⁰¹dinner for two (i)

Dieses Projekt ist 2021 im Zusammenhang der Schreibchallenge der KuhleKathiisten entstanden.
Die Teilnehmer:innen haben je drei Wörter zugeteilt bekommen, die einzubauen waren. Meine findet ihr ein Stück weiter unten (:
Schau doch auch gerne bei den Geschichten der anderen vorbei (du findest sie in der Leseliste auf dem Account der KuhleKathiisten )
Ich kann sie wirklich nur jedem wärmstens empfehlen!

Wie du vielleicht gemerkt hast, war der erste Teil in seiner ursprünglichen Form bereits 2021 online, doch leider habe ich es letztes Jahr versäumt die anderen Teile hochzuladen.
Im Nachhinein war es gar nicht so schlecht, denn was zuerst eine kleine belanglose Idee war, wird jetzt doch irgendwie zu etwas Großem (lasst euch überraschen!)

Während des Überarbeitens, ist die ehemalige Kurzgeschichte etwas tiefgründiger geworden als geplant und wird sich über die folgenden vier Kapitel spannen.
Jeden Adventsonntag wird ein neuer Teil online kommen und an Heiligabend folgt als Teil fünf eine kleiner Bonusteil.

Aber genug von mir, ich wünsche dir viel Spaß mit Familie Jakobus und hoffe, man sieht sich in den Kommentaren!


Wörter, die ich einzubauen hatte:
KEKSE — WEIHNACHTSBAUM — DRACHE

„JETZT REICHT'S! ABER ENDGÜLTIG! ICH HAU AB UND WEHE DU MELDEST DICH BEI MIR!"

Türen knallten, dass die Fensterscheiben klirrten. Jemand (wahrscheinlich mein Vater) schlug mit voller Wucht gegen die Wand und jemand anderes (vermutlich der Freund meines Vaters) trampelte die Treppe nach unten, dass man meinen könnte ein Elefant hätte sich in unsere kleine Doppelhaushälfte verirrt.

Streit.

Er regierte diesen Haushalt schon seit Monaten. Die gemeinsame Zeit während der vergangenen Feiertage war nur der letzte Tropfen, welcher das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.

Die Haustür wurde schwungvoll zugeschlagen und wäre ich nicht aus eigener Erfahrung in dem Wissen, dass das Milchglas in deren Mitte ziemlich stabil war, wäre ich jetzt ziemlich sicher, dass ab jetzt Tag der offenen Tür im Hause Jakobus sein würde.

Ohne meinen Kopf zu drehen, blickte ich in Richtung des angrenzenden Schlafzimmers meines Vaters.

Plötzlich war es still.

So still.

Richtig ungewohnt.

In unserem Haus rührte sich normal immer etwas. Bei sieben Familienmitgliedern war das nicht gerade überraschend (zählen wir Silas der gerade aus dem Haus gestürmt war noch dazu, der würde sich schon wieder beruhigen - irgendwann). Ich wollte mir gar nicht vorstellen wie es sein würde, wenn es an der Zeit für mich war, auszuziehen. In meine eigene kleine Wohnung.

Keine Gesprächsfetzen, die durch die Wände drangen. Keine Geräusche, von denen man eigentlich kein Zeuge werden wollte (ihr wisst genau was ich meine, ich möchte hier nicht näher darauf eingehen). Keine heulenden kleinen Geschwister, die sich wegen einer Barbie gegenseitig die Haare vom Kopf rissen, obwohl wir hier nicht nur eine dieser Puppen besaßen, sondern eine ganze Bataillon. Aber nein, es musste immer diese eine sein, die der andere auch wollte.

Kopfschüttelnd wischte ich den Gedanken beiseite und landete wieder bei Papa, den ich nebenan leise schluchzen hörte. Irgendwie hatte ich das Gefühl er besaß das Talent, schlechte Stimmung anzuziehen. Noch dazu hatte er absolut sowas von überhaupt gar kein Glück was seine Partnerwahl betraf.

Jörg (Ex Nummer eins - während der letzten fünf Jahre) arbeitete im städtischen Kindergarten und hatte sich zur Aufgabe gemacht meinem Vater bei der Erziehung seiner Kinder kräftig unter die Arme zu greifen. Die beiden hatten sich bei einem Elternabend meiner jüngeren Schwester Annika kennengelernt und als Jörg erfahren hatte, dass Papa noch drei weitere Knirpse zuhause hatte, war er mehr als begeistert.

An sich wäre mein Vater bestimmt froh um jede Hilfe gewesen, vor allem weil Jannik, Luis (meine zwei ältesten Brüder) und ich gerade mitten in der Trotzphase unserer Pubertät steckten. Jedoch versuchte Jörg auch bald, die Gewohnheiten meines Papas zu ändern. Und das (da stimmt ihr mir bestimmt alle zu) war pures Gift für jegliche Art von Beziehung.

Wenige Monate später lernte mein Vater Tobias kennen. Er war ein paar Jahre jünger als er und hatte seinen Bachelor in Philosophie frisch in der Tasche. Wenn ich hier jetzt erwähnte, dass Papa evangelischer Pastor war, erklärte das glaub ich ziemlich gut, weshalb die Beziehung nur wenige Wochen richtig gut funktioniert hatte. Die beiden waren sich einfach viel zu oft in den Haaren gelegen.

Dann waren da noch Nils (Bäcker aus Leidenschaft - ich vermisse seine Backwaren tatsächlich sehr, vor allem jetzt zur Weihnachtszeit) und Silas, der gerade polternd unser Haus verlassen hatte. Er war Mitglied in unserer Gemeinde und eines Sonntags nach dem Gottesdienst einfach mit am Esstisch gesessen. Seit über zwei Jahren gehörte er nun zur Familie Jakobus, aber wie bereits erwähnt kriselte es in den letzten Monaten immer öfter. Dabei war noch vor kurzem der Begriff 'heiraten' gefallen, aber so wie der Tag heute begann, konnte man das dann wohl vergessen.

Mein Vater hätte zu wenig Zeit, würde sich mehr um seine Gemeinde, als um ihn kümmern und wenn er sich dann mal Zeit nahm, dann passte es ihm auch wieder nicht.

Liebe war wirklich anstrengend. Davon konnte auch ich ein Lied singen.

„MIJA!"

Genervt stöhnte ich auf, ließ meinen Kopf auf die harte Matratze fallen und presste mir mein Kopfkissen über die Ohren.

Das war's dann wohl endgültig mit meiner Ruhe am Morgen.

„MIJA!", ertönte es erneut und ich hörte, wie meine Zimmertür geöffnet wurde. Ein angestrengter kleiner Seufzer erklang, als die Tür nachgab. Es dauerte nicht lange, bis sich die Matratze neben mir leicht senkte und sich jemand mit voller Wucht auf mich fallen ließ. Die Person war zwar noch klein, aber das hieß nicht, dass sie leicht war.

„Timo", beschwerte ich mich und zog dabei das 'o' extra lang.

Ich spürte die bohrenden Blicke unseres kleinen Nesthäkchens auf mir, auch ohne zu sehen, dass er mich ansah.

„Sijas weg. Ohne Tsüss."

Timo war drei und hatte noch Probleme sich richtig auszudrücken. Papa hatte ihn bereits als Baby in unsere Familie aufgenommen und seitdem war der kleine Racker nicht mehr wegzudenken. Auch wenn er meistens einfach nur nervte und ich diejenige war, die ihn an der Backe hatte, wenn Papa einmal nicht Zuhause war.

Ungeduldig zog er mir das Kissen vom Kopf und drückte mir seine kleinen Patschehändchen ins Gesicht.

„MIJA?"

„Timo, bitte. Nimm deine Hände da weg", bat ich ihn genervt und griff mit meinen kalten Händen nach seinen viel zu warmen, feuchten. Ich will gar nicht wissen, wie viel Spucke jetzt an meinen Wangen klebte.

„Sijas böse. Thias auch böse."

Ich verdrehte meine Augen und musste mich zusammenreißen nicht genervt auszurufen.

Musste er die Sprache jetzt wirklich auf Matthias lenken?

Mein Ex war tatsächlich die letzte Person an die ich während den letzten Tagen des alten Jahres denken wollte. Gut, ob er mein Ex-Ex war, darüber konnte man streiten. Wir befanden uns im Moment in einer Art Pause. Es herrschte Funkstille und auf seltsame Weise fand ich es tatsächlich ganz entspannt, mich nur um mich selbst kümmern zu müssen und das tun zu können was ich wollte, ohne mich groß dafür zu rechtfertigen.

„Silas ist genauso wenig böse wie Matthias es ist. Manchmal leben sich Menschen einfach auseinander, das wirst du irgendwann verstehen, Kleiner."

