1. Frische Wunden
Elegant schlitt ich über's Eis.
Ich war umgeben von so vielen Leuten, die mir gespannt zusahen, wie ich eine perfekte Drehung nach der anderen machte. Sie warteten quasi nur noch darauf, dass ich einen Fehler machen würde.
Die Jury betrachtete mich mit Argusaugen.
Unter ihren strengen Blicken lief es mir eiskalt den Rücken runter, aber ich versuchte, sie einfach zu ignorieren.
Haley - meine beste Freundin - lachte fies und stieß Sean - unseren besten Freund - in die Seite, der daraufhin ebenfalls anfing fies zu lachen. Mein Dad saß auf einer Bank und schaute mir zu. Allerdings wusste ich nicht, was ich von seinem Gesichtsausdruck halten sollte.
Das war verwirrend.
Ich war verwirrt.
Einfach verwirrt.
Dann tauchte aus dem Nichts meine Mum vor mir auf. Zumindest glaubte ich das, sie sah ziemlich real aus. Vor Schreck hielt ich abrupt, verlor mein Gleichgewicht und segelte mit dem Hintern auf's kalte Eis.
Das Publikum fing sofort an zu lachen. Mir schoss die Röte ins Gesicht.
Von überall hörte ich „LOSER!".
Ich war den Tränen nahe und stand auf. Mum - oder zumindest das, was ich sah - sah mich mitfühlend an, aber ich wandte ihr den Rücken zu und wollte einfach nur noch weg hier. Ich schlitt auf den Ausgang der Eisfläche zu, wollte in meine Kabine rennen und mich für den Rest des Tages dort einsperren, aber meine Tränerin Jessy machte mir einen Strich durch die Rechnung Sie versperrte mir den Weg zur Kabine. „Nichts da! Solche Loser wie du müssen alles noch einmal machen!"
Haley und Sean lachten wieder fies hinter meinem Rücken.
Die erste Träne bahnte sich ihren Weg über meine Wange.
„Was habe ich euch getan!", schrie ich die beiden an. Die beiden, die ich mal für meine beste Freunde gehalten habe.
Haley zog spöttisch eine Augenbraue hoch. „Du bist so ein Loser. Kannst nicht einmal so eine einfache Choreo machen, ohne auszurutschen und dann zu heulen wie ein kleines Kind", sagte sie und brachte dann wieder in Gelächter aus, sie musste sich sogar an Sean festhalten, um nicht vor Lachen umzukippen.
Es war wie ein Schlag in die Magengrube.
Meine Augen weiteten sich, dann wurden sie dunkel vor Zorn.
„Weißt du was? Du bist nicht besser als ich!", schrie ich ihr Wut entbrannt entgegen und rannte, so gut wie es mit meinen Schittschuhen ging, an Jessy vorbei in meine Kabine.
„Durch diese sehr kurze Aufführung bitten wir nun den nächsten Teilnehmer auf die Eisfläche", ertönte es aus der Lautsprecheranlage.
Meine Tränen flossen wie ein Sturzbach über meine Wange.
Meiner Trauer ließ ich freien Lauf. Das brauchte sie. Sie musste endlich aus mir raus.
Ich zog meine Schlittschuhe aus und warf sie achtlos in meine Sporttasche.
Die Tür wurde aufgestoßen und Jessy kam mit stampfenden Schritten herein. „Was fällt dir ein, einfach vom Eis zu gehen, wobei ich dir gesagt habe, dass du alles noch einmal alles tun sollst! Wieso bist du hier? Dich braucht hier niemand! Verschwinde und tauche hier nie wieder auf!", schrie sie mich an. Ihr Gesicht war gerötet vor Zorn.
„Weißt du was? Liebend gerne!", erwiderte ich ebenso wütend und zog mir meine Jacke über. Dann nahm ich meine Tasche wandte der Eissporthalle den Rücken zu.
Die Leute schauten mich mit einem hinterhältigen Grinsen an.
„Könnt ihr nicht aufhören, mich so zu gegaffen?!", schnautzte ich sie an, aber sie hörten alle nicht. Es war, als würde ich gegen eine Mauer schreien. Die Tränen liefen mir wieder die Wangen entlang.
Sie lachten und schüttelten die Köpfe.
„Hört auf!", schrie ich verzweifelt und sank auf die Knie.
Scheiß Leben.
Am Liebsten würde ich alles aufgeben.
„Layla? Layla!"
Eine Stimme riss mich aus meinem furchtbaren Traum.
Schweißgebadet schreckte ich hoch. Die Sonne schien durch die Schlitze der Rollade und mein Vater hockte neben meinem Bett, natürlich perfekt gestylt für die Arbeit.
„Dad!" Ich fiel ihm weinend um den Hals.
„Beruhig dich", flüsterte er und fuhr mit einer Hand meinen Rücken auf und ab, „es bringt nichts, wenn du weinst. Damit verschlimmerst du es." Ich wusste nicht, ob er damit mich beruhigen wollte, oder nur sich selber. Er stand selber den Tränen nahe. Das merkte ich.
Dad war der Einzige, der mir noch geblieben ist. Mum hatte uns vor drei Tagen wegen den Folgen eines dämlichen Autounfalls verlassen müssen. Gestern war die Beerdigung gewesen, und die meiste Zeit über habe ich nur geweint.
Ich konnte einfach nicht glauben, dass sie tot war.
„Schatz, ich muss los. Machen wir nachher einen Filmabend? Mit Pizza und Popcorn?" Ich nickte und wischte mit die Tränen aus dem Gesicht. Noch war ich nicht in der Lage zu sprechen. „Gut. Wenn du etwas brauchst, du weißt ja, wo sich mein Büro befindet", sagte Dad und gab mir einen Kuss auf die Schläfe, ehe er aufstand und aus meinem Zimmer verschwand.
Ich saß eine Weile noch in meinem Bett, starrte auf die geschlossene Tür. Irgendwann erwachte ich aus meiner Starre und schlurfte langsam ins Bad. Seit Mum tot war, hatte ich keine Kraft mehr.
Für gar nichts.
Ich schaute in den Wandspiegel, und es wunderte mich nicht, dass ich wie ein Zombie aussah. Schließlich hatte ich die letzten drei Tage nur durch geheult. Meine Haare waren total zerzaust, meine Wimpern klebten zusammen und meine Augen waren rot und angeschwollen.
Ich wusch mir mein Gesicht, und versuchte es ein wenig auf Vordermann zu bekommen. Es gelang mir eher schlecht als recht, aber dann war es mir auch egal.
Meine Haare kämmte ich noch schnell durch und band sie zusammen.
Heute würde ich einfach zuhause bleiben, Training ausfallen lassen und es mir auf dem Sofa gemütlich machen. Nebenbei noch ein wenig weinen...Wer weiß.
Aus meiner Kommode nahm ich die verwaschene Jogginghose und einen von Mum's Pullis und zog diese an. Meinen Pyjamer schmiss ich achtlos in irgendeine Ecke, und machte mich dann auf den Weg zur Küche.
Die große Küche war ein weiterer Grund zum Heulen.
Nur zu gut konnte ich mich dran erinnern, wie wir noch vor Mum's Unfall Kuchen backen wollten, ihre Freundin aber wegen irgend einer Sache angrufen hatte und deswegen los musste.
Und geradewegs in ihren Tod fuhr.
Mir lief wieder eine Träne an der Wange hinab und tropfte auf den Fliesenboden.
Ich nahm eine Schüssel aus einem der hängenden Glasschränke und füllte die mit Cornflakes und Milch. Gerade als ich mich mit meinem Frühstück ins Wohnzimmer setzten wollte, klingelte es an der Haustür. Seufzend stellte ich die Schlüssel auf den Couchtisch und öffnete die Tür.
Vor mir stand ein junger Mann, ungefähr mein Alter, mit blondem Haar und Sonnebrille auf dem Gesicht und kaute betont lässig auf seinem Kaugummi.
„Ist Simon da?", fragte er anstatt mich zu grüßen.
„Nein, er ist in sein Büro gefahren", erwiderte ich patzig.
Der Typ brauchte nicht viel um bei mir ganz unten durch zu sein.
„Kannst du ihm das hier geben? Sag, es ist von einem Mr. Horan." Er drückte mir einen Breifumschlag in die Hand und wandte mir den Rücken zu. Dann verschwand er.
Verwirrt blieb ich am Türrahmen stehen und schaute ihm hinterher.
Wer war denn das bitte?!
Ich kannte viele Leute, aber der war wirklich der unsympathischste von allen.
Ich ließ die Haustür wieder ins Schloss krachen und schmiss den Briefumschlag mit der Aufschrift TOUR auf den Tisch. Endlich hatte ich wieder Zeit für mein Frühstück.
Gelangweilt schaltete ich mich durch die Kanäle. Nach endlosem Rumzappen entdeckte ich schließlich eine Sendung, die meine Situation haargenau widerspiegelte. Die Frau weinte und betrauerte den Tod ihres Mannes, und mir kamen auch wieder die Tränen. Ich machte schnell den Fernseher aus.
Ich vergrub mein Gesicht in meine Hände und fing an zu weinen.
Niemand konnte mir helfen.
Nicht einmal Dad.
Oder meine Freunde.
Nicht mal ich mir selbst.
Dieser betrunkene Typ hatte mir meine Mum genommen.
Das hatte sie nicht verdient.
Sie war glücklich verheiratet gewesen, hatte mich, und war eine erfolgreiche Autorin gewesen.
Aber ihr und mein Schicksal hatten wohl andere Pläne für unser ach so perfektes Leben.
Das niemals mehr perfekt sein würde.
Ich richtete mich auf, rannte in Mum's Arbeitszimmer. Es ist so als wäre sie noch immer hier. Nur nicht mehr geistig, und auch nicht physisch.
Sie war nicht hier.
Und würde aus auch niemals mehr sein.
Alles war so wie sie es das letzte Mal benutzt hatte.
Es herrschte Chaos. Überall lagen Blätter von ihrem uneröffentlichten Roman herum. An der Wand gingen Bilder von ihr, Dad und mir als wir einen spontanen Urlaub in Dubai gemacht haben, weil Dad auf Geschäftsreise musste und uns kurzer Hand mitgenommen hatte.
Ebenfalls hing eine Tonscherbe an der Wand. Ein Handabdruck von Dad, Mum und mir. Ich legte meine Hand auf den von Mum's. Ihre passte in meine, wie als wäre sie für mich gemacht.
Gedankenverlorenstrich ich über die Tonscherbe.
Dann sah ich mich um und mir fiel der offene Laptop auf.
Ich drückte auf den On-Knopf und der Bildschirm erleuchtete. Mit der Maus klickte ich auf Mum's Roman, den sie noch nicht fertig geschrieben hatte, und las die letzten Sätze. Diese hatte sie noch vor drei Tagen geschrieben. Kurz bevor sie zu ihrer besten Freundin fahren wollte.
Ich sah ihn voller Trauer und Hass an. „Ich will dich nie wieder sehen! Verschwinde aus meinem Leben!" Er wandte sich von mir ab. Rannte die Straße entlang. Plötzlich kam ein Auto um die Ekce gerast. Ehe ich mich versah, raste es genau auf ihn zu. Er wurde durch die Gegend geschleudert. „Nein...", flüsterte ich. Eine Träne rollte meine Wange hinab. „NEIN!" Ich rannte zu ihm und nahm sein blutüberströmtes Gesicht in meine Hände. „Bitte! Wach auf! Ich verzeihe dir auch alles, aber wach auf!" Doch seine Augen blieben verschlossen. "Bitte...", wimmerte ich und drückte sein Gesicht an mich. Der Autofahrer stieg mit bleichem Gesicht aus seinem Wagen und betrachtete ihn und mich. „Es tut mir so leid...Ich habe ihn nicht gesehen...", stotterte er und fuhr sich verzweifelt durch seine verwuschelten Haare. „Gehen sie!", schrie ich weinend und drückte ihn noch fester an mich. „Bitte geh nicht...", flüsterte ich in sein Ohr. „Geh nicht."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top