42 (Special)

Es war dunkel. Selbst das grelle Licht der Straßenlaternen schaffte es nicht, die dunkelsten Ecken, die tiefsten Schatten der Stadt auszuleuchten. Ich war in einer der schlimmen Ecken New Yorks gelandet und ich wusste nicht einmal wirklich, wie es so weit gekommen war. Die rauen Backsteine der alten, verlassenen Firma gruben sich in meinen Rücken und hinterließen einen belebenden Schmerz, während ich genüsslich den letzten Zug meiner Zigarette rauchte und dann den Glimmstängel auf den dreckigen Boden fallen ließ. Es war kurz nach Mitternacht, der Mond stand hoch am Himmel und ich wartete ungeduldig auf meine Verabredung. Offensichtlich war er jedoch bis jetzt noch nicht aufgetaucht und würde er seinen kleinen, armen Hintern nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten in diese verruchte Gegend bewegen, konnte er sich auf etwas gefasst machen.
Der nächtliche Frühlingswind wurde stärker und fröstelnd stellte ich den Kragen meines schwarzen Mantels auf. So langsam wurde ich sauer. Stinksauer. Ich wartete nicht gerne und ich würde sicherstellen, dass der Glatzkopf dies auch erfuhr, wenn er endlich aufgetaucht war. Es vergingen vier weitere Minuten, in denen ich eine weitere Zigarette zur Beruhigung rauchte, dann sah ich den Mann, auf den ich jetzt schon eine dreiviertel Stunde wartete, um die Ecke biegen.
„Na endlich. Hast du dich auf dem Weg eingepisst vor Angst, oder warum hat das solange gedauert?", knurrte ich und richtete mich zu meiner vollen Größe auf, als er mich schließlich erreicht hatte.
„Sorry, Jack. Aber meine Frau fängt an Verdacht zu schöpfen und-"
Mit einer gelangweilten Handbewegung brachte ich den Älteren zum Schweigen.
„Das interessiert mich nicht. Wenn du all deine Kunden so lange warten lässt, such ich mir bald 'nen neuen Dealer."
Beschwichtigend hob der Glatzkopf die Hände, bevor er verstimmt: „Ich bin ja jetzt da, meine Fresse." grummelte und dann die Augen verdrehte.
Ich seufzte genervt.
„Lass es uns jetzt einfach zu Ende bringen. Ich würde gerne irgendwann noch nach Hause."
Flüchtig sah der kleine Mann sich um, bevor er sich einmal mit dem Daumen über die Unterlippe fuhr und mir dann schließlich mit einer geübten Handbewegung ein kleines Tütchen zuwarf. Rasch überprüfte ich die Ware, bevor ich ihm sein Geld zusteckte und dann freundschaftlich mit ihm einschlug.
„Also dann, bis zum nächsten Mal.", verabschiedete er sich, nachdem er das Geld nachgezählt hatte und schaute sich noch einmal prüfend um, bevor er die Hände tief in den Taschen seiner Windjacke vergrub und schließlich um die Ecke verschwand.
Ich seufzte leise und verstaute das Tütchen in meiner Innentasche, zündete mir dann noch eine letzte Zigarette an, während ich langsam schlendernd die Gasse verließ und genüsslich den Rauch einzog. Erschrocken zuckte ich zusammen, als sich mir plötzlich eine zierliche Gestalt in den Weg stellte und beinahe hätte ich den Glimmstängel fallen gelassen. Ich erkannte die Figur sofort und genervt verdrehte ich die Augen, als mir klar wurde, dass ich jetzt ziemlich tief in der Scheiße steckte.
„Ich wusste es. Du scheinheiliger Mistkerl.
„Was willst du hier?"
„Ist das dein Ernst, Jack? Willst du wirklich so tun als hätte ich dich nicht gerade beim Drogenkauf erwischt?" Fassungslos schüttelte meine kleine Schwester den Kopf, ihre unordentlichen Haare flogen dabei wild hin und her.
Genervt stöhnte ich auf und versuchte mich an Melli vorbeizuschieben, doch sie machte einen langen Schritt zur Seite und schnitt mir erneut den Weg ab.
„Melli!", knurrte ich, nicht in der Verfassung mit meiner Schwester zu diskutieren, besonders solange wir uns noch in dieser gottverlassenen Gegend befanden. Grob zerrte ich sie am Oberarm zur Seite und stiefelte dann weiter in Richtung meines Motorrads, Melli dicht auf meinen Fersen.
„Wir haben Scheiße gebaut, okay? Aber das ist kein Grund, sein Leben zu zerstören! Nicht schon wieder Jack, bitte, nicht noch einmal!", hörte ich sie mir hinterherrufen, ihre Stimme beinahe flehend, doch ihre Worte machten mich nur wütend. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, als ich zu ihr herumwirbelte und das so schwungvoll und plötzlich, dass sie gegen meine Brust knallte.
„Hör auf! Das hier hat nichts mit dem zu tun was passiert ist! Mir ist der ganze Mist scheißegal, ich will einfach nur meine Ruhe und ein paar Joints rauchen, okay?!", fauchte ich und spürte, wie mein Gesicht heiß vor Wut wurde.
Trocken lachte Melli und verschränkte kopfschüttelnd die Arme vor der Brust.
„Wenn dir alles so egal wäre, würdest du nicht gleich ausrasten, wenn ich versuche mit dir darüber zu reden." Auf einmal schien sie verdächtig ruhig zu sein.
„Ich hab keinen Bock auf deinen moralischen Bullshit! Lass mich einfach in Ruhe!"
Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen stapfte ich zu meiner Maschine und kramte in meiner Hosentasche nach meinem Handy, als sich plötzlich eine kleine Hand in die Innentasche meines Mantels schob.
„Melli!", brüllte ich, als ich kapierte, was sie da tat und versuchte ihr das Tütchen aus der Hand zu reißen, doch sie reagierte schnell und bevor ich mich versah, rannte sie davon. Kurz stand ich völlig verdattert da, bis ich es endlich schaffte zu reagieren und meine Beine in Bewegung zu versetzen.
„Verfickte Scheiße, Melli!", brüllte ich aus vollem Halse, während ich hinter ihr herrannte, wie ein Hund, der ein Eichhörnchen jagte. Das Trampeln meiner Boots hallte an den Steinwänden der Häuser wieder, genauso wie mein Atem, der immer schneller und flacher ging.
„Halt sofort an!"
„Vergiss es!", rief sie mir über ihre Schulter hinweg zu, ohne dabei auch nur ein kleines bisschen langsamer zu werden.
So langsam wurde ich panisch. Wenn mich jemand sah, wie ich in dieser Gegend fuchsteufelswild ein Mädchen verfolgte, würde man mir direkt die Polizei auf den Hals hetzen. Innerlich verfluchte ich, dass meine Schwester schon als Kind schneller rennen konnte als ich und es mir immer egal gewesen war. Bis zu diesem Moment.
Endlich schien Melli langsamer zu werden und erleichtert tat ich es ihr gleich, bis ich erkannte, was sie vorhatte.
„Wag es ja nicht!", schrie ich keuchend, mein Gesicht rot vor Wut, oder der Anstrengung, da war ich mir ehrlich gesagt nicht ganz sicher. Ihre Brust hob und senkte sich, als sie keuchend nach Atem rang, die Hand, in der sie mein Tütchen hielt, schwebte über der hüfthohen Mauer, unter ihr das dunkle Wasser des East Rivers. Ein herausforderndes Grinsen machte sich auf ihren Lippen breit und sofort beschleunigte ich meine Schritte wieder, stürmte wie ein Irrer auf sie zu, doch als ich endlich bei ihr ankam und nach meinem Gras greifen wollte, konnte ich nur noch dabei zu sehen, wie es ins Wasser hinunter segelte.
„Verfickte scheiße!", brüllte ich und fuhr mir mit vor Wut verkrampften Fingern durch die Haare, während ich 200 Dollar in den Fluss fallen sah.
„Scheiße, scheiße, scheiße!"
„Hast du dich jetzt wieder eingekriegt?", fragte Melli genervt, nachdem sie meinen verzweifelten Zusammenbruch eine Weile lang beobachtet hatte.
„Fick dich.", fauchte ich, drehte mich um und überlegte mir bereits, wie ich das Geld für neues Gras zusammenkratzen sollte, als ich sie hinter mir rufen hörte: „Wann fliegst du nach Jacksonville?"
„Was soll ich in Jacksonville?", rief ich zurück, ohne mich umzudrehen und mein Handy in der Hand, um meinen Boss nach einer Extraschicht zu bitten. Wenn ich genug Trinkgeld bekam, sollte ich das Geld in zwei, vielleicht drei Abenden wieder drin haben.
„Ist das dein Ernst?"
Genervt stöhnend wirbelte ich herum und warf die Arme hoch.
„Was willst du von mir, Melli?"
Wütend trampelte sie hinter mir her, einen Zeigefinger drohend auf mich gerichtet, doch wirklich angsteinflößend wirkte sie dabei nicht.
„Dass du dich zusammenreißt und uns Liv zurückholst!"
Dass ich merklich zusammenzuckte, als ich ihren Namen hörte, war unbeabsichtigt und erschreckte mich mindestens genauso sehr wie Melli, deren Blick sofort ein wenig sanfter wurde. Langsam ließ ich das Handy sinken.
„Ich kann sie nicht zurückholen.", presste ich hervor, aber Melli schüttelte nur ablehnend den Kopf.
„Das stimmt nicht. Du bist der Einzige, der sie zurückholen kann. Weder ich, noch Luna, oder die Jungs können das. Wir wollen sie alle wiederhaben, du musst das für uns tun. Und am allerwichtigsten: Für dich.", redete sie auf mich ein. Die Kiefer fest aufeinander gepresst schaute ich zur Seite auf die feuchte Straße und mied den eindringlichen Blick meiner Schwester so gut ich konnte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie mich jemals weinen gesehen hatte und ich würde das heute auch nicht ändern. Es war schon schlimm genug mir einzugestehen, dass ihr Name alleine so viel ausrichtete, doch wenn Melli das herausfinden würde, wäre es noch viel schlimmer.
„Liebst du sie?"
Ich antwortete nicht. Nicht weil ich die Antwort nicht kannte, oder weil ich es nicht sagen wollte, nein. Ich konnte nicht. Nicht schon wieder. Nicht nachdem was beim letzten Mal passiert war. Ich konnte sie noch vor mir sehen, als ich ihr alles gestanden hatte, die Wahrheit über meine Gefühle und wie das alles völlig lächerlich klang, selbst in meinen Ohren und sie unter Tränen herauspresste, dass es mir egal war, dass sie sich in mich verliebt hatte. Es war das erste Mal, dass ich solche Worte aus ihrem Mund gehört hatte und es war zum schlechtesten Zeitpunkt, den man sich auch nur hätte denken können.
„Jack! Liebst du sie?", fragte Melli erneut, dieses Mal eindringlicher, bestimmter. Stöhnend schüttelte ich den Kopf.
„Lass mich in Ruhe."
„Liebst du sie?!", schrie sie mich plötzlich an und das brachte das Fass endgültig zum Überlaufen.
„Ja! Verdammte, Scheiße! Ja, ich liebe sie! Ich liebe sie so sehr, dass es mich innerlich zerreißt, wenn ich an das denke, was ich ihr angetan habe! So sehr, dass alleine ihren Namen zu hören, geschweige denn an sie zu denken, mich so verdammt wütend macht, dass ich mir am liebsten selbst eine reinhauen würde, okay?! Zufrieden?!", brüllte ich meine Gefühle heraus, sah meiner Schwester dabei die ganze Zeit direkt und unverfroren ins Gesicht und als ich fertig war, hob und senkte sich meine Brust in einem so schnellen Tempo, dass ich fürchtete, gleich umzukippen. Und das schlimmste an meinem Ausbruch war, dass er ein zufriedenes Lächeln auf Mellis Lippen gezaubert hatte.
„Gut. Dann steig verdammt noch mal in den nächsten Flieger und hol uns unser Mädchen zurück."

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