45

In der Ferne war das Lachen der Hochzeitsgäste zu hören, in der Luft lag der Geruch von Frühling und im sanften Licht des Mondes sah ich hinunter auf die Hand, die meine hielt. Ein zufriedenes Lächeln schlich sich auf meine Lippen, während ich hinter Jack durch das Gras stolperte.
„Renn doch nicht so.", kicherte ich. Jack warf mir über die Schulter einen verschmitzten Blick zu.
„Wir haben schon so viel Zeit verschwendet, ich will nicht mehr warten."
Das Weiß seiner Zähne glänzte im Mondlicht, sein Lächeln, so glücklich und ehrlich, wie ich es noch nie gesehen hatte, jagte Schmetterlinge durch meine Magengegend. Endlich hatten wir das feuchte Gras hinter uns gelassen und auf dem Asphalt des dunklen Parkplatzes fiel es mir leichter, auf meinen hohen Schuhen zu Jack aufzuschließen. Grinsend stieß ich mit meiner Schulter gegen seinen Oberarm, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Jack schüttelte amüsiert den Kopf und schaukelte unsere ineinander verschränkten Hände vor und zurück. Es war ein faszinierender Anblick. Als hätte etwas endlich all die Schwere und den Schmerz von seinen Schultern genommen. Ich mochte diesen Jack. Nein, ich liebte diesen Jack. Und endlich war er meiner.
Mein schmachtender Blick löste sich von ihm, als wir endlich zum Stehen kamen, doch als ich sah, womit er hergefahren war, verdrehte ich die Augen.
„Du hast dir ein Motorrad geliehen? Echt jetzt?"
Grinsend zuckte Jack mit den Schultern und zog seine Hand aus meiner.
„War billiger. Außerdem ist es das perfekte Wetter um Motorrad zu fahren.", erklärte er, als er nach einem der schwarzen Helme griff. Zweifelnd warf er einen Blick auf meine kunstvoll hochgesteckte Figur und schüttelte dann den Kopf.
„Sicherheit geht vor.", sagte er, nachdem er den Helm auf dem Ledersitz abgelegt hatte und mit flinken Fingern in meine Haare griff.
„Hey!", protestierte ich lachend und versuchte mich vor seinem Angriff zu schützen, doch da fielen mir meine Haare auch schon in wirren Locken über die Schultern.
„Viel besser.", hauchte Jack und als er nach diesen Worten seine Lippen für einen kurzen Kuss auf meine legte, war jegliche Wut über die Zerstörung meiner Frisur – die nebenbei bemerkt 45 Minuten gebraucht hatte um so auszusehen – verflogen. Sogar für die paar Sekunden, die seine liebevolle Geste andauerte, schmolz ich dahin. Wer hätte gedacht, dass der Abstand all die Gefühle, die ich versucht hatte zu unterdrücken, nur noch verstärken würde?
„Warte!", rief ich, als Jack mir gerade den Helm überstülpen würde. Seine Hände froren mitten in der Bewegung ein, ein panischer Ausdruck huschte für ein paar Millisekunden über sein Gesicht.
„Was? Hast du es dir anders überlegt?"
Lachend schüttelte ich den Kopf. „Natürlich nicht, du Idiot. Ich habe nur meine Tasche vergessen."
Erleichtert atmete der Dunkelhaarige auf, spielerisch blitzten seine braunen Augen auf.
„Wer ist hier der Idiot?", neckte er mich, bevor er seufzend erneut den Helm weglegte.
„Bin gleich wieder da."
Kopfschüttelnd stapfte er davon. Ich versuchte wirklich, das tausend Watt helle Grinsen, welches mich in diesem Moment übermannte, zu unterdrücken, biss mir dafür sogar auf die Unterlippe, doch als ich Jack zurück zur Feier eilen sah, um meine Tasche zu holen, wurde es mir wirklich richtig klar. Wir hatten es geschafft.

Doch so schnell sich auch alles zum Guten wenden konnte, so schnell könnte es auch wieder zu Brüche gehen. Manchmal bröckelte etwas still und leise vor sich hin, doch manchmal stürzte deine ganze Welt vor deinen eigenen Augen mit einem lauten Krachen zusammen. Manchmal waren es nur kleine Momente, ein paar wenige Sekunden, doch es war genug, um alles zu ändern. Ich wusste, etwas Schlimmes war passiert, als ich Jack langsam auf mich zukommen sah. Plötzlich schienen seine Schultern wieder so schwer, nein, wenn möglich sogar noch schwerer. Das glückliche Lächeln, welches sich beim Entdecken seiner Silhouette auf meine Lippen gelegt hatte, erstarb so schnell, wie es aufgelebt war, als ich sah, was er in seiner Hand hielt. Selbst in der Dunkelheit erkannte ich den schwarzen, abgegriffenen Einband und die dicken, zerknitterten Seiten. In seiner Hand hielt er all die Fehler, die ich in den letzten Monaten begannen hatte.
Eine plötzliche Kälte spürend schlang ich zitternd die Arme um meinen Körper, traute mich gar nicht, in sein Gesicht zu sehen.
„Sieh mich an!", brüllte er mit so einer Wut, dass es mir die Tränen in die Augen trieb. Doch ich schaffte es nicht, den Blick vom dreckigen Parkplatzboden zu heben.
„Sieh mich verfickt noch mal an, Liv!"
Ich zuckte zusammen, schluchzend hob ich den Kopf und als ich den Sturm in seinen Augen toben sah, zerbrach mein Herz in eine Millionen Stücke.
„Lass mich erklären.", flehte ich, doch als Jack mein Notizbuch mit so einer unbändigen Wut vor meine Füße pfefferte, wusste ich schon, dass keine Erklärung, keine Entschuldigung dieser Welt, genug sein würde.
„Wenn du mich, meine Freunde und alles was wir sind so sehr hasst, wieso hast du mir eben noch versprochen, zurückzukommen?!", brüllte er, die Ader an seiner Schläfe pochte und wenn seine Augen Giftpfeile schießen könnten, würden sie es genau jetzt tun.
Ich hatte nicht einmal die Chance, das Wort zu ergreifen, Jack entschied sich, seine Frage selbst zu beantworten.
„Damit du noch mehr unserer Geheimnisse aufdecken konntest, richtig?! All das, Mellis Affäre, Der Unfall, Kathys Wette, der Drogenmissbrauch, war das nicht genug für dich?!"
Ich fand keine Worte. Ich konnte es ganz einfach nicht erklären.
„War unsere Freundschaft verdammt noch mal immer noch nicht genug?! Was brauchst du denn noch alles, bevor du endlich genug hast?! Hattest du vor Mr. Abrahams zu erpressen? Mich anzuzeigen? Was hätte dein kleines, selbstsüchtiges Herz endlich zufriedengestellt, hm?!"
Schluchzend vergrub ich mein Gesicht in den Händen, heiß rannten die Tränen über meine Wangen und aus meinen leisen Schluchzern war ein schlimmer Schluckauf geworden.
„Du hast mir so ein schlechtes Gewissen wegen dieser beschissenen Wette gemacht und wusstest währenddessen ganz genau, was du selbst tust! Weißt du was, du hast es verdient! Du hast es verdient, dass Kathy und ich in dir nicht mehr sahen als ein Mittel zum Zweck! Du hast diese eine Nacht verdient, Liv!"
Mittlerweile gaben meine Beine unter mir nach, all meine Kraft schien mich mit einem Male zu verlassen und von Schwindelgefühlen geplagt, sackte ich auf dem kalten Asphalt neben meinem Notizbuch zusammen.
Eine Weile lang war es still und ich dachte schon, Jack hätte mich zurückgelassen, doch als ich mit vor Tränen verschwommener Sicht zu ihm hochsah, stand er noch immer da. Die Hände an den Seiten zu verkrampften Fäusten geballt, seine Wangen rot vor Wut und in seinen Augen war kein Funken des warmen Brauns zu sehen, welches ich so zu lieben geleert hatte. Nein, als er mich in diesem Moment ansah, waren sie schwarz und leer.
„Nicht ich bin der Bösewicht dieser Geschichte, Liv." Kalt schüttelte er den Kopf und ich sah ihm an, dass es fast vorbei war. Er war nur Bruchteile davon entfernt, mich endgültig zu verlassen und es gab nichts auf dieser gottverdammten Welt, dass ich hätte tun können, um dies zu ändern.
Die Kälte, die Abweisung in seiner Stimme jagte einen eisigen Schauer über meinen Rücken.
„Du bist der Bösewicht deiner eigenen Geschichte, Liv."
Und mit diesen Worten war es vorbei. Hinter einem Schleier aus Tränen sah ich ihm dabei zu, wie er auf das Motorrad stieg und ohne noch ein einziges Mal in meine Richtung zu schauen davonfuhr. Und alles was er zurückließ war ein weinendes, nicht einmal bemitleidenswertes kleines Häufchen Elend. Und einen Haufen Scherben, die einst mein Herz gewesen waren.

Fast jeder war am Tanzen, oder in anregende Gespräche vertieft. Jeder, außer mir. Regungslos starrte ich in Richtung Parkplatz, an jene Stelle, an welcher ich eben noch mit Jack gestanden hatte, fröstelnd, alleine, leer. Ich hörte das Geräusch von Absätzen auf Stein, das Rascheln eines langen, bauschigen Kleides und als Lilly sich auf den freien Stuhl neben mir setzte, schaute ich sie nicht an.
„Wo ist er?", fragte sie leise, vorsichtig.
„Weg.", hauchte ich mit dünner Stimme, mein Blick noch immer gefühllos, mein Herz kalt und kaputt. Ich spürte ihren traurigen und mitleidigen Blick auf mir, doch ich wollte nicht mehr so angeschaut werden.
„Es war meine Schuld.", murmelte ich.
„Ich habe ihn ausgenutzt."
Tröstend legte Lilly ihre Hand auf meiner ab.
„Das tut mir leid.", flüsterte sie, ihre Stimme belegt vor Trauer. Doch ich zuckte nur teilnahmslos mit den Schultern.
„Ich hab es verdient."
„Ja, vielleicht, aber auch du kannst dir eine zweite Chance verdienen.", flüsterte sie sanft. Ich schüttelte den Kopf.
„Ist doch alles egal. Jetzt wird sich nichts verändern. Weder für mich, noch für ihn. Wir sind nicht mehr Teil des anderen Lebens. Alles bleibt, wie es immer hätte sein sollen."
„Warum gibst du auf? So kenne ich gar nicht. "
Kurz schloss ich die Augen, als ich an den schmerzhaften Moment dachte, in dem ich ihn verloren hatte.
„Er hat mir klargemacht, dass ich selbst für mein Unglück verantwortlich bin. Ich kann ihn nicht einmal beschuldigen. Klar, er hat diese bescheuerte Wette mit Kathy abgeschlossen, aber wenigstens hat er es mir gestanden.", erklärte ich mit belegter Stimme und stöhnte genervt, als neue Tränen meine Sicht trübten.
„Aber selbst als er da so vor mir saß und gebeichtet hat, was er getan hatte, habe ich kein Wort gesagt! Ich habe ihn als schlechten Menschen bezeichnet und dabei völlig außer Acht gelassen, dass ich selbst auch einer bin!", schluchzte ich und schaute meine beste Freundin verzweifelt durch Tränen an.
„Du bist kein schlechter Mensch. Und tatsächlich glaube ich, dass Jack auch kein schlechter Mensch ist. Vielleicht wäre zu einem anderen Zeitpunkt alles anders gekommen."
Trocken lachte ich, wisch mir mit der Handfläche die Tränen von den Wangen und warf dann zitternd die Hände in die Luft.
„Also hat das Universum uns einfach nur zu einem falschen Zeitpunkt hat aufeinander treffen lassen?"
Bestimmt schüttele Lilly den Kopf und griff nach meiner Hand. Mit eindringlichem Blick sah sie mich an.
„Nein. Ich glaube, all das ist passiert, damit ihr beide stärker aus allem hervorgehen könnt. Alleine, vielleicht aber auch zusammen. Liv, bereust du ihn zu lieben?"
Schwer schluckend senkte ich den Blick und runzelte die Stirn. Schmerzhaft dachte ich an all die glücklichen Momente, die wir gemeinsam verbracht hatten. Das Empire State Building, die High Lane, der Kuss im Grande Seven. Wenn all das nicht passiert wäre, würde ich jedes kleine Erlebnis schmerzlich vermissen. Alleine die Vorstellung tat unglaublich weh.
„Nein.", hauchte ich schließlich und auf Lillys Lippen bildete sich ein vorsichtiges Lächeln.
„Liv, alles was ich mir für dich wünsche ist, dass du mit einem Lächeln auf deine Zeit in New York zurückblicken kannst. Dass du an Jack mit einem Lächeln denken kannst. Vielleicht ward ihr nie dazu bestimmt zusammen zu sein. Nicht alle Menschen, die du triffst, sind dazu bestimmt in deinem Leben zu bleiben. Aber jeder wird dich etwas lehren. Jack, Melli und all die anderen, sie alle haben dich etwas gelehrt. Du kannst jetzt entscheiden, ob du dafür kämpfen willst, sie in deinem Leben zu behalten, oder ob du dafür kämpfst, ohne sie weiterzuleben."
Kurz war es still, als ich über ihre Worte nachdachte und mich fragte, wann meine beste Freundin bitte so klug und erwachsen geworden war. In diesem Moment bereute ich nur, dass ich nicht an ihrer Seite gewesen bin, als es passiert ist. Mit einem liebevollen Lächeln wischte sie mir eine Träne aus dem Gesicht und dankbar schmiegte ich meine Wange gegen ihre warme Handfläche.
„Aber ich bitte dich, nein, ich flehe dich an: Brich nicht weiter dein eigenes Herz. Es ist Zeit weiterzumachen."


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