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Tränen rannten über meine feuchten Wangen, während ich eine Hand voll T-Shirts aus meinem Schrank zog und achtlos in meinen Koffer warf, welcher weit geöffnet auf dem Bett lag. Ich war fertig. Fertig mit Jack, fertig mit den Leuten hier und fertig mit New York. Lautstark warf ich die Schranktür zu, sodass ich gar nicht hörte, wie die Zimmertür geöffnet wurde.
„Liv?"
Erschrocken wirbelte ich herum, meine Schuhe in den Händen haltend und die Wangen feucht und glitzernd. Mellis Blick war zuerst verwirrt, doch nachdem ihre Augen zu dem geöffneten und vor Kleidung überquellenden Koffer geschweift waren, dämmerte die Erkenntnis auf ihrem Gesicht.
„Was ist passiert?" Alarmiert machte sie einen großen Schritt auf mich zu, doch ich drehte mich sofort um und stopfte die Schuhe in meinen Koffer.
„Ich gehe zurück nach Jacksonville.", war alles was ich sagte. Ich war nicht in der Stimmung ihr zu erklären, warum ich New York verließ und ich hoffte, sie würde es auch nicht wissen wollen. Doch natürlich reichte ihr diese Aussage nicht.
„Was soll das heißen, du gehst zurück nach Jacksonville? Besuchst du deine Eltern?"
Ich schnaubte, ein ironisches Lachen rollte über meine Lippen und ich schüttelte den Kopf. Doch was war mein Plan eigentlich? Das Semester würde bald beginnen und ich haute ab. Es war der denkbar schlechteste Augenblick zu gehen, doch dafür hatte ich mittlerweile ja ein Händchen. Schlechte Augenblicke. Die Sache mit Jack war auch ein einziger schlechter Augenblick. Allein der Gedanke an seinen Namen jagte einen Stich durch mein Herz und ich musste kurz die Augen schließen.
„Liv?"
Ich ignorierte sie. Ich hatte ganz einfach keine Erklärung für mein Verhalten. Es war untypisch für mich einfach abzuhauen. Besonders der Grund für meinen Abgang war mir ganz und gar fremd. Vor ein paar Monaten noch hätte ich einen Kerl nie so viel Einfluss auf mein Leben haben lassen. Ich wäre nicht einfach davongerannt. Ich hätte mir die Tränen von den Wangen gewischt, mir eine gescheuert und weitergemacht. Bei Vanity Fair hatte ich schon Bescheid gesagt. Ich würde Mrs. Smith alles per Email zuschicken. Und wenn ich alles sagte, dann meinte ich auch alles. Jedes einzelne Wort über Jack würde die Seite wechseln.
„Hier." Ich drehte mich zu Melli, während ich den Verschluss der silbernen Kette öffnete. Ich wollte das Ding nie wiedersehen. Zu schmerzhaft war ihr bloßer Anblick.
„Du kannst sie haben, ich will sie nicht mehr." Mit starrem Blick war ich sie in Mellis Richtung, welche die filigrane Kette verwirrt auffing. In ihren Augen spiegelte sich Sorge. Fragend sah sie mich an.
„Du fandest sie doch so schön.", war meine einzige Erklärung, während ich mich wieder ans Einpacken machte. Mellis kalte Hand legte sich auf meine Schulter und wie eingefroren hielt ich still, meine Hand schwebte überm Reisverschluss meines Koffers.
„Sag mir was los ist." Ihre Stimme war eindringlich. Ich zog die Augenbrauen zusammen und schloss kurz die Augen. Plötzlich schwappte alles über.
„Ich muss dir gar nichts sagen, okay?", fauchte ich, während ich zu ihr herumwirbelte und dabei ruckartig ihre Hand von meiner Schulter schubste. Mellis Augen wurden groß.
„Wieso sollte ich dir sagen was in meinem Leben vor sich geht? Du sagst mir doch auch nichts! Du hast mir doch auch nichts von deiner Affäre mir Mr. Abrahams erzählt!" Wütend warf ich die Arme in die Luft.
Erschrocken stolperte meine Mitbewohnerin einen Schritt zurück, schlug sich die flache Hand vor den vor Schock weit aufgerissenen Mund und starrte mich an.
„Du hattest Monate Zeit um es mir zu erzählen! Aber du hast dich dagegen entschieden und das ist okay, das ist deine Entscheidung! Aber dann erwarte nicht, dass ich nicht auch Geheimnisse vor dir habe!"
Wir standen uns gegenüber, ich hätte nur einen Schritt machen müssen um sie zu erreichen und doch waren wir uns noch nie so fern gewesen wie in diesem Moment. Langsam senkte sie ihre Hand, ihr Gesichtsausdruck unlesbar.
„Du hast Recht. Es war meine Entscheidung dir nicht von meiner, mal so nebenbei bemerkt illegalen, Beziehung zu erzählen. Aber wenn es dir um Jacks Kette geht, dann entschuldige bitte, dass ich glaube, dein Geheimnis ist nicht ganz so groß wie meins und dass du mir davon erzählen solltest!"
„Du wusstes es?"
Verwirrt hob sie die Arme.
„Was wusste ich?"
Ich zeigte auf die Kette.
„Dass sie von ihm ist."
Trocken lachend schüttelte Melli den Kopf.
„Er ist mein Bruder! Ich weiß so gut wie von allem, was ihn beschäftigt. Er ist ziemlich leicht zu durchschauen!"
Herausfordernd hob ich das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wusstest du auch von der Wette?"
Melli schluckte. Dann senkte sie den Kopf. Ich konnte es nicht fassen. Geschockt stand ich einfach nur da. Überfordert. Müde. Und schrecklich verletzt.
„Ich dachte, wir wären Freunde.", krächzte ich, als sich neue Tränen in meinen Augen bildeten. Ich dachte, ich hätte sie schon alle verbraucht, doch da hatte ich mich wohl geirrt.
In diesem Moment konnte ich nichts anderes tun, als zu beobachten, wie Melli kraftlos auf ihr Bett sank und das Gesicht in den Händen vergrub.
„Ich wusste es.", bestätigte sie dann das Offensichtliche und es fühlte sich an, wie ein Schlag in die Magengrube. Ich bekam keine Luft mehr, riss den Mund auf, schnappte nach Sauerstoff, der nicht da war und schloss ihn wieder. Ich würde sie nicht fragen, warum sie mir nie etwas gesagt hatte. Keine Erklärung der Welt würde diesen Schmerz wieder gut machen können. Und das Schlimmste war, dass hier tat mehr weh, als Jack zu verlassen. Ruckartig schloss ich den Reisverschluss meines Koffers und hievte ihn vom Bett. Meine Stimme war brüchig, als ich meine letzten Worte an Melli richtete.
„Du und Jack, ihr seid für mich gestorben."

*

„Liv, reichst du mir bitte mal die Butter?"
Wie aus einem Traum gerissen starrte ich meinen Vater an und runzelte die Stirn. Er hob eine Augenbraue und zeigte mit seinem Brötchenmesser auf das Butterpäckchen.
„Die Butter? Bitte?"
Endlich schaltete ich.
„Tut mir leid, ich war in Gedanken versunken." Seufzend lehnte ich mich über den Tisch und ignorierte den besorgten Blick, den mein Vater mir zuwarf, während er die Butter aus meiner Hand nahm. Meine Augen hefteten sich wieder auf meinen leeren Teller. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie mein Vater wild gestikulierend mit dem Messer fuchtelte und mit den Lippen irgendwelche stummen Wörter an meine Mutter formte. Sie räusperte sich. Doch bevor sie etwas sagen konnte, stand ich ruckartig auf, wobei der Stuhl laut über das Parkett kratzte. Ich sagte nichts, als ich das Esszimmer verließ, mein Blick leer und meine Schritte kraftlos. Ich schleppte mich die Treppe rauf in mein Zimmer, wo ich leise die Tür hinter mir schloss, bevor ich mich Gesicht voraus auf mein Bett fallen ließ. Am besten wäre es, wenn ich mich hier einfach vergraben würde. Es würde mich eh niemand vermissen. Seufzend rollte ich mich auf die Seite und starrte aus dem bodentiefen Fenster, vor welchem ich vor einem halben Jahr noch voller Vorfreude auf ein neues Leben in New York gesessen hatte.
Zwei Wochen waren vergangen. Zwei Wochen, in denen ich entweder gar nichts aß, oder so viel in mich hereinstopfte, dass ich Bauchschmerzen bekam und mir danach die Seele aus dem Leib kotