101. Ob Tod oder Leben
Loki
„Loki?" Wie ein leiser Windhauch, wehte diese bezaubernde Stimme zu mir herüber, schaffte es von alleine mir alle Sorgen zu nehmen, mich glücklich werden zu lassen und verschlafen öffnete ich meine Augen, nur um in ihre wunderschönen zu blicken. Funkelnder als jeder Smaragd leuchteten sie und obwohl sich so viel Freude in ihnen widerspiegelte, war da auch so viel Schmerz. Sie sah so aus, als würde sie in ihrem tiefsten Inneren fürchterlich leiden.
„Du wirkst so traurig, ist alles in Ordnung?", fragte Marcy jedoch mich lieblich, anstatt dass ich sie hätte fragen können, was los war, und irritiert fiel mir da wieder alles ein, was geschehen war. Der Krieg, das Gift, ihr Tod.
„Marcy...", hauchte ich irritiert, streckte meine Hand nach ihr aus, rechnete fest damit sie nicht berühren zu können und doch konnte ich ihre Hand in meine nehmen. Ihre Haut fühlte sich genauso weich an, wie ich es in Erinnerung hatte, lediglich ihre Temperatur war noch deutlich weiter unten, als gewöhnlich. Mein Blick musste sicher Bände sprechen, so verblüfft war ich von dem, was hier geschah, dass sie da war.
„Es ist ja alles gut", besänftigte sie mich und schenkte mir ein fröhliches Lächeln, während ich ihre linke Hand feste in meiner hielt, mich ein wenig mehr in meinem Bett aufrichtete und sie fassungslos ansah. War das hier Wirklichkeit? Ich konnte es nicht sagen, doch ich wollte so sehr, dass es die Wirklichkeit war. Es fühlte sich so echt an, so echt wie irgendwas sich nur anfühlen konnte.
„Wie kannst du das sagen? Ich glaube, ich verliere den Verstand", brachte ich verzweifelt hervor, doch wenn das hier nur eine Illusion sein sollte, dann wollte ich, dass es niemals aufhörte. Ich wollte niemals mehr von ihr getrennt werden müssen.
„Du verlierst nicht den Verstand", beruhigte sie mich und setzte sich ebenfalls aufrecht hin. Wie gebannt sah ich sie an, wollte meinen Blick nicht eine Sekunde von ihr nehmen, zu groß war die Sorge, dass sie verschwinden könnte, dass ich vergessen könnte, wie sie aussah, wie grün ihre Augen doch eigentlich waren, nur machte mir etwas anderes da Sorgen, als sie anfing nicht mehr so fröhlich zu wirken, die Sorge, die ich anfangs in ihren Augen erkannt hatte, die Oberhand gewann und sie anfing sich panisch umzusehen, als wäre da etwas, was ich nicht sehen konnte.
„Marcy? Was ist los?", fragte ich deswegen nach, hatte das Gefühl sie würde mir entgleiten... schon wieder. Sie durfte mir nicht wieder entgleiten, ich konnte das nicht noch einmal überleben.
„Ich habe Angst", gestand sie offen und Tränen bildeten sich in ihren Augen, während sie sich weiter umsah, verschreckt zusammenzuckte.
„Was ist los? Rede mit mir!", flehte ich sie an, als sie zu heulen anfing.
„Er... Sie... Es lässt mich nicht gehen... Loki... ich....", stammelte sie verschreckt und mit einem Schlag war es, als würde etwas sie von mir reißen. Ich versuchte sie zu halten, glaubte ihr Armband zu zerreißen bei meinem Griff, doch es war als wäre sie in Luft aufgelöst, als wäre sie nie da gewesen.
Panisch riss ich meine Augen auf, sah mich hektisch, völlig verschwitzt und irritiert in meinem leeren Zimmer um, doch hier war keine Marcy. Verwirrt sah ich an mir herunter, sah meine zerrissene, blutige Kleidung, dachte an den Kerker zurück und an meinen Traum.
„Marcy?", fragte ich leise in die Stille hinein, hatte das Gefühl die Welt wäre trist geworden, leblos, doch natürlich antwortete mir keiner. Sie war fort und sie würde nicht mehr wiederkommen. Ich hatte sie verloren. Das war nur ein Traum gewesen, die Wirklichkeit war eben düsterer, grausamer.
Verzweifelt raufte ich mir die Haare, als ich von meinem Bett aufstand, am liebsten irgendwas einfach nur kaputt gemacht hätte, als da jedoch etwas leise zu Boden fiel und ich meinen Blick auf das kleine, grün funkelnde Teil richtete, das zu Boden gegangen war. Langsam hob ich den kleinen Smaragd auf, der von meinem Bett gefallen war und der einer von vielen unzähligen war, der an Marcys Armband festhing, doch wie kam er hierher? Ich dachte an meinen Traum, dachte daran, wie ich sie versucht hatte festzuhalten, wie ich glaubte ihr Armband zerrissen zu haben, doch es war nur ein Traum gewesen, oder nicht?
„MARCY?", schrie ich laut nach ihr, war schon dabei zur Türe zu eilen, sie zu suchen, schließlich wollte ich einfach nur bei ihr sein, tot oder lebendig, ich wollte sie nicht alleine lassen, ich hatte ihr versprochen, sie nicht alleine zu lassen und das würde ich auch einhalten, doch da ging meine Türe auch schon auf und Thor kam herein. Er wirkte fertig, völlig erschöpft und als er mich wach da stehen sah, schien er fast nur noch trauriger und bekümmerter zu werden. Es war als wäre sein Gesichtsausdruck Beweis genug, als wäre er die Bestätigung dafür, dass es wahr war, dass das in den Kerkern passiert war und doch wollte ich es nicht glauben. Sie war doch gerade hier gewesen, oder nicht? Ich konnte immer noch die Panik in ihren Augen vor mir sehen, ihre Hand in meiner spüren, wie sie mir entglitt und dann war da dieser kleine Smaragd von ihrem Armband...
„Loki", sprach Thor mich mit einer seltsam kratzigen Stimme an, „Du solltest wieder ins Bett und dich ausruhen, du bist zu aufgewühlt und..."
„Ich ruhe mich nicht aus, ehe ich Marcy gesehen habe!", unterbrach ich ihn harsch und wollte an ihm vorbei aus dem Zimmer heraus, doch er ließ das nicht zu, versperrte mir den Weg.
„Loki, ich..."
„Ich weiß, dass sie nicht tot ist, Thor, ich weiß, dass sie lebt und ich muss zu ihr, bitte lass mich einfach nur zu ihr!", sagte ich aufgebracht, hatte keine Ahnung, woher ich mir diese ganze Hoffnung nahm, wie ich es zu lassen konnte so voller Hoffnung zu sein, doch ihren Tod zu akzeptieren war falsch. Es war falsch.
„Loki, du warst bei ihr, du warst da, du hast es gesehen", meinte Thor verbittert, wirkte so, als würde jedes meiner Worte ihn quälen.
„SIE.IST.NICHT.TOT!", zischte ich und hielt ihm demonstrativ den kleinen Smaragd vor die Nase, „Ich habe sie in meinem Traum gesehen, habe darin ihr Armband fast zerstört und als ich aufgewacht war, lag dieser Stein da und..."
„Loki, ich weiß es ist nicht leicht das zu akzeptieren, aber..."
„Du willst es nicht glauben!"
„Ich glaube das, was ich sehe! Ich habe sie gesehen und das nicht lebendig! Wie oft hat Marcy in diesem Bett gelegen? Sie trug immerzu dieses Armband und natürlich fliegt irgendwann ein Stein mal ab, doch das bedeutet gar nichts, Loki", schrie er mich nun an und raufte sich verzweifelt die Haare. Ich atmete zittrig von seinen Worten aus, wollte nicht wahrhaben müssen, wie viel realistischer seine Erklärung war, als meine eigene und doch wollte ich mich dieser lächerlichen Illusion hingeben dürfen, Hoffnung haben, wo es keine mehr gab. Sie konnte doch nicht weg sein.
„Thor, sie kann nicht...", hauchte ich nicht fähig den Satz zu beenden, wich seinem mitleidigen Blick aus.
„Ich kann dich zu ihr bringen, aber... es wird kein leichter Anblick werden, Loki", meinte er, doch ich wollte nur bei ihr sein dürfen, wollte sie sehen, wollte mich vergewissern, wie wahr das Unvorstellbare war, doch obwohl ich bei ihr gewesen war, als sie starb, so war es wie ein schlechter Traum gewesen, wie etwas, das durch einen Schleier hindurch geschehen war.
„Ich will sie sehen!"
Nervös und völlig angespannt folgte ich Thor durch die zerstörten Gänge des Palasts, in dem es so unangenehm still war, in dem es so wirkte, als würde kein Leben mehr herrschen, doch das änderte sich, als wir uns einer Flügeltüre näherten, die in einen alten Essenssaal führte, der seit Jahrhunderten nicht mehr genutzt worden war.
„Der Raum wurde etwas umgestaltet, er wird nun gerade gekühlt und dient als Aufbewahrungsraum für alle gefallenen Krieger, bis wir sie zum Sonnenaufgang bestatten können, als Zeichen dafür, dass die lange Naht vorbei ist und sie nicht gefangen in der Dunkelheit sein müssen", erklärte Thor mir, als wir an den ersten Trauernden und Heulenden vorbei liefen, direkt in den kalten Raum hinein, in dem hunderte von kleinen Sarg ähnelnden Booten aufgestellt worden waren und in denen die verschiedensten Leute lagen. Krieger, Diener, Kinder... ehe mein Blick auf ein etwas größeres Boot fiel und auf das ich augenblicklich zu eilte. Es war als wäre ich magisch von ihm angezogen, doch noch während alles in mir schrie anzuhalten, umzudrehen, lief ich weiter. Mir kamen Tränen während des Laufens hoch und als ich schließlich bei meinem Ziel ankam, glaubte ich geschockt kurz einen Moment ohnmächtig werden zu müssen bei dem Anblick vor mir. Thor wollte mich schon stützend halten, doch harsch schlug ich seine Hand weg, sah entsetzt zu Marcy und vor allem zu dem winzig kleinen Baby, das in einer Decke eingewickelt kaum zu erkennen auf ihrer Brust lag, die Augen verschlossen, während Marcys Hände es festhielten.
„Ich hatte gehofft... doch es war zu spät", erklärte Thor mir leise, während ich immer mehr dachte die Kontrolle zu verlieren, gleich das Schreien anfangen zu müssen, zusammenzubrechen, Thor ins Gesicht zu schlagen, Marcy anzuschreien... irgendwas.
„Junge oder Mädchen?", fragte ich monoton nach.
„Mädchen", antwortete er mir leise und ich dachte daran, wie recht sie mit ihren Vermutungen gehabt hatte, sah von dem kleinen Ding weiter zu Marcy, deren Haare etwas hergerichtet wurden und die nun ein anderes Kleid trug. Sie sah nun deutlich menschlicher wieder aus, ihre Haut wirkte weniger blass, als unten im Kerker und ihre Lippen waren nicht länger blau, doch vermutlich wurde sie einfach nur für das Ende hergerichtet und als ob Thor meine Gedanken lesen könnte, sagte er: „Es war nicht einfach sie so... naja, sobald jemand sie anfasst, kriegt er Spuren von Erfrierungen, weswegen Stark mit seinem Anzug helfen musste bei vielen Dingen."
„Ich muss gehen", hauchte ich leise, ging nicht weiter auf seine Worte ein, doch sie so zu sehen, neben all den anderen Toten, mit dem Kind... es war wie ein Schlag ins Gesicht und ohne auf Thor zu warten, stürmte ich regelrecht aus dem Saal hinaus, direkt weiter zu meinem Zimmer, wo ich meinen Emotionen freien Lauf lassen wollte, doch mein Blick richtete sich wie von alleine auf Marcys Zimmertüre gegenüber und ohne zu wissen, was ich da tat, ging ich in dieses anstatt in meines hinein, nur um keine andere Person als Stark dort vorzufinden. Was bei allen Göttern tat er nun bitte hier? Hatte ich nicht schon genug Probleme?
„Es wirkt so leer hier ohne sie", sagte er ohne mich anzusehen, stand einfach nur vor der Balkontüre und sah nach draußen. Irritiert blickte ich ihn an, wusste nicht wirklich, was ich sagen oder machen sollte, doch mit seiner Anwesenheit hier hätte ich nicht gerechnet.
„Was tust du hier? Das ist Ihr Zimmer!", meinte ich abfällig, zitterte am ganzen Körper vor Kummer und Hass, der sich in mir ausbreitete, mich zu verschlingen drohte. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen, wusste nicht mehr, ob ich traurig, wütend oder innerlich tot war. Mein kleiner winziger Hoffnungsschimmer war ausgelöscht worden mit ihrem Anblick, der endgültigen Gewissheit, dass sie weg war, dass das Kind weg war, dass meine Familie weg war.
„Du bist nicht der einzige, der jemanden verloren hat", bemerkte er abwertend, als er sich zu mir drehte und mit einem ernsten Gesichtsausdruck auf mich zu schritt, „Ich habe sie auch verloren."
„Du kanntest sie doch überhaupt nicht!", spottete ich und versuchte meinen Tränen weg zublinzeln, „Ich kannte sie Jahrhunderte! Ich... was war sie schon für euch?"
„Ja, du kanntest sie vielleicht besser als ich oder irgendwer sonst, doch sie war ein Teil meiner Familie unseres Teams und ich werde sicher nicht so schnell über sie hinwegkommen, nur weil ich sie keine hunderte von Jahren kannte!"
„Es ist genug jetzt!", mischte sich da Thor ein, der hinter mir durch die Türe geschritten kam und kopfschüttelnd lief ich an Stark vorbei, setzte mich auf ihr Bett und wollte doch nur noch meine Ruhe haben, doch so schnell würde ich das nicht kriegen. So schnell würde ich mich nicht allen quälenden Gedanken hingeben dürfen oder meiner eigenen Schwäche, die mich mehr und mehr in die Knie zwang. Ich wollte doch nur noch nicht mehr stark sein müssen.
„Könnt ihr nicht endlich gehen?", fragte ich angespannt nach, sah mich in dem Raum um, sah so viele alte Erinnerungen vor mir wieder, die ich am liebsten nicht sehen wollte.
„Ich kann dich nicht alleine lassen, Loki. Wenn ich das mache, wirst du nur etwas tun, was du bereuen könntest und..."
„Und was? Hast du Angst, dass ich mich umbringe? Was interessiert es dich überhaupt noch? Marcy ist fort, du musst dich nicht mehr für mich interessieren, du solltest mich hassen! Ich habe das alles geschehen lassen, ich habe sie umgebracht und..."
„Also warst du es doch?", fragte Stark verwirrt nach, während Thor mich ansah, als würde die Welt immer weniger Sinn für ihn machen und wütend dachte ich an Aras, an das Gift, an alles was er mir genommen hatte.
„Ich konnte es nicht aufhalten", brachte ich leise, fast flüsternd, hervor, „Dagegen kann man sich nicht wehren. Doch ich habe es getan, ich habe entsetzliche Dinge getan und..."
„Es ist schon gut, Loki", unterbrach Thor mich sanfter, als ich es von ihm gewohnt war, fast schon in einem Ton, mit dem er nur zu Marcy sprach und ich wusste, dass er sich bemühte für mich da zu sein ihr zur Liebe, doch es machte nicht unbedingt irgendwas besser, „Ich habe von dem Gift gehört, das Aras unseren Wachen verabreichte."
„Und doch ist sie jetzt tot", brachte ich verzweifelt hervor, glaubte wieder ihre eisblauen Augen vor mir zu sehen, ihre Stimme zu hören, als sie ihr letztes Ich liebe dich sagen wollte.
„Doch sie würde nicht wollen, dass wir jetzt schwach sind, sie würde wollen, dass wir Aras beseitigen, den anderen helfen wieder auf die Beine zu kommen, Asgard..."
„Was ist mit den anderen?", fragte ich nach, dachte an Fandral zurück, doch eigentlich interessierte es mich nicht wirklich. Nicht einmal der Gedanke Rache an Aras auszuüben konnte mich mit Freude erfüllen, ich kam mir so zerrissen, so leer, so tot wie jede Pflanze auf Marcys Balkon vor. Was war schon noch von Bedeutung?
„Fandral wird deinen Angriff wohl überstehen, Volstagg ist unbeschadet, aber... wir haben Sif im alten Flügel gefunden, keine Ahnung wie sie den Einsturz überleben konnte, doch ich hoffe, dass sie es auch wirklich wird. Sie ist übel zugerichtet und vielleicht gerade mehr auf der anderen Seite, als bei uns", erklärte Thor mir verbittert, „Cole geht es recht gut, nur ist er wie in einer Schockstarre durch Ivankas und Marcys Tod, spricht mit keinem mehr, sondern sitzt seit Stunden einfach nur draußen irgendwo herum. Hogun haben wir bisher noch nicht gefunden aber.... ich habe kaum mehr Hoffnung."
„Ich hoffe sehr, dass du Aras langsam und qualvoll hierfür sterben lässt", meinte ich und legte mich auf dem Bett zurück, sah an die Zimmerdecke, die ich so oft schon angeschaut hatte, während ich hier neben Marcy gelegen war.
„Loki..."
„Geht doch endlich!", rief ich frustriert aus und war froh zu hören, dass Thor Stark wohl tatsächlich mit sich endlich aus dem Zimmer zog und mich alleine ließ, wo ich es nicht länger aushielt. Ich drehte mich heulend mit meinem Gesicht auf die Matratze, schrie mir die Seele regelrecht aus dem Leib und spürte dennoch nichts in mir, was sich nach Besserung anfühlte, das mir zeigte, dass es was brachte alles so herauszulassen. Im Gegenteil, es fühlte sich nur noch schrecklicher, qualvoller an.
„Komm zurück", schluchzte ich verzweifelt, wusste gar nicht, was ich bezwecken wollte, doch die Vorstellung weitermachen zu müssen mit niemanden mehr, es war beängstigend. Wie sollte ich ohne sie leben? Wie sollte ich jeden Morgen aufstehen, wissend, dass sie nie wieder neben mir liegen, mich anlächeln würde, dass es niemanden mehr geben würde, der mich verstand, für mich da war, für mich kämpfen würde? Was hielt mich hier denn noch? Das alles war so sinnlos, es war so unfassbar sinnlos und ich würde dieses Leid nicht überleben, wollte es gar nicht. Es tat zu sehr weh, mehr als irgendwer es ertragen könnte.
Verzweifelt setzte ich mich aufrecht hin, wischte mir grob meine Tränen weg und sah mich in dem Zimmer, in dem ich so viel Zeit verbracht hatte, ein letztes Mal um. Ich sah ein letztes Mal zu den Büchern in ihren Regalen, zu ihrem Lieblingsbuch auf ihrem Nachttisch, das sie sicherlich mehrere hunderte Male bereits gelesen haben musste. Ich strich ein letztes Mal sanft über ihre Bettdecke, dachte an alles, was wir hier in diesem Zimmer erlebt hatten, wie viele Nächte ich an ihrem Bett über sie wachen musste, als sie krank war, wie oft ich sie hier aufgesucht hatte, wie wir hier übereinander halb hergefallen waren, ehe Thor ins Zimmer geplatzt kam. Ich lächelte leicht bei dem Gedanken daran, ehe ich aufstand, meine neu aufsteigenden Tränen unterdrückte und ohne zurückzublicken ging. Ich lief nicht in mein Zimmer zurück, denn bevor ich das würde, müsste ich mich ein letztes Mal von ihr verabschieden, ihr das sagen, was es noch zu sagen gab, falls es nicht so etwas wie eine zweite Chance für uns geben sollte, falls wir uns nie wiedersehen sollten.
Zielstrebig lief ich deswegen zurück in den Saal der Toten, in dem es nun im Gegensatz zu vorhin deutlich leerer geworden war und anders als vorhin, sah ich mir jedes Gesicht eines Toten genauer an, erkannte manche von ihnen wieder als Wachen, hatte andere einige Male in den Gängen des Palasts oder bei der Schlacht neben mir sterben gesehen. Mein Blick fiel auf Ivanka, die fast wie ein schlafender Engel wirkte mit ihrem hellen Haar und dem weißen Kleid, das sie trug, doch der dunkle, tiefe Schnitt an ihrer Kehle, der versucht worden war etwas zu retuschieren, zerstörte das Bild. Ich hatte sie nie wirklich ausstehen können, doch sie hatte etwas besseres verdient gehabt als das. Ich lief weiter auf mein eigentliches Ziel zu, hatte mich deutlich mehr im Griff, als gerade eben noch, und doch schmerzte es immer noch fürchterlich sie da liegen zu sehen, sie und unser Kind.
