2. Sie

„Hi"
Das Mädchen, dass so ungefähr in meinem alter sein müsste hob den Kopf. Sie hatte unglaublich schöne braune Augen. Sie waren fast schwarz, doch durch den Lichteinfall konnte man sehen, dass sie die Farben von Zartbitterschokolade hatten. Was man aber nur sehen konnte wenn man peinlich lange in eben diese starrte, wie ich jetzt erst bemerkte. „Ist alles in Ordnung, Darling? Du bist ganz rot im Gesicht." „Oh ja, ähm,", ich räusperte mich. Verdammt, was machte ich hier? „Mir geht es gut, danke." Jede englisch Vokabel, die ich je gelernt hatte, war aus meinem Gehirn verschwunden. „Gott sei dank. Bei dem erste-Hilfe-Kurs in der Schule, hab ich nämlich geschlafen und ich hätte keine Ahnung gehabt, wie man dich wiederbelebt." Sie grinste mich schief an und auch ich musste lachen. Die ganze Situation war so absurd. Jetzt, wo wir die peinliche Phase übersprungen haben, fühlte ich mich viel entspannter. „ Wie heißt du, sweetie?", fragte das Mädchen, sprang vom Tisch und lehnte sich lässig mit verschränkten Armen daran. Sie war gut einen Kopf größer als ich. „Lilac. Wie heißt du?" „Freut mich dich kennenzulernen, Lilac. Ich bin Sierra. Von woher kommst du?" „Ich komm aus Frankreich. Ich habe einen Ferienjob bei meiner Tante angenommen." „Ah Frankreich. Ich hätte diesen Akzent erkennen müssen. Es klingt sehr sexy." Ich spürte wie sich meine Wangen rot färbten. „Oh äh danke" Ich grinste verlegen. „Du bist süß", lachte Sierra. „Wie gefällt dir London so?" „So viel hab ich noch nicht gesehen, aber das, was ich gesehen hab gefällt mir sehr gut. Die Straßenkünstler gefallen mir glaub ich am besten." „Hey, wenn du willst kann ich dich rumführen. Ich wohne hier seit meiner Kindheit und kenne jeden Winkel. Außerdem müsste mein Bruder hier eigentlich den Stand gleich übernehmen, heute ist er mit Arbeiten dran. Also kannst du froh sein mir und nicht ihm über den Weg gelaufen zu sein. Also was sagst du?" In dem Moment vibrierte mein Handy und ohne draufschauen zu müssen, wusste ich, dass es Leon war. Als wollte das Universum mich daran erinnern, dass ich einen festen Freund hatte. Aber ich ignorierte es und dankbar willigte ich ein. „Sehr cool. In 10 Minuten müsste Raph da sein um den Stand zu übernehmen. Dann können wir losgehen."

In den 10Minuten wo Sierra auf ihren Bruder wartete, sah ich mich noch eine Weile um, bevor ich mich auf die Stufen eines Hauses setzte um einen Straßenmagier zu zusehen. Es war ziemlich witzig. Sierra holte mich dann mit zwei riesigen Crêpes ab und wir machten uns auf den Weg durch London. Ich hatte sch0n bald die Orientierung verloren, aber Sierra wusste anscheinend genau wo sie hinwollte. Sie führte mich auf einen großen Platz. Der Trafalgar Square, wie mir Sierra erklärte. „Das davorne ist die National Gallery, mein persönlicher Lieblingsort hier. Ich interessiere mich sehr für Kunst, also wenn du mich mal suchen solltest, bin ich wahrscheinlich da.", meinte sie mit vollem Mund und zeigte mit dem Crêpe auf das riesige Gebäude. „Können wir mal kurz darüber reden, wie du deinen Crêpe isst?", fragte ich sie grinsend. „Also mal abgesehen davon, dass du komplett mit Schokolade beschmiert bist." „Das macht mich nur noch süßer und das weißt du auch". Sie wackelte mit den Augenbrauen, machte einen Kussmund und versuchte ihre verschmierten Finger an mir abzuschmieren. Quietschend wich ich aus. „Wag es ja nicht!", lachte ich. „Würde ich doch nie", antwortete Sierra, während sie sich ihre Finger ableckte. Ihre Haare hatten sich etwas gelöst und umrahmten in wilden Locken ihr Gesicht. Irgendwie süß, dachte ich und verworfen den Gedanken gleich wieder. Was war bloß mit mir los? Mein Handy vibrierte wieder. Diesmal schaute ich darauf. Zwei neue Nachrichten von Leon.