Da mein Magen langsam durch aufdringliche Knurrgeräusche auf sich aufmerksam machte, richtete ich mich vorsichtig auf und schob Timo behutsam von mir herunter. Dem allerdings schien es gar nicht zu gefallen, dass die gemeinsame Kuschelzeit hiermit beendet war, denn er funkelte mich böse an. Er könnte mit seinem bösen Gesichtsausdruck dem orangenen Drachen auf seinem Sweatshirt beinahe Konkurrenz machen.

„Hast du schon gefrühstückt?", fragte ich ihn woraufhin er wild den Kopf schüttelte, dass ihm seine blonden Locken nur so um die Ohren flogen. „Na dann aber los. Sonst wird's gleich Zeit zum Mittagessen."

Während ich mich aus meinem Bett kämpfte, schnappte ich mir meinen Bruder und nahm ihn auf den Arm. Dieser lehnte seinen Kopf zufrieden gegen meine Schulter, dass einige seiner blonden Strähnen meinen Hals kitzelten. Ein sanftes Seufzen entkam ihm, als er sich noch enger an mich schmiegte.

Er konnte ja auch ganz süß sein, wenn er wollte.

„Mija bleiben", murmelte er und ich musste mich anstrengen ihn zu verstehen.

Erst jetzt kam mir, dass uns im Herbst ja auch Jannik verlassen hatte, um sich die Pendelei nach Fargenmoos in die Uni sparen zu können. Timo musste das Gefühl haben, dass ihm alle aus seinem Leben wegliefen. Da waren Papa, Luis, Annika und ich seine einzigen konstanten Bezugspersonen.

„Ich bleibe. Keine Angst."

Zumindest noch, fügte ich in Gedanken dazu.

Ein feuchter Kuss wurde auf meiner Wange platziert, als ich die Tür öffnete und sofort stockte.

Ich blickte in das aufgelöstes Gesicht meines Vaters. Die braunen Haare standen ihm wild vom Kopf ab und in seinem Gesicht spiegelte sich ein gebrochener Ausdruck. Er war ganz blass und die dunklen Augenringe hatten sich mittlerweile eingemietet. Seine Augen schimmerten feucht. Die Wärme und Geborgenheit, die normalerweise immer von ihm ausging, war fast komplett verschwunden.

Sobald Papa Timo auf meinem Arm entdeckte, setzte er ein Lächeln auf. Seine Augen jedoch erreichte es nicht. Ich hatte das Bedürfnis ihn in den Arm zu nehmen, doch irgendetwas hielt mich davon ab.

„Ach, Timo ist bei dir. Das hab ich mir schon fast gedacht", stellte er erleichtert fest, „Bist du wieder aus deinem Bettchen geklettert?"

Er streckte die Hand aus, um seinen Sohn durch die Lockenmähne zu wuscheln, doch dieser versteckte seinen Kopf in meiner Halsbeuge. Das Lächeln auf Papas Lippen wurde schmäler, bis es schließlich ganz verschwunden war. Es schmerzte unbeschreiblich ihn so zu sehen.

„Er hat euch streiten und Silas abhauen sehen", erklärte ich leise, „Magst du mit uns frühstücken? Oder hast du schon gegessen?"

Er signalisierte mir, dass er bereits gefrühstückt hatte.

„Aber ein Kaffee für die strapazierten Nerven schadet nicht."

„Danke, Emilia. Aber ich werd wohl schnell rüber in die Kirche und nach dem Weihnachtsbaum schauen. Angeblich sollen letzte Nacht ein paar Anhänger gestohlen worden sein, meinte Frau Wehnert."

„Aber lass dich heute noch blicken, ja? Timo–"

Ich registrierte den kleinen Körper neben mir, der sich beim Klang seines Namens noch fester in meinen dicken Wollpullover klammerte.

„Wir alle brauchen dich."

Papa hatte die Angewohnheit in die Kirche zu gehen, wenn es ihm nicht gut ging. Für ihn war es ein meditativer Ort an dem er Gott so nahe sein konnte wie sonst nirgendwo. Stundenlang betete er dort und philosophierte über sein Leben. Oft vergas er die Zeit und kehrte dann erst spät wieder zurück. Wir waren es nicht anders gewohnt.

Als wir noch klein waren, hatte er uns mitgenommen. Mit uns gebetet und gesungen. Doch mit den Jahren hatten wir gemerkt, dass es Papa gut tat, Zeit für sich allein zu haben und sind Zuhause geblieben.

Gott war auch für mich über die Jahre zu einer engen Bezugsperson geworden. Als meine Beziehung mit Matthias zu bröckeln begann, war ich in ein Loch voll Selbstzweifel gefallen. Tagelang war ich nicht aus meinem Zimmer gekommen und hatte nur die Decke angestarrt. Durch Zufall hatte ich meine Worship Playlist auf Spotify wiederentdeckt und schon beim ersten Lied waren die Tränen gelaufen.

The Blessing von Kari Jobe und Cody Carnes berührte mich einfach jedes Mal aufs Neue zutiefst und zeigte wie wichtig jeder einzelne von uns für Gott doch war. Während einer Zeit, in der man an sich selbst zweifelte und Probleme damit hatte sich selbst zu lieben, bedeutete das Lied noch so viel mehr. Denn selbst in den dunkelsten Zeiten, gab es da jemanden, der dich bedingungslos liebte und auf dich achtete. Manchmal vergas man das und es sich selbst wieder vor Augen zu führen, war (zumindest für mich persönlich) die beste Seelennahrung.

Das Lied lief stunden-, ach was, tagelang in Dauerschleife und jedes Mal waren die Worte wie eine warme Dusche, eine dringend gebrauchte Umarmung, ein Pflaster für mein gebrochenes Herz (zumindest provisorisch) und langsam fing ich wieder an zu leben. Schon immer hielt dieses Lied einen besonderen Platz in meinem Herzen und ich teilte es nur mit Menschen, die mir wirklich zutiefst wichtig waren. Und Papa war so jemand.

Der drehte sich jetzt langsam um und begann die Treppen nach unten zu gehen. Seine Schultern hingen schlaff nach unten, den Kopf gesenkt, so dass ihm einige seiner mittlerweile viel zu lang gewordenen braunen Haarsträhnen ins Gesicht fielen.

Er ist für dich, Papa. Er ist immer da", zitierte ich den Song und er hielt inne, „Und wir auch. Wenn du reden willst, weißt du wo du mich findest."

Papa drehte sich zwar nicht um, aber ich wusste, die Botschaft war bei ihm angekommen. Und ich wusste ebenso, dass ihn der Psalm stärken würde.

Auch ich setzte mich jetzt wieder in Bewegung. Der kleine Timo hob seinen Kopf langsam an und flüsterte mir ins Ohr: „Papa traurig."

„Mhm."

„Timo traurig."

„Aber du musst nicht traurig sein! Übermorgen ist Silvester und wir haben heute noch einen ganz wunderbaren Tag vor uns", versuchte ich den Knirps auf meinem Arm aufzuheitern. Obwohl ich keinen Plan hatte, wie ich den Tag für ihn besonders machen sollte, würde wohl wie jedes Mal die Spontanität siegen.

Im Esszimmer angekommen, saßen dort bereits Luis und Annika und löffelten ihr Müsli. Beide starrten sie in ihre Smartphones, wobei Luis im Gegensatz zu Annika etwas sinnvolleres zu machen schien, als Kurzvideos in einer beliebten asiatischen App zu schauen.

„Falls ihr es nicht mitbekommen haben solltet, Papa ist in die Kirche. Wir haben also den Tag für uns."

Keine Reaktion.

„Hallo? Leute?!"

Genervt setzte ich Timo in den Hochstuhl. Er beschwerte sich zwar regelmäßig, dass er schon zu groß dafür sei, aber es war einfach so viel praktischer wenn er nicht flüchten konnte.

„Ja, haben wir mitbekommen. Und ich glaub selbst Jannik in Sternenfelde hat das Theater hier mitbekommen", erklärte Annika genervt, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.

Neugierig schielte ich auf den Screen, nur um dort fünf Schnösel zu sehen, die in einem Aufzug standen und dachten sie wären Gott höchstpersönlich. Und mit sowas machte man heutzutage Geld? Wofür setzte ich mich eigentlich in unser Pfarrbüro?

„Annika hatte auch schon einen Masterplan, wie wir die beiden wieder zur Vernunft bringen können?", erklärte Luis und legte das Handy in seiner Hand zur Seite um einen Schluck aus seiner Tasse nehmen zu können. Der ironische Unterton dabei, war nicht zu überhören.

„Und der wäre?", fragte ich, während ich in die Küche trat.

