Loch gezogen wurde.

Nämlich in dem Moment, in dem er mir schuldbewusst in die Augen sah, sich die Haare raufte und letztlich den Kopf schüttelte.

„Nein, es... gibt keinen Zauberspruch. Ich hab in den letzten Jahren sämtliche Bücher gewälzt und... alles Mögliche versucht, aber... es gibt keinen Spruch." Seine Stimme zitterte, wurde immer leiser und glich am Ende nur noch einem kleinen Windhauch, der jedoch stark genug war, um alles in mir zum Einsturz zu bringen.

Mir wurde schwarz vor Augen und es fühlte sich an, als würde sich alles in Zeitlupentempo abspielen. Als würde ich fallen. Endlos.

Ich klammerte mich krampfhaft an Draco, um wieder Halt zu bekommen und diesem Fall ein Ende zu setzen, und krallte mich in sein Hemd, in das ich bitterlich schluchzte. Sofort legten sich seine starken Arme um meinen Körper, mit denen er mich festhielt und an sich drückte, und womit er mir das Gefühl von Schutz und Sicherheit gab.

„Es tut mir leid.", wisperte er gegen meine Stirn, auf die er seine Lippen gelegt hatte, um mir mehrere, beruhigende Küsse darauf zu hauchen, was mir gleich den nächsten Stich ins Herz versetzte.

Ich wollte etwas erwidern, ihm sagen, dass ihm nichts, wirklich absolut nichts leidtun musste und er keine Schuld an meinem Gefühlsausbruch hatte, doch ich war derartig schwach und meine Kehle derartig trocken, dass ich keinen Mucks von mir geben konnte.

Es war nämlich weniger die Tatsache, dass ich mich nie wieder an unsere gemeinsame Zeit erinnern könnte, die mir so schwer zu schaffen machte, sondern viel mehr die Erkenntnis, dass ich auch meinen Eltern nie wieder ihre Erinnerungen zurückgeben könnte.

Was in meinen Augen noch viel schlimmer und schmerzhafter war, denn während ich mich lediglich nicht mehr an Dracos und meine Freundschaft erinnern konnte, wussten meine Eltern noch nicht einmal mehr von meiner Existenz. Wussten nicht mehr, dass sie eine Tochter hatten. Dass ich ihre Tochter war. Dass ich ihre kleine Hermine war, auf die sie immer so unfassbar stolz gewesen waren.

Doch sowohl Draco als auch ich hatten das aus einem bestimmten Grund getan. Wir hatten die Menschen, die wir liebten, beschützen wollen. Hatten sie in Sicherheit wissen und verhindern wollen, dass ihnen etwas zustoßen würde.

Und obwohl ich unglaublich erleichtert war, dass es meinen Eltern gut ging, sie am Leben waren und sich in Australien ihren größten Wunsch erfüllt hatten, würde das Loch, das ich seit ihrem Verlust in meinem Herzen hatte, nie wieder ganz verheilen.

Es würde immer dort bleiben und mich immer an den schwierigsten Tag meines Lebens erinnern. Der Tag, an dem ich sie verloren hatte. Für immer.

Davon wusste Draco allerdings nichts.

Er wusste nicht, dass ich keine Eltern mehr hatte. Wusste nicht, dass ich keine Familie mehr hatte. Dass ich kein Zuhause mehr hatte.

Da ich in diesem Moment jedoch keineswegs fähig war ihn darüber aufzuklären, geschweige denn auch nur einen Ton von mir zu geben, versuchte ich, mich weitestgehend wieder zu beruhigen, und kuschelte mich so fest wie nur möglich an meinen Schatz.

An das Einzige, das mir geblieben war.

Denn Draco war alles, was ich noch hatte. 



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