Hey, ma bébé
Schon wach?

Lilac? Ich weiß, dass du online warst!
Warum schreibst du mir nicht?

„Entschuldige Leon, aber du nervst gerade", murmelte ich, immer noch etwas sauer wegen dem gestrigen Abend. „Wer ist Leon?" „Mein Freund", seufzte ich. „Du klingst aber begeistert von ihm", lachte Sierra, aber irgendwas an ihrem lachen war nicht wirklich echt. „Ach er nervt in letzter Zeit ein bisschen." „Vielleicht vermisst er dich ja nur" Sie tätschelte meine Schulter. „Ja, vielleicht." „Egal. Lass dir jetzt nicht die Laune von ihm verderben. Ein paar Freunde von mir und ich haben vor morgen Abend mal wegzugehen. Hast du Lust mitzukommen? Vielleicht muntert dich das ein bisschen auf." „Also eigentlich muss ich übermorgen anfangen zu Arbeiten..." „Ach bitte, Lilac! Das wird auch ganz harmlos. Versprochen!" Sierra sah mich flehend an. Sie hatte den Dackelblick echt verdammt gut drauf. „Na gut. Ich komm mit", willigte ich ein. „Yeah. Das wird total cool. Meine Freunde sind echt die besten, du wirst sehen." Vor Begeisterung zerquetschte sie ihren halb aufgegessenen Crêpe in der Hand, sodass noch mehr Schokolade über ihre Finger lief. „Solange ich dich dann nie wieder Crêpe essen sehen muss.", lachte ich. Sie streckte mir nur die Zunge raus.

Sierra erwies sich als eine sehr gute Stadtführerin, als wir noch eine Weile durch London liefen. Wir besuchten die Tower Bridge, „Ein amerikanischer Millionär wollte sie kaufen, hatte sie aber mit der London Bridge verwechselt", dann gingen wir noch zum Big Ben und zum House of Parlament, „Ja, ich finde die ganzen Premierminister auch verwirrend" und natürlich noch zu Buckingham Palace „...die Queen, äh der König...". Außerdem gingen wir an unzähligen Bücherläden, Restaurants und natürlich West End vorbei und Sierra kannte zu fast allem irgendeine Geschichte. Sie war wirklich witzig und sie konnte reden wie ein Wasserfall. Ich hörte ihr zu und gab ab und zu mal einen Kommentar ab, der sie zum lachen brachte. So verbrachten wir unseren Tag. Unterwegs füllte mich Sierra mit lauter englischem Essen ab. Und im Gegensatz zu dem was meine Familie mir über englisches Essen gesagt hatte, schmeckte es sogar richtig gut. Als es dann schon spät wurde setzten wir uns mit einer Portion Fish 'n Chips an die Themse. Und natürlich fing es an zu regnen, aber Sierra war vorbereitet und holte einen riesigen bunten Regenschirm hervor, wo ich mich echt fragte wie der in ihre Tasche gepasst hatte. Zusammen kauerten wir uns unter den Schirm und aßen unsere Pommes. Sie mit und ich ohne Essig. Das wäre dann doch etwas zu viel des Guten.

„Wie alt bist du eigentlich", fragte ich Sierra. „Ich bin 19 geworden vor einer Woche. Und du?", antwortete sie mit vollem Mund. „Oh cool. Alles gute nachträglich. Ich bin 18, aber ich werde im November 19." Stille. Schweigend saßen wir nebeneinander und aßen. Es war aber kein unangenehmes Schweigen, wir genossen es einfach hier zu sitzen und dem Regen beim fallen zuzuhören, als er auf den Regenschirm tropfte. „Erzähl mal was von dir", unterbrach Sierra die Stille. „Ich hab jetzt schon die ganze Zeit geredet, jetzt bist du dran." „Ok...also ich hab eine ziemlich große Familie und wir führen ein Café. Meine Tante ist die einzige aus meiner Familie, die nicht in Frankreich wohnt...ähm...ich habe 4 große Geschwister, die auch schon wieder Kinder haben..." „Nein, das meinte ich nicht. Ich möchte was über dich wissen", unterbrach Sierra mich und schob sich eine Pommes in den Mund. „Du weißt schon. Musikgeschmack, Lieblingsessen und so weiter." Ich lachte verlegen „Achso. Ich höre am liebsten Taylor Swift, mein Lieblingslied von ihr ist ‚Paper Rings', mein Lieblingsessen ist Fondant au chocolat, obwohl das eher eine Nachspeise ist, mein Lieblingsfilm ist ‚10 Dinge die ich an dir hasse' und ich kann Gitarre spielen." „Den Film kenn ich gar nicht." Empört schnappte ich nach Luft. „Der beste Liebesfilm aller Zeiten. Schande über dich, wenn du den nicht kennst." Sierra hob entschuldigend die Hände. „Es tut mir überaus leid. Ich werde mich in die Ecke stellen und schämen." „Weißt du was? Anstatt dich zu schämen, könntest du ihn auch einfach mit mir zusammen gucken und damit deine Schuld begleichen", schlug ich vor. Sierras Augen leuchteten auf. „Auf jeden Fall machen wir das! Wir machen eine Filmnacht und dann können wir auch gleich meinen Lieblingsfilm hinterher gucken. Er heißt ‚Crush'" Begeistert gestikulierte sie wild mit einer Pommes in der Hand in der Luft. Grinsend schaute ich ihr zu. „Wir schreiben uns dann wann wir Zeit haben, okay?" „Ich hab deine Nummer nicht, Sierra", erinnerte ich sie daran. „Gib mir mal dein Handy" Ich gab ihr mein Handy. Sie gab es mir wieder. „Entsperrt, Lilac" Kichernd entsperrte ich mein Handy und gab es ihr zurück. Dann schaute ich zu, wie sie etwas planlos rumwischte und es mir dann wieder zurückgab. „Ich kann kein Französisch", grummelte sie frustriert. Lachend öffnete ich meine Kontakte, sodass sie ihre Nummer einspeichern konnte. Sie hatte ihren Namen mit einem <3 eingespeichert.

Nachdem sich das Wetter etwas beruhigt hatte, brachte Sierra mich Nachhause. Zu meinem Glück, denn ich hatte absolut keinen Orientierungssinn. Es war schon dunkel geworden, als sie mich bei meiner Tante absetzte. Bevor ich reinging drehte ich mich nochmal zu ihr um. Da es immer noch regnete standen wir eng zusammengepresst unter ihrem Schirm. „Hey, danke für die Führung. Du solltest dir echt überlegen das professionel zu machen." „Kein Thema. Mach ich doch gerne", antwortete sie, als sie auf mich hinabblickte. Wir standen wirklich sehr nah voreinander, aber berührten uns nicht. „Es ist schön jemanden hier zu kennen und nicht ganz so alleine zu sein." Sierra starrte mir direkt in meine Augen „Tja, freut mich, dass ich helfen konnte." Ich spürte, dass ich wieder rot wurde,was Sierra zum schmunzeln brachte. „Dann bis morgen" Verlegen strich ich mir eine Strähne hinters Ohr. „Bis morgen, love." Schnell drehte ich mich um, damit Sierra mein dämliches Grinsen, dass sich wegen diesem einen Wort in mein Gesicht schlich, nicht sehen konnte. Hastig kramte ich meine Schlüssel aus meiner Tasche und schloss die Tür auf. Es dauerte ein bisschen bis ich die Tür endlich aufhatte. Ich konnte Sierras unterdrücktes lachen hören. „Ich werd dann mal gehen. Hat spaß gemacht heute. Schreib mir, ja?" Und bevor ich noch was sagen konnte, war sie auch schon weg.

Ich fühlte mich irgendwie leicht vor Glücklichkeit. Das letzte mal hatte ich mich so gefühlt, als Leon und ich...oh scheiße Leon! Den hatte ich komplett vergessen. Ich hatte ihm den ganzen Tag nicht geschrieben, obwohl ich seine Nachrichten gelesen hatte. Mist. Schon fast panisch öffnete ich mein Handy und ging auf Snapchat um ihm zu antworten. Mittlerweile hatte er mir schon einige Nachrichten geschickt, die mit der Zeit immer wütender wurden.

Lilac? Du hast meine Nachrichten gelesen. Antworte mir doch mal

Hallo?! Ich weiß, das die Nachrichten ankommen. Antworte mir mal

Hör auf mich zu verarschen, Lilac. Antworte mir!!

Mit wem bist du unterwegs?! Antworte!!!

Hey, mon cheri
Es tut mir so leid, dass ich nicht geantwortet habe.
Ich habe eine Stadtführung bekommen, von einem Mädchen, das ich hier getroffen habe bekommen.
Da habe ich irgendwie keine Zeit gehabt an mein Handy zu gehen.
Es tut mir wirklich leid

Und da hattest du keine Zeit mal deinem festen Freund zu antworten oder was?
Außerdem wer sagt mir, dass du nicht mit jemand anders zusammen warst?

Wie bitte? Ich soll ihm fremdgegangen sein? Wie kommt er denn jetzt auf so eine scheiße? Er weiß ganz genau, dass ich sowas nie machen würde.

Das ist jetzt aber ein bisschen weit hergeholt, findest du nicht auch

Ganz ehrlich, Lilac. Nein, ist es nicht.

Schön, dass wir uns so vertrauen können, Leon

Du kannst mich mal

Und er hatte es schon wieder geschafft einen Tag zu verderben. Wenn ich ehrlich sein soll, hatten wir uns in letzter Zeit nur gestritten. deswegen war ich auch ganz froh darüber nach England zu kommen. Vielleicht würde es ja dann besser werden, oder auch eben nicht.

Meine Tante wartete oben auf mich. Sie saß in ihrem Schaukelsessel und häkelte. Eine bunte Wollschlange lag bis auf den Boden. „Bonsoir, Tante Elodie." „Oh Hallo, liebes. Wie war dein Tag?" Ich erzählte ihr von Sierra und der Stadtführung und sie freute sich, dass ich jemanden gefunden hatte. „Was hast du denn morgen vor?" „Sierra hat mich eingeladen morgen Abend mit ihr und ihren Freunden wegzugehen." „Und tagsüber?" „Keine Ahnung. Ausschlafen denk ich. Es war wirklich anstrengend durch halb London zu laufen." Das brachte meine Tante zum lachen. „Na dann, bonne nuit." „Bonne nuit, Tante Elodie."

Mir tat alles weh und noch nie war ein Bett bequemer gewesen. Ich suchte nach der Nummer von Sierra und schrieb sie an.

Hi
Hey, love

Danke nochmal wegen heute.
Es war wirklich schön gewesen.

Klar, gerne doch
Ich freu mich schon auf morgen

Es wird richtig toll werden. Du wirst sehen
Schlaf gut, träum was schönes

Du auch
Bonne nuit

Und diese Nacht schlief ich mit einem Lächeln auf den Lippen ein.

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