„Ich komme zu euch", hauchte ich leise und nahm ihre Hand in meine, die anders als in den Kerkern nicht mehr ganz so kalt war, „Wir werden uns bald wiedersehen, Prinzessin." Ich drückte ihr einen Kuss auf ihre Hand und hatte ohne es zu merken, erneut mit den Tränen zu kämpfen.
„Ob Tod oder Leben, nichts kann uns trennen, niemals", versprach ich ihr, hoffte so sehr Recht zu behalten, „Wir werden vereint sein, in irgendeinem weiteren Leben werden wir es ganz sicher und dann werde ich alles richtig machen, dich niemals verlassen, damit wir das Glück haben, was wir von Anfang an hätten haben können, wenn ich nicht immer zu viel gewollt hätte." Ich legte zitternd ihre Hand wieder auf unser in einer Wolldecke gehülltes Baby, dessen Anblick mir zu sehr das Herz zerriss.
„Es tut mir alles so schrecklich leid, Liebste. Es tut mir leid, dass du nie die perfekte Familie haben konntest, die du dir gewünscht hattest, dass ich nicht mehr für dich da gewesen sein konnte, dass ich dein Tod war, aber ich mache es wieder gut, ich komme zu dir und alles wird wieder gut werden." Schmerzvoll sah ich ein letztes Mal in ihr bildschönes Gesicht, das ohne Leben so anders wirkte, eher als wäre sie aus Marmor, als wäre sie nie echt gewesen, als wäre sie auch nur ein bloßer Traum gewesen. Ich drückte einen letzten Kuss auf ihre Stirn, ertrug den Anblick nicht weiter, weswegen ich auch hier nicht mehr zurück blickte, als ich ging, sondern so schnell es ging zurück in mein Zimmer eilte, wo ich glaubte gefangen in der Vergangenheit zu sein. Ich sah sie einfach überall hier, entweder wie ich sie das erste Mal am Balkon geküsst hatte oder wie ihre Krankheit hier ausbrach und sie erstickend auf dem Boden zusammengebrochen war. Ich sah sie wieder, wie sie als Kind immerzu fröhlich sich auf meinen Teppich gelegt hatte, irgendwelchen Geschichten von mir dabei gelauscht hatte. Ich sah unsere besten und schlimmsten Momente in diesem Zimmer wieder, doch es waren nur noch bedeutungslose Erinnerungen, die mich dennoch mit so vielen Gefühlen durchströmten.
Die Wut, der Hass, alles kam so plötzlich in mir hoch, dass ich mich nicht mehr halten konnte, ich schmiss schreiend Bücherregale um, warf den Inhalt meines Schreibtisches auf den Boden, zerriss Klamotten in meinem Schrank, zerstörte einfach alles, was ich zu fassen bekam, wollte jede Erinnerung ruinieren, alles kaputt machen, bis ich auf meinem Regal etwas fand, was mich zum stocken brachte. Völlig am Ende griff ich nach dem Smaragdherz von Marcy und sank auf meine Knie, in einen Haufen Glasscherben hinein, doch ich spürte den Schmerz nicht. Ich konnte es nur anschauen, es festhalten und glaubte noch genau ihre Worte von damals hören zu können, als ich mich mal wieder zu ihr ins Zimmer geschlichen hatte an dem Abend nach Fandrals Geburtstatg und wo dieser Mistkerl versucht hatte ihr sonst was anzuhaben.
„Dir gehört mein Herz." Damals waren wir nicht einmal zusammen gewesen, doch ich hatte es aufbewahrt, doch beschützt hatte ich es nicht gut genug.
„Es tut mir leid", hauchte ich verbittert und legte es als einziges behutsam auf mein Bett ab, ehe ich zu den verbliebenen Fläschchen Gift lief, die nicht durch meinen Wutausbruch zerstört worden waren. Ohne groß zu überlegen, ergriff ich mir das Gift, das die grausamste Wirkung haben sollte und sah nicht mehr zurück, ließ alles hinter mir, jede Erinnerung dieses Leben, einfach alles, als ich auch mein Zimmer für immer verließ, es ein für allemal beenden würde.
Aloha :) Frohe Weihnachten an alle, die es feiern. Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen und mal schauen, ob ich es schaffe in diesem Jahr noch eins herauszukriegen xD
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