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War es eine absolut hirnrissige, unangebrachte und unvernünftige Idee Max, einen Mann, den ich noch immer kaum kannte und Monate lang nicht gesehen hatte, zu der Hochzeit meiner besten Freundin einzuladen? War es der absolut schlechteste Zeitpunkt, um auf diese Art Verabredung zu gehen? Oh ja, das war es. Bereute ich es sogar, nicht einfach wie nach Plan weiterhin vorzuhaben, alleine hinzugehen? Verdammt, das tat ich. War besagte beste Freundin absolut begeistert von der Idee, dass ich mich nach der Pleite mit Jack direkt in eine wilde und stürmische Affäre mit dem älteren Mann stürzte? Aber sowas von. Ich konnte gar nicht sagen, was ich unglaublicher fand. Dass ich ihn einfach so spontan, ohne vorher überhaupt einmal darüber nachgedacht zu haben, eingeladen hatte, oder dass er tatsächlich zugestimmt hatte. Er hatte ja gesagt, meinte er würde sich freuen und trank dann zufrieden von seinem Kaffee. Mit weit aufgerissenem Mund hatte ich ihn in Mimi's Café angestarrt und Lilly, die von meiner Frage so abgelenkt war, dass sie Alessio völlig ignorierte und stattdessen laut quietschte und begeistert in die Hände klatschte, fing sofort an, ihm alle Einzelheiten über den großen Tag zu unterbreiten. Alessio und ich hatten uns nur mit großen Augen angeschaut, beide gleichermaßen überrascht. Ob es nun wegen meiner Frage, Max' Antwort, oder Lillys Reaktion war, wusste ich nicht zu sagen.

*

Es war der Abend vor Lillys Hochzeit, als alles wieder hochkam. All die Wochen, die ich nun wieder in Jacksonville war, hatte ich es geschafft, ihn langsam aber sicher mit immer mehr Erfolg aus meinen Gedanken zu vertreiben. Doch als ich an diesem Abend beobachtete, wie meine beste Freundin mit Plastikdiadem und pinkem Tutu auf der Theke ihrer Lieblingsbar tanzte und fröhlich jauchzend Bruno Mars' Marry You schmetterte, all ihre Freundin jubelnd um sie herum versammelt, Sektflaschen und ihre hohen Schuhe in den Händen, wurde mir erst so richtig klar, dass sie ab morgen eine verheiratete Frau sein würde. Eigentlich sollte man an einem Jungesellinnenabschied doch so richtig Spaß haben und ordentlich die Sau rauslassen, doch das gelang mir einfach nicht. Es gab auf jeder Party eine Spaßbremse und wie immer erfüllte ich diese Position. Ja, ich trank und feierte mit den Mädels, die meisten von ihnen waren nur Bekannte für mich, doch als wir gegen zwei Uhr nachts eine Verschnaufpause einlegten und uns unter den Sternenhimmel im Park setzten, schaffte ich es einfach nicht mehr, die bösen Gedanken zu verdrängen. Sobald das taufeuchte Gras meine Zehen gestreichelt hatte, rasten Bilder durch meinen Kopf, von Jack und den Freunden im Park. Die Nacht, in der Melli sich mit Maple, dem Ahornbaum, unterhalten hatte und ich Jack anmachen musste. Und genau da war er wieder. Jack. Wieder geisterte er durch meine Gedanken und hinterließ ein unangenehmes Frösteln auf meinen Unterarmen.
„Also, da Lilly in knappen 18 Stunden eine langweilige Ehefrau werden wird und nie wieder aufregende Männerabenteuer erleben darf, finde ich, sollten wir ihr einen Vorrat mitgeben!", lachte Grace, Lillys Freundin von der Arbeit und während alle anderen um mich herum in Quietschen, Kichern und Schreien ausbrach, schloss ich die Augen, als mich ein schmerzhafter Stich in den Magen traf.
Mit qequältem Lächeln hörte ich mir ihre Geschichten an. Ich erfuhr die aufregendsten Geschichten, von heißen One-Night-Stands, verbotenen Affären und romantischen Dates und als ich an der Reihe war, konnte ich nur überfordert herumdrucksen.
„Na komm schon, Liv! Du wohnst in New York, was macht man da schon anderes, als sich heiße Männer zu krallen?", kicherte eine besonders betrunkene und sehr blondierte Freundin von Lilly. Ich versuchte angestrengt, fast schon krampfhaft, ihnen nicht den Spaß zu verderben und erzählte einfach von meinem Date für die Hochzeit. Glücklicherweise stellte sie das zufrieden und als eine der Brautjungfern anfing von ihrem Freund zu erzählen, starrte ich nur mit zusammengeschobenen Augenbrauen auf den Boden vor mir. Um mich abzulenken rupfte ich das feuchte Grass aus, ließ es durch meine Finger gleiten und rupfte dann einen anderen Halm aus. Ich tat das schon eine ganze Weile lang, als ich mich beobachtet fühlte und den Kopf hob. Lillys Blick war so voller Trauer und Mitleid, dass ich fast auf der Stelle anfing zu weinen.
Man sagte, die Zeit würde alle Wunden heilen. Doch entweder litt ich unter einem schlimmen Fluch, oder die Wunde war einfach viel zu groß um jemals überhaupt wieder zu heilen, denn bis jetzt hatte die Zeit nen Scheiß getan. In dieser Nacht tat es sogar mehr weh, als jemals zuvor.
Lilly ächzte, als sie sich aufrappelte und mit entschuldigendem Lächeln erklärte: „Ich muss mal ein paar Schritte gehen, um ein wenig auszunüchtern. Erzählt ruhig weiter."
Während sie die Sektflasche an Grace reichte, schaute sie mich abwartend an.
„Kommst du mit?"
Dankbar für die Chance, den Geschichten der anderen zu entkommen, nickte ich und folgte der Blondine ein paar Meter in Richtung des runden Teiches in der Mitte des Parks. Eine Weile schwiegen wir nur, bis wir am Rande des Teiches angekommen waren und Lilly seufzend stehenblieb, sich bückte und nach einem flachen Stein griff, der im seichten Wasser lag.
„Wie geht's dir mittlerweile mit der ganzen Sache?", fragte sie mich, reichte mir den Stein und fischte dann nach einem neuen.
„Ich will nicht an deinem großen Tag über mich reden.", erklärte ich ihr und sah zu, wie sie den Stein warf und er dreimal auf dem dunklen Wasser hüpfte.
„Sei nicht albern. Der Tag hat doch noch gar nicht richtig angefangen. Ich habe noch den ganzen Nachmittag, den Abend und die gesamte Nacht für mich."
Nachdenklich drehte ich den nassen Stein in meinen Händen hin und her.
„Beschissen.", beantwortete ich schließlich ihre Frage, warf den Stein und seufzte genervt, als er mit einem lauten Plop ins Wasser fiel, ohne auch nur ein einziges Mal zu hüpfen. Aus dem Augenwinkel konnte ich ihren besorgten Blick sehen, doch ich drehte mich nicht in ihre Richtung. Mit verschränkten Armen schaute ich aufs Wasser, beobachtete die langsam verschwindenen Ringe, dort wo mein Stein untergegangen war.
„So etwas heilt nicht über Nacht, Liv. Weißt du noch damals, als ich mich furchtbar in Peter aus unserem Mathekurs verliebt hatte?"
Nickend drehte ich ihr den Kopf zu.
„Du hast zwei Tage lang geweint, nachdem er dich im Sportunterricht umgerannt hatte und dann fragte, ob du neu an der Schule wärst."
„Dabei hatte ich ihm einen Monat lang Nachhilfe in Mathe gegeben, ist das zu fassen?", kicherte sie
„Danach hast du drei Monate lang jeden Kurs geschwänzt, den du mit ihm hattest und wärst beinahe sitzengeblieben.", grinste ich.
„Genau! Also, was hat mir dieser Kerl eingebrockt? Ich musste beinahe die zehnte Klasse wiederholen! Und noch heute bin ich grottig in Mathe und ne absolute Sportniete!", grunzte sie vergnügt und schüttelte den Kopf.
„Ach komm, deine Unfähigkeit einen Bocksprung zu machen, liegt nicht an Peter Anderson!", ärgerte ich sie mit neckendem Unterton.
„Nein, vermutlich nicht.", stimmte sie mir leise und mit einem nostalgischen Grinsen auf den Lippen zu. Dann wurde ihr Blick mit einem Mal wieder ganz ernst.
„Was ich damit sagen will ist, ist dass es okay ist, dass du leidest. Es ist okay zu trauern, es ist okay, dass du ihn vermisst und dir wünschtest, du könntest die Zeit zurückdrehen. Das ist alles Teil des Heilungsprozesses. Und eines Tages, bist du darüber hinweg und kannst bei der Erinnerung an ihn vielleicht sogar so lachen, wie ich, wenn ich an Peter denke."
Ein fetter Kloß steckte in meinem Hals als ich ihr nickend zustimmte. Schwer schluckte ich, doch ich schaffte es einfach nicht mehr die Tränen zurückzuhalten.
„Ich hatte ihn wirklich geliebt, weißt du?", krächzte ich plötzlich. Lillys Blick wurde verständnisvoll.
„Ich weiß, Liv. Und glaub mir, ein wenig wirst du ihn immer lieben. Auch wenn du das gar nicht willst. Wie sagt man: Die Zeit vergeht, die Liebe bleibt. Nur wird es eines Tages nicht mehr so schrecklich wehtun, das kann ich dir versprechen."
Schluchzend brach ich zusammen, ließ mich in Lillys schlanke Arme fallen und versteckte den Kopf in ihren blonden Locken.
„Ich danke dir. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde. Danke. Danke für alles. Du bist die beste Freundin, die man sich wünschen kann und ich weiß gar nicht, wie ich in New York ohne dich weiterleben soll. Ich liebe dich."
Fest drückte meine beste Freundin mich an sich, strich mir mit den Händen über den Rücken und wiegte uns langsam hin und her. Wie oft hatte sie mich schon so in den Armen gehalten, wenn sich das Universum mal wieder dazu entschieden hatte, mich zu ärgern? Ich konnte es nicht einmal sagen, so oft war es. Wie hatte ich es bisher nur so lange in New York ohne sie schaffen können?
„Ich liebe dich auch, Süße. Und glaub mir, du wirst das schon schaffen. Du bist die stärkste Frau die ich kenne. Die haben dich da alle doch gar nicht verdient." Ihre Stimme war dünn und brüchig und als ich eine heiße Träne in meinem Nacken spürte, wurde mein Schluchzen nur noch schlimmer.
So standen wir eine halbe Ewigkeit lang am Ufer des kleinen Teichs, Arm in Arm, beide am Weinen und das Lachen der anderen Mädchen noch im Hintergrund, bis wir keine Tränen mehr zum Weinen übrighatten und uns langsam voneinander lösten.
„Meine Güte, du wirst morgen heiraten, ist dir das eigentlich klar?" Fassungslos schüttelte ich den Kopf und begann, mit meinem Daumen die Tränen von ihren Wangen zu wischen. Ein helles Lachen rollte über ihre Lippen. Überschwänglich nickte sie und legte dann einen Arm um mich, sodass wir Arm in Arm zu den anderen zurückschlendern konnten.
Der Rest der Nacht verschwamm vor meinen Augen, nachdem die Mädels auf die Idee kamen, ein Trinkspiel zu spielen und ich war einfach nur heilfroh, als ich am nächsten Morgen alleine in meinem eigenen Bett aufwachte. Zugegeben, ich hatte es nicht geschafft mich umzuziehen und stank fürchterlich nach Schweiß und Sekt und von innen bearbeitete jemand meine Stirn mit einem Presslufthammer, doch ich hatte es nach Hause geschafft.
Gähnend griff ich nach meinem Wecker um die Uhrzeit zu checken und stieß einen erschrockenen Schrei aus, als ich sah, dass es bereits zwölf Uhr mittags war und ich um zwei Uhr Lilly abholen musste. Da der Bräutigam die Braut traditionell vor der Hochzeit nicht sehen durfte, hatte Alessio in dem Hotel übernachtet, wo auch die große Feier stattfinden würde und als erste Brautjungfer hatte ich mich gerne dazu bereiterklärt, die führerscheinlose Braut von ihrer Wohnung ins Hotel zu bringen. Doch wenn ich mich jetzt nicht beeilte, würde ich sie zu spät bei ihrer eigenen Hochzeit absetzen und wenn ihre Ehe dann schiefging, war das ganz sicher meine Schuld. Fluchend kämpfte ich mich aus meiner Bettdecke und stolperte beim Weg zur Tür beinahe über meine Schuhe, die mitten im Zimmer lagen, doch irgendwie schaffte ich es schließlich sicher ins Badezimmer. Im Spiegel blickten mir müde, mit Mascara verschmierte Augen entgegen und es schien, als wären meine Haare über Nacht zum Wischmopp transmutiert. Mit schmerzenden Gliedern pellte ich mich aus meinen Klamotten und seufzte genießerisch, als das heiße Wasser der Dusche meine verspannten Muskeln wärmte.
Heute würde ich meine beste Freundin dabei beobachten, wie ihr Vater sie zum Altar führte. Ich würde Zeuge dabei sein, wie sie Alessio ihre ewige Liebe schwor und sie dann bei ihrem ersten Tanz als verheiratetes Paar beobachten. Und während ich mir so die Haare shampoonierte und all das sacken ließ, machte ich mir mental eine Notiz, bloß nicht die Taschentücher und die wasserfeste Mascara zu vergessen.
Heute würde für Lilly ein ganz neues Kapitel anfangen. Und ich durfte dabei sein.

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