⁰¹dinner for two (iii)
Bevor du hier anfängst, lies doch bitte die vorangehenden zwei Kapitel, um die Zusammenhänge zu verstehen (:
❆
Ich grummelte.
War der Idiot wirklich aus dem Auto ausgestiegen?
„Deine Schwester war so nett und hat mich bei dem Sauwetter vom Supermarkt mit in die Stadt genommen", erklärte er und lächelte Annika zuckersüß an.
Aber auch nur, weil mich mein schlechtes Gewissen sonst quält, rief ich Annika in Gedanken zu, während ich in der Kommode nach meinem Geldbeutel kramte. Weit konnte er nicht sein.
„Eigentlich ein riesiger Zufall, dass du genau jetzt hier stehst. Wir könnten nämlich tatsächlich die Hilfe eines Sterne-Kochs benötigen", deutete Annika unsere Misere an.
Ha, gefunden!, jubelte ich, als ich mein Portemonnaie zwischen zwei Mützen hervorzog.
Bevor Annika noch Schlimmeres anrichten konnte, ging ich großen Schrittes auf die Haustüre zu.
„Schade nur, dass Matthias heute noch was vor hat und ich ihn deshalb jetzt sofort heimfahren werde", zischte ich und warf Annika einen bösen Blick zu.
Warum wurde Matthias eigentlich von jedem in diesem Haushalt vergöttert? Meiner Wenigkeit ausgenommen natürlich.
„Eigentlich hab ich heute gar nichts vor", stellte Matthias jetzt klar und zuckte mit den Schultern. Dann sah er in meine Richtung: „Ich würde gerne helfen. Wirklich."
Ich seufzte. Annika stieß einen begeisterten Jubelschrei aus. Matthias sah in meine Richtung und schien auf eine Reaktion zu warten.
Das Letzte, was ich wollte, war ein Arschloch zu sein - das war ich heute sowieso schon gewesen.
Also zog ich meinen rechten Mundwinkel leicht nach oben und zuckte mit den Schultern. Matthias schien zufrieden.
„Luis ist in der Küche. Geh doch schon mal vor", setzte ihn Annika in Kenntnis. Er nickte und entledigte sich zuerst Winterjacke und Stiefel, bevor er sich an uns vorbei ins Herz des Hauses drängte.
Gedämpft hörte man, wie mein jüngerer Bruder unseren Gast im Nebenraum begrüßte und innerlich zerriss es mich.
Es ärgerte mich, dass Matthias hier war.
Es ärgerte mich, dass sich jeder hier so mit ihm arrangierte, als wäre nichts passiert.
Es ärgerte mich, dass ich vor Wochen einfach alles in mich hineingefressen und mit niemandem über meine Probleme geredet hatte - außer mit Jannik.
Ob sie dann anders reagiert hätten?
Aber am meisten ärgerte mich, dass sich das alles so auf meine Stimmung ausschlug. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, heute gute Laune zu haben und Papa und Silas einen schönen Abend zu machen. Dass der Tag so verlaufen würde, hatte keiner gedacht und erst recht nicht ich.
Annika, die immer noch bei mir im Gang stand, legte ihre Hand sanft auf meinen Unterarm und sah mir tief in die Augen.
Schon immer war ich neidisch auf ihre strahlend blauen, fast schon stechenden Augen gewesen. Gepaart mit ihren hellen blonden Haaren konnte sie ihre skandinavischen Wurzeln wirklich nicht verbergen.
Oft wurden wir schief angeschaut, wenn wir in der Öffentlichkeit verlauten ließen, Geschwister zu sein. Denn mein Erzeuger hatte sich mit seinen namibischen Genen gegenüber denen meiner leiblichen deutschstämmigen Mutter definitiv durchgesetzt.
Selbst im einundzwanzigsten Jahrhundert, war die Menschheit noch nicht so weit, eine Familie wie die unsere voll zu akzeptieren. Und auch, wenn es im Moment vielleicht etwas kriselte, würde ich doch stolz behaupten, dass wir oft glücklicher waren, also so manch andere Familie.
„Was ist denn passiert?"
Die Stimme meiner Schwester klang weich. Viel zu weich. Es schwang eine Welle an Sorge, aber auch eine feste Bestimmtheit darin mit. Sie wollte endlich auch ins Bild gebracht werden. Es stank ihr, dass ich nicht mit ihr darüber sprach, was mich belastete, dass merkte ich.
Doch genau in diesem Moment, wirkten ihre fürsorglichen Worte nicht wie ein weiches Kissen, sondern eher wie ein steinharter Backstein. Denn mein eh schon angeknackstes Herz brach bei dem Klang ihrer sanften Stimme noch ein kleines Stück mehr auf.
Trotz ihren jungen sechzehn Jahre, wirkte Annika oft schon so viel erwachsener, als sie es eigentlich war.
Manchmal war ich der Meinung, in Annika lebte eine alte Seele, die allerdings nur manchmal zu Vorschein kam. Die meiste Zeit über, ließ sie meine Schwester Kind sein, aber in Momenten wie diesen, übernahm sie gerne die Oberhand.
Und Papa war der festen Überzeugung, es lag an der Disziplin, die ihr von klein auf bei ihrem größten Hobby, dem Eiskunstlaufen, beigebracht wurde.
Papa.
Die Person für die wir uns heute so ins Zeug legten.
Oft vergas ich, dass wir alle eigentlich gar nicht wirklich miteinander verwandt waren und uns wohl gar nicht kennen würden, hätte Papa uns nicht der Reihe nach adoptiert. Aber jetzt war genau so ein Moment, in dem es mir wieder einmal schmerzlich bewusst wurde, wie viel Glück ich eigentlich mit meiner Familie hatte.
Ich war Papa unglaublich dankbar dafür, dass er uns so liebend aufzog und alles für eine unvergessliche Kindheit und Jugend tat. Auch wenn wir uns gegenseitig oft den letzten Nerv raubten.
Ohne auf Annikas Frage zu antworten, zog ich sie in eine feste Umarmung. Zuerst schien sie etwas überrumpelt, erwiderte die Geste dann allerdings sofort.
Einige Minuten standen wir fest umschlungen im Hausgang und ich genoss die Nähe meiner vier Jahre jüngeren Schwester. Mein Kopf lag auf Annikas Schulter und nach einer Ewigkeit stand ich ihr einmal wieder so nah, dass ich ihr neues Duschgel riechen konnte. Zitrone-Minze, ich liebte diese Kombination.
„Ich weiß, du redest ungern darüber, was dir auf die Seele drückt, aber du kannst mir alles erzählen, Emi", unterbrach Annika jetzt die Stille und löste sich von mir. Sie trat einen Schritt zurück, sodass sie mir wieder in die Augen sehen konnte.
„Vorausgesetzt du bist so weit."
Diese Worte kamen nur wie ein sanftes Hauchen über ihre Lippen, aber trotzdem schafften sie es etwas von dem Schmerz in meiner Brust zu lösen. Meine Augen fingen an zu brennen und meine Sicht verschwamm, als sich die Wärme von Annikas Gesagtem über meinen Körper legte, wie eine kuschelige Decke.
Langsam nickte ich und musste mir auf die Unterlippe beißen, um nicht anzufangen zu schluchzen.
„Vielleicht später. Wir haben noch einiges zu tun", meinte ich und hoffte, Annika registrierte, wie viel mir ihre Worte bedeuteten. Ich war noch nie gut darin gewesen, meine Gefühle zu zeigen.
Annika quittierte meine Aussage mit einem Nicken und ich war ihr gerade unglaublich dankbar dafür, nicht nachzuhaken.
„Na dann, auf in den Kampf!"
Sie streckte ihre linke Faust in die Luft, um dem Ganzen noch mehr Ausdruckskraft zu geben. Beim Anblick meiner Schwester musste ich schmunzeln.
So wie sie jetzt in die Küche stürmte, würde man uns wohl nicht glauben, dass wir vor gerade einmal zwei Minuten den Ansatz eines tiefgründigen Gesprächs geführt hatten.
Bevor auch ich ihr folgte, warf ich einen letzten Blick auf die Uhr im Eingangsbereich.
Kurz nach halb sieben.
In dreißig Minuten würde Silas vor der Tür stehen und spätestens dann sollte auch Papa wieder zurückkommen. Es könnte knapp werden. Allerdings hatten wir ja jetzt einen Helfer mehr und vielleicht sollte ich es einfach für heute Abend gut sein lassen.
Wenn ich meine schlechte Laune ausleben würde, brachte das wirklich niemandem etwas. Und langsam war es auch an der Zeit, Frieden mit der Sache zu schließen. Auch wenn es wahrscheinlich noch eine ganze Weile weh tun würde, an die vergangenen Jahre zu denken. Aber das war normal, gehörte dazu.
Wie sagte Oma immer: Seine erste Liebe vergisst man nie. Und wenn ich ehrlich war, dann wollte ich das auch gar nicht. Matthias war über zwei Jahre einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, das konnte man nicht einfach so hinter sich lassen. Der Schmerz wurde mit der Zeit leichter. Und falls das nicht der Fall sein sollte, würde ich es mir einfach einreden.
Als ich in die Küche kam, duftete es unglaublich gut und bei dem Anblick der sich mir bot, wurde mein Grinsen immer breiter. Luis und Matthias hatten sich Schürzen um die Hüfte gebunden und mein Bruder ließ sich erklären, was Matthias mit den gekauften Fleischalternativen vor hatte. Annika stand vorm offenen Kühlschrank und schleckte gerade ihren Zeigefinger ab, den sie vorher wohl in die Nachspeise getunkt hatte, die zum Abkühlen darin stand.
Nur eine Person ging mir ab.
„Wo habt ihr denn Timo versteckt?", fragte ich, als ich unser Nesthäkchen auch in seinem Hochstuhl im Wohnzimmer nicht finden konnte.
„Schläft friedlich", erklärte Luis und zeigte auf das Babyfon am Fensterbrett, „Manchmal ist auch auf deinen Bruder verlass, du Stinkstiefel."
„Hey!", rief ich empört und stürmte auf ihn zu.
Stinkstiefel hatte er sich vor Jahren einfallen lassen, als zu Nikolaus in meinem Stiefel keine Schokolade steckte. Papa hatte in dem ganzen Chaos meine Schuhe leider nicht gefunden, weshalb er meinen Schoko Nikolaus kurzerhand in seinen eigenen Stiefel gestellt hatte. Luis war damals der festen Überzeugung, dem Nikolaus hätten meine Winterstiefel einfach zu sehr gestunken.
Danach war ich eine ganze Zeit nur noch Stinkstiefel. Irgendwann hat er (netterweise) wieder angefangen mich bei meinem richtigen Namen zu rufen, aber wenn er mich ärgern wollte, war ich nach wie vor Stinkstiefel.
Bevor er sich versah, hatte ich ihn in den Schwitzkasten genommen und strubbelte ihm durch die schwarze Dauerwelle, die er sich erst vor wenigen Wochen hatte machen lassen. Ganz grausam, wenn man mich fragte (aber ich wurde ja nie gefragt).
Leider war der Überraschungseffekt meines Angriffs sofort verflogen und Luis schaffte es, sich aus meinem Griff zu lösen. Wenige Sekunden später fand ich mich auf der Arbeitsfläche sitzend wieder und wurde durchgekitzelt.
„Stop! Bitte!", bettelte ich und musste mich anstrengen, die Worte überhaupt über die Lippen zu bekommen, so sehr musste ich lachen, „Das ist - nicht - fair! LU!"
Im Augenwinkel merkte ich, dass uns Matthias amüsiert musterte, doch ich beachtete ihn nicht weiter. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, meinen Bruder irgendwie wieder von mir weg zu bekommen. Sich gegen einen drei Köpfe größeren Riesen durchzusetzen war alles andere als einfach.
Doch Annika kam mir zur Hilfe: „Bevor ihr hier noch irgendwas kaputt macht, nutzt doch lieber die Zeit und deckt den Tisch." Luis jedoch, ignorierte die Bitte unserer Schwester und setzte erneut zu einer Kitzelattacke an.
„Luis Jakobus! Wenn du nicht gleich deine Wurstfinger von Emilia nimmst, dann verfrachte ich dich höchstpersönlich zu Frau Kümmert. Die verbringt ihren Silvesterabend bestimmt ganz allein mit ihren sieben Katzen und würde sich über Gesellschaft von einem jungen Hüpfer wie du es bist sicher tierisch freuen."
Da ich immer noch so lachen musste, bemerkte ich erst gar nicht, dass Luis tatsächlich nachgegeben hatte.
„Ich mach alles, aber bitte bitte lass unsere Nachbarin aus dem Spiel!", flehte Luis jetzt und hob seine Hände abwehrend in die Luft.
„Außerdem hab ich gar keine Wurstfinger. Soll ich-" „Nein! Wir wissen alle, dass du das Intro von Master Of Puppets fehlerlos spielen kannst", unterbrach ich ihn und rutschte schwungvoll von der Arbeitsplatte, „Das hast du uns schon oft genug demonstriert."
„Wie siehts eigentlich aus, wann kann man euch denn mal wieder live sehen?", fragte Matthias interessiert nach und briet währenddessen die geschnittenen Zwiebeln in der Pfanne an.
Luis hatte vor ein paar Jahren mit einigen Freunden eine eigene Band gegründet. Sie nannten sich ganz stolz Impromptu Display, coverten meist bekannte Songs von Green Day, Blink-182 oder My Chemical Romance und waren ziemlich beliebt in Ladstein und Umgebung.
Sie hatten bereits den ein oder anderen eigenen Song geschrieben, sich allerdings bis dato noch nie getraut diese der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren, was meiner Meinung nach wirklich schade war (aber wie bereits erwähnt, wurde ich ja nie gefragt).
Regelmäßig nahmen sie am Bandwettbewerb in der Nachbarstadt teil. Dort trafen sich Bands aus dem gesamten Landkreis Edden und kämpften um den Preis der besten Nachwuchsband. Die letzten Jahre hatten sie sich immer weiter nach oben gekämpft und dieses Jahr tatsächlich Platz drei belegt. Sie setzten alle Hoffnungen auf nächstes Jahr, aber auch die Konkurrenz wurde jedes Mal besser.
Matthias war die vergangenen Jahre auf jedem ihrer Konzerte gewesen. Dort hatten auch wir uns vor drei Jahren kennengelernt, aber die Erinnerungen stopfte ich sofort wieder in die Schublade, aus der sie sich herausgekämpft hatten.
„Sag nur, du hast den Jingle Bell Cup in diesem Jahr verpasst?", fragte Luis Matthias jetzt gespielt beleidigt.
„Es tut mir wirklich leid, aber es gibt Leute, die müssen auch Samstag Abend arbeiten."
Mein Bruder zog seine Augenbraue nach oben und wirkte nicht überzeugt, doch Matthias zuckte mit den Schultern.
„Spaß beiseite - unser nächstes Konzert steht tatsächlich noch nicht fest, aber ich kann dir gern Bescheid geben", meinte jetzt Luis und zuckte selbst mit den Schultern.
„Ich schätze du willst hier in der Küche bleiben, dann decke ich den Tisch", sagte ich jetzt mehr zu mit selbst, als an Luis gerichtet und erwartete auch gar keine Antwort. Die Arbeit tat sich schließlich nicht vom Rumstehen.
Mit Annikas Hilfe war der Tisch innerhalb einer viertel Stunde gemütlich gedeckt. Es war gar nicht so leicht, zwei schöne Teller zu finden die zusammengehörten. Auch beim Besteck war es eine Challenge, jeweils ein komplettes Set zu finden, denn irgendwie war alles wild zusammengewürfelt.
Aber als das Licht im Esszimmer gedimmt war, betrachteten wir unser Werk stolz. Anstelle eines Tischläufers schmückten Eukalyptuszweige die Mitte des Tisches und in zwei altmodischen Kerzenhaltern leuchteten weiße Kerzen um die Wette. Aus den Tiefen unserer Serviettensammlung hatten wir tatsächlich zwei Servietten gefunden, die farblich perfekt zum Eukalyptus passten. Auf jedem Teller lag als Begrüßungsgeschenk Papas Lieblingsschokolade, damit er uns die Aktion nicht allzu böse nahm.
„Mädels, wie schaut's bei euch aus?", fragte Luis und streckte seinen Kopf zur Tür herein. Ein begeistertes Grinsen legte sich auf seinen Lippen und er trat ins Esszimmer um unser Werk ebenfalls zu begutachten.
„Das habt ihr gut gemacht. Mindestens genauso gut wie ich und Matthias."
„Der Esel nennt sich immer zuerst", konnte sich Annika einen doofen Kommentar nicht verdrücken und erntete einen bösen Blick von Luis.
„Ich will euch ja wirklich nicht stressen, aber wenn wir uns noch umziehen wollen, dann müssen wir uns beeilen", erklärte ich, „In spätestens zehn Minuten klingelt es an der Tür."
„Wir können dich ja kurz alleine lassen, oder?", fragte Luis in Richtung Küche und Matthias antwortete postwendend. „Ich kann euch nicht versprechen, ob danach noch etwas von dem Essen da sein wird."
„Wehe da fehlt später auch nur ein Krümel", warnte ich mit erhobenem Zeigefinger und war schon halb auf dem Weg nach oben.
Matthias lachte daraufhin nur warm und in meiner Brust zog sich etwas schmerzlich zusammen.
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