Aus einem Hängeschrank holte ich einen Becher und eine Tasse, die ich unter die Kaffeemaschine stellte. Ein paar Knopfdrücke und das dunkle Lebenselixier fing an in die Tasse zu laufen. Im Kühlschrank stand eine offene Flasche Orangensaft, die ich schüttelte, bevor ich den Becher füllte und Timo vor die Nase stellte.

Breit grinsend griff er mit seine Händen nach dem Becher und trank geräuschvoll die ersten Schlucke.

„Ein Silvesterdinner. Nur für die beiden und wir kochen", verkündete meine Schwester stolz.

Timo verschluckte sich an dem Saft und musste husten. Doch das registrierte ich erst gar nicht, denn ich blickte das Mädchen auf der Eckbank nur verdattert an. Erst als Timo blau wurde und Luis anmerkte, man möge doch endlich auf den Rücken des Kindes klopfen, löste ich mich aus meiner Starre und hob Timo aus dem Hochstuhl.

Immer noch in Trance, tat ich was Luis vorgeschlagen hatte, bis Timo sich wieder etwas beruhigt hatte.

„Warum schaust du auch, als wäre das die schlechteste Idee des Universums?", zickte Annika und warf die Arme frustriert in die Luft.

„Weil keiner von uns kochen kann, falls du das noch nicht bemerkt hast, Miss Neunmalklug. Noch dazu: Glaubst du Silas würde die Einladung wirklich annehmen? Das heute schien doch ziemlich – ernst."

Da hatte Luis mehr als Recht.

„Also ich würde schon kommen, wenn man mich zum Essen einladen würde", meinte Annika schulterzuckend, "Vor allem, wenn ein Streit vorausging. Das ruft doch geradezu nach Versöh-"

„ANNIKA!", rief ich und nickte warnend in Richtung Timo, „Du hast viel zu viel auf wattpad gelesen, oder wie auch immer diese App heißt. Vielleicht lädt dich Tom Holland in einer dieser Fanfictions nach einem Streit zum Essen ein und das endet dann wie auch immer, aber ich möchte nicht Zeugin dieses Akts werden."

„Alter, Mädels. Müssen wir das beim Frühstück besprechen? Mir kommt mein Müsli gleich wieder hoch."

Luis verzog angewidert sein Gesicht. Auch Timo beschwerte sich jetzt, dass er noch gar nichts zu Essen bekommen hatte.

Seufzend begab ich mich zurück in die Küche, holte zwei Scheiben Toast aus der offenen Tüte und bestrich sie mit Butter und Marmelade, bevor ich sie in mundgerechte Stücke schnitt und auf einen Teller anrichtete. Meine Tasse war jetzt auch bis zum Rand gefüllt mit der braunen Brühe und auf dem Weg zurück ins Esszimmer schnappte ich mir einen Joghurt aus dem Kühlschrank.

„Ich glaube wirklich nicht, dass Silas kommen würde. Außerdem weiß ich nicht, ob Papa begeistert davon wäre", überlegte ich und setzte mich neben Timo auf einen Stuhl.

„Wisst ihr was? Ich ruf einfach bei Jannik an. Der fand meine Ideen schon immer wunderbar." Und bevor Luis oder ich Annika davon abhalten konnten, hatte sie die Nummer unseres Bruders gewählt und ihr Handy auf Lautsprecher in die Mitte des Tisches gelegt.

Es dauerte nicht lange, bis er abhob: „Ja?"

Jannik hörte sich alles andere als ausgeschlafen an.

„Guten Morgen, Bruderherz! Ich hoffe du hast gut geschlafen?", trällerte Annika amüsiert und grinste breit.

„Hätte ich vielleicht, hättest du mich nicht angerufen", grummelte er, „Was ist los? Warum rufst du mich so früh an?"

„Im Hause Jakobus brennts und Annika hatte eine außerordentlich idiotische Idee um die Flammen zu löschen", erklärte Luis und funkelte Annika böse an.

Wenn man es so sah, hatte Annika eher eine Idee um das Feuer wieder zu entzünden, aber das setzte mir jetzt die falschen Bilder in den Kopf.

„Ruft die Feuerwehr und nicht mich."

Ein lautes Gähnen erklang am anderen Ende der Leitung.

„Du Dummkopf. Es brennt doch nicht wirklich. Papa und Silas haben sich gestritten und Silas ist vor knapp einer Stunde laut polternd aus dem Haus gestürmt. Papa ist in der Kirche." Annika verdrehte demonstrativ die Augen.

„Achso. Sag das doch gleich."

„Andere schalten schneller als du, Jan", stichelte ich und musste lachen.

Ich vermisste meinen ältesten Bruder sehr.

Wenn er unterm Jahr nicht gerade in seiner Studenten-WG in Fargenmoos lebte und seine Vorlesungen in Sportpsychologie besuchte, verdiente er sich in den Wintermonaten sein Geld als Skilehrer in den bayerischen Alpen. Das war schon immer sein größter Traum gewesen. Mit frischen 18 hatte er ihn sich dann endlich erfüllt und die Skilehrer Ausbildung absolviert.

Seither verbrachte er die Zeit von November bis März in dem abgelegenen Alpendorf Sternenfelde. Der Ort war zwar noch ein Geheimtipp, aber von Jahr zu Jahr sprach sich das gemütliche Resort dort immer mehr herum und es gab bereits einen kleinen Kundenstamm, der jedes Jahr wieder zurückkehrte.

Oft schaffte er est nicht einmal über die Feiertage nach Hause, da die Gäste selbst an Weihnachten über die Pisten düsen wollten. Das war das einzige, das meinen ältesten Bruder jedes Jahr etwas zu schaffen machte. Denn er war ein richtiger Familienmensch, der das Weihnachtsfest über alles liebte.

„Sorry, bin gestern ziemlich spät ins Bett", verteidigte er sich. Annika warf uns daraufhin vielsagende Blicke zu. Sechzehnjährige waren wirklich anstrengend. Inständig hoffte ich, dass sie bald aus diesem Alter heraus war.

„Jan!", rief Timo jetzt begeistert und klatschte in die Hände. Anscheinend hatte er erst jetzt bemerkt, wer da am Telefon war.

„Hey, Kleiner. Du auch schon wach?"

„Timo hat das alles live verfolgt", klärte ich ihn auf, „Silas ist aus dem Haus gestürmt und hat Papa vorher die fiesesten Sachen an den Kopf geworfen. Seine letzten Worte waren dann er würde jetzt gehen und Papa solle sich ja nicht bei ihm melden. Dann hat unsere Annika die wundervolle Idee eines Silvesterdinners. Und das beste daran: Wir sollen für beide kochen. WIR!"

Kurze Stille und dann: „Ich finde die Idee gar nicht so schlecht. Dann können die beiden nochmal in Ruhe über alles reden. Aber vielleicht würde ich den Teil in dem IHR kocht noch einmal überdenken. Da wäre Matthias möglicherweise die bessere Wahl. Der hat doch in diesem Nobelrestaurant in Maxvorstadt gekocht?"

„Du weißt genau, dass das keine Option ist. Lieber bestell ich essen und serviere das."

„Immer noch kompliziert?"

„Ich will nicht drüber reden, Jan."

„Emi–" „

Nicht jetzt", meinte ich mit Nachdruck.

Jannik war die einzige Person der ich mich geöffnet hatte. Vielleicht waren es die Kilometer die uns trennten und deshalb der Fakt, dass er nicht auf der Stelle zu uns fahren und mir Mitleid schenken konnte. Oder einfach, weil er schon immer derjenige meiner Geschwister war, dem ich alles erzählen konnte ohne verurteilt zu werden.

„Aber irgendwann musst du."

„Ja irgendwann. Und bis dahin ist noch lange Zeit."

Plötzlich war mir die Situation viel zu unangenehm und ich wollte einfach nur, dass sie ein Ende nahm.

„Ich finde die Idee zwar immer noch total bescheuert, aber Papa war schon lange nicht mehr so glücklich wie mit Silas. Ein Versuch wär's wert", gab ich nach, nur um hier rauszukommen. Silas würde sowieso absagen.

Luis warf mir über den Tisch hinweg ungläubige Blicke zu, doch ich zuckte nur mit den Schultern.

„Aber wir kochen was Leichtes. Und fragen nicht Matthias. Zur Not musst du eben aus Sternenfelde anrücken."

„Leute, tut mir leid, aber ich muss los. Mein Kurs für heute Vormittag wartet." Ohne sich richtig zu verabschieden, legte Jannik auf und hinterließ Stille. Dieser Idiot wusste wirklich immer, wie er brenzligen Situationen entkam.

Annika, verschränkte triumphierend ihre Arme vor der Brust und lehnte sich nach hinten, während Luis die Hände über den Kopf zusammenschlug.

„Das wird der größte Reinfall."

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