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"Olivia, beeil dich bitte! Wir müssen zum Flughafen!"
Es war Donnerstag. Der Tag des Umzugs. Mein Blick wurde ein wenig wehmütig, als ich im Türrahmen stand und ein letztes Mal das Zimmer begutachtete, in welchem ich aufgewachsen war und welches ich nun zurücklassen würde. Es standen nur noch die Möbel einsam und kahl herum, der Rest hatte seinen Platz in ein paar Koffern und einer Handtasche gefunden, die unten im Flur bereits auf mich warteten.
"Olivia!", rief meine Mutter erneut. Ihrer Stimme konnte ich entnehmen, dass sie genervt war. Ich seufzte, als ich einen letzten Blick in Richtung des bodentiefen Fensters warf, vor dem ich gestern noch gesessen hatte. Dieses Fenster würde mir ganz besonders fehlen. Ein letzter tiefer Atemzug. Es fühlte sich komisch an, die Tür zu schließen. Es war, als würde ich ebenfalls die Tür zu meinem alten Leben schließen.
"Komme!"
"Es ist schade, dass wir uns jetzt verabschieden müssen, aber ich bin mir sicher, du wirst New York rocken!" Jennys schiefes Lächeln munterte mich etwas auf, trotzdem war es traurig, dass es tatsächlich schon Zeit war, einander auf Wiedersehen zu sagen. Fest nahm ich sie über den Informationstresen der Redaktion in den Arm. Der Duft ihrer kirschroten Haare tröstete mich nur wenig. Wir kannten uns noch nicht lange, doch genau das machte diesen Abschied noch etwas trauriger. Hätte man uns ein wenig mehr Zeit gegeben, hätten wir tolle Erinnerungen schaffen können.
"Wir sehen uns im Frühling.", nuschelte ich in ihre Haarpracht, bevor ich sie losließ, ein letztes Mal ihr perfektes strahlendes Lächeln erwiderte und mich schließlich umdrehte. Als ich zurück zu meinen Eltern, Vanessa und Lilly ins Auto stieg schaute ich noch einmal über meine Schulter, sah wie Jenny mir durch die Glastür zuwinkte und hob ebenfalls die Hand. Sie und Lilly waren die einzigen, die ich in dieser Stadt vermissen würde. Und doch waren es genug Leute um meinen Abschied ein kleines bisschen schwerer zu machen.
Lillys Arme erdrückten mich fast zu Tode als würde sie meinen, ich würde mich jede Sekunde in Luft auflösen können. Der Flughafen war voller Leute und doch schien es in diesem Moment so, als gäbe es nur mich und meine beste Freundin.
"Schon ok. Bis zum Frühling dauert es doch gar nicht mehr so lange.", beruhigte ich meine Freundin leise, als ich ihre Schluchzer hörte, obwohl das nicht ganz stimmte. Auch in meinen Augen schimmerten Tränen, doch jetzt zu weinen würde absolut nichts bringen und so versuchte ich mich zu beherrschen.
"Ich weiß doch. Aber wir waren noch nie so lange voneinander getrennt.", hörte ich sie mit heiserer Stimme nuscheln. Es stimmte, bis jetzt hieß es immer: Lilly und Liv. Liv und Lilly. Ein "und" war alles was uns bisher getrennt hatte und nun würden es tausende von Meilen sein.
"Ich hab dich lieb, Lilly."
"Ich hab dich auch lieb, Liv."
Mein Vater schaute mich voller Stolz an, als ich schließlich vor ihm zu Stehen kam. Die Tasche in meiner Hand wurde langsam schwer und an uns drängten sich immer mehr Menschen vorbei, auf den Wegen zu den Terminals.
"Wir sind unglaublich stolz auf dich, Mäuschen.", sprach mein Vater mit einem zufriedenen Lächeln und sofort nickte meine Mutter zustimmend.
"Wenn etwas ist, melde dich einfach. Und wenn es noch so klein und unwichtig ist. Wir werden dir mit Freude zuhören." Mum nahm mich in den Arm, als würde sie mich das letzte Mal sehen, aber ich verstand, dass es ihr besonders schwerfiel, schließlich war ich ihre jüngste Tochter. Nachdem meine Mutter von mir abgelassen hatte, drückte ich meinen Vater und wandte mich meiner Schwester zu, die mich mit einem schiefen Lächeln anschaute.
"Viel Glück.", war alles was sie sagte und die Umarmung zwischen uns war nur wenig herzlich. Wir hatten nie wirklich ein gutes Verhältnis gehabt, aber das war okay. Dann, nur wenige Sekunden später, wurde auch schon mein Flug aufgerufen und ich drehte mich aufgeregt in Lillys Richtung.
"Soll ich dir was mitbringen? Nen T-Shirt? Ne Tasse? James Franco?" Meine beste Freundin lachte unter Tränen und bevor sie antwortete, zog sie mich noch in eine allerletzte Umarmung.
"James, bitte. Danke."
Ich schulterte meine Handtasche, schaute dann über die Schulter in Richtung meiner Familie und hob ein letztes Mal die Hand. Mein Lächeln wich einem tiefen Durchatmen, sobald ich um die Ecke verschwunden war und mich in Richtung meines Terminals bewegte. Ich hatte Angst, das gab ich zu. Und trotzdem konnte ich New York kaum erwarten. Ich hatte Glück einen Fensterplatz bekommen zu haben und ließ mich zufrieden auf dem dunkelblauen Stoffsitz nieder. Meine Tasche stellte ich auf meinem Schoß ab und neugierig sah ich aus dem Fenster unter welchem der rechte Flügel des Flugzeuges mich durch sein Weiß blendete. Ich checkte noch einmal meine Nachrichten, bevor ich mein Handy in den Flugmodus stellte und die Kopfhörer aus meiner Tasche kramte. Diesen Flug wollte ich absolut ungestört verbringen. Ungeduldig ließ ich meinen Blick durch das Flugzeug schweifen und blieb schließlich bei einem großen, fit aussehenden Mann, er war vielleicht nur ein paar Jahre älter als ich, in ausschließlich schwarzer Kleidung hängen. In seiner tattoowierten Hand hielt er sein Flugticket und über der Schulter hatte er eine schwarze Sporttasche hängen. Während er nach seinem Platz suchte und sich dabei mit uninteressiertem und genervtem Blick umsah, schaute ich ihn mir ein wenig genauer an. Seine dunkelbraunen, leicht gewellten Haare lagen verwuschelt auf seinem Kopf und hatten mal dringend wieder einen Schnitt nötig und der tiefe V-Ausschnitt seines schwarzen Shirts gab den Blick auf den verschnörkelten Schriftzug auf seiner Brust frei.
Tempus Fugit.
Die Zeit vergeht.
Ich wurde aus meinen Beobachtungen gerissen, als der Kerl schließlich vor dem freien Platz neben mir stehenblieb, mich lange anschaute und dann einmal tief seufzte. Na der war ja freundlich. Die Augen verdrehend wandte ich den Blick demonstrativ in Richtung Fenster und ignorierte, wie der, zugegeben ziemlich gut riechende, Typ sich neben mir niederließ, die Tasche vor seine Füße fallen ließ und dann erneut tief seufzte. Na das konnte ja was werden.
*
Von hier oben sahen die Wolken aus wie weiche Watte und am liebsten hätte ich meine Hände nach ihnen ausgestreckt um sie zu fühlen, doch das kleine Flugzeugfenster trennte mich von ihnen. Der fremde Kerl neben mir und ich hatten bisher weder ein Wort, noch einen Blick miteinander gewechselt, was mir ehrlich gesagt völlig recht war. Wie gesagt, diesen Flug wollte ich in Ruhe genießen. Ich starrte weiterhin aus dem Fenster, beobachtete die Landschaften, die unter den Wolken verborgen waren und manchmal zum Vorschein kamen und lauschte meiner Musik. Was der dunkle Typ tat wusste ich nicht und ehrlich gesagt interessierte es mich auch nicht wirklich. Bis er mir plötzlich auf die Schulter tippte. Ich stoppte meine Musik und zog mir einen Stöpsel aus dem Ohr, bevor ich mich zu ihm herumdrehte und ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue fragend ansah. Er sagte nichts, deutete nur auf den kleinen Essenswagen und die blonde Stewardess, die neben uns gehalten hatte und mit freundlichem Grinsen Essen und Getränke präsentierte.
"Ich möchte nichts, danke.", lehnte ich höflich lächelnd ab und die Blondine zog weiter. Der dunkle Typ hatte anscheinend bereits abgelehnt. Kurz beobachtete ich noch mit schräg gelegtem Kopf, wie er sich seine Kopfhörer wieder in die Ohren stopfte. Mit gelangweiltem Gesicht drehte er sich in meine Richtung und rasch wandte ich den Kopf, als ich seinen Blick sah. Aus dem Augenwinkel meinte ich ein kleines Schmunzeln erkannt zu haben. Leise räusperte ich mich, dann widmete ich mich wieder meiner Musik und den flauschigen Wolken.
Die Sonne war bereits untergegangen und die letzte Stunde des Fluges war angebrochen, als ich plötzlich etwas Schweres auf meiner Schulter spürte, was mir den Stöpsel aus meinem Ohr riss. Verwirrt drehte ich den Kopf, jedenfalls soweit es mir möglich war und musste seufzend feststellen, dass mein Sitznachbar seinen zerzausten Schopf auf meiner Schulter abgelegt hatte. Die gleichmäßige Atmung und das leise, kaum hörbare Schnarchen verrieten mir, dass er eingeschlafen war. Etwas überfordert versuchte ich meinen Kopfhörer unter seiner Haarpracht hervorzuziehen, doch vergeblich. Der schwere Kopf des jungen Mannes lag demonstrativ auf dem weißen Kabel und in dieser Position schaffte ich es nicht, ihn anzuheben. Seufzend gab ich auf. Die nächste Stunde hörte ich also nur noch aus einem Stöpsel Musik, beobachtete nun den dunklen, von hellen Sternen gesprenkelten Nachthimmel und ignorierte den Kopf auf meiner Schulter so gut es ging. Irgendwann musste ich dann wohl auch eingenickt sein, denn als ich durch die Durchsage dass wir nun landen würden, geweckt wurde, lehnte mein Kopf an der kalten Fensterscheibe. Verschlafen setzte ich mich auf und sah mich mit desorientiertem Blick um. Der Kerl neben mir war bereits wach und hatte sich abweisend von mir gedreht. Wenigstens lag sein schwerer Schädel jetzt nicht mehr auf meiner schmalen Schulter.
Die Landung verlief ohne Probleme und als ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, atmete ich erleichtert durch.
"Aus dem Weg."
Ich wurde etwas grob zur Seite geschoben und mein Sitznachbar, wer auch sonst, quetschte sich in dem schmalen Gang an mir vorbei, würdigte mich keines Blickes. Ich schüttelte nur den Kopf und sah dem schwarz Gekleidetem mit hochgezogener Augenbraue hinterher. Gut, dass ich den nie wiedersehen musste.
Es war das erste Mal, dass ich JFK Airport betrat und auch wenn es nur ein Flughafen und im Prinzip nichts Besonderes war, spürte ich trotzdem die Aufregung, die die Müdigkeit in mir verscheuchte. Als ich auf dem großen Parkplatz stand und meine Koffer gerade in den Kofferraum eines Taxis eingeladen wurden, schnupperte ich unauffällig die Luft. Ich konnte New York fast schon riechen.
Als die ersten Wolkenkratzer zu erkennen waren drückte ich mir beinahe die Nase am Fenster des Taxis platt, so fasziniert war ich von den großen Betonbauten.
"Willkommen in New York.", sagte der Taxifahrer, der um die 50 sein musste und lächelte mich durch den Rückspiegel ermunternd an. Man sah mir an, wie aufgeregt ich war.
Als wir Washington Square erreichten und ich zum ersten Mal das beeindruckend große Wohnheim der NYU sah, breitete sich in meinem Magen ein unangenehmes Ziehen aus. Hoffentlich würde das schnell wieder vorüber gehen. Der freundliche Taxifahrer half mir noch, meine Koffer und Taschen auf dem Bürgersteig abzustellen und ich bedankte mich bei ihm mit ein bisschen extra Trinkgeld. Und schließlich waren es nur noch ich, meine Koffer, die NYU und die große, unbekannte Stadt.
"Na los, Olivia. Das willst du seit Jahren.", machte ich mir selbst leise Mut, atmete dann noch einmal tief durch, das hatte ich in den letzten Tagen ziemlich oft getan, und machte mich schließlich daran, mein Gepäck ins Wohnheim zu bringen.
4ter Stock, Zimmer 4115. Als ich mein Zimmer das erste Mal betrat, war ich noch alleine gewesen, doch als ich ein zweites Mal die Tür aufschloss, ich hatte die Taschen geholt, die ich zuerst in der Eingangshalle hatte stehen lassen, befand sich ein fremdes Mädchen im Zimmer und klebte gerade ein ACDC Poster über ihrem Bett auf. Das musste meine Mitbewohnerin sein. Die Tür stieß dumpf gegen die Wand, da ich sie mit dem Fuß hatte aufstoßen müssen, meine Hände waren ja voll, was das Mädchen dazu brachte, sich in meine Richtung zu drehen.
"Oh!" Mit einem fetten Grinsen kletterte sie von ihrem Bett und kam auf mich zu.
"Hi! Ich bin Melli, deine Mitbewohnerin. Schön dich kennenzulernen!", plapperte sie drauf los, während sie sich kurzer Hand zwei meiner Taschen schnappte und diese auf mein Bett schmiss. Ihre langen, lila Haare fielen ihr dabei vors Gesicht und ich musste zugeben, dass sie ziemlich hübsch war. Dankbar lächelte ich ihr zu und stellte auch die letzte Tasche ab, bevor ich ihr meine Hand hinhielt und freundlich lächelnd antwortete: "Liv. Ebenfalls schön dich kennenzulernen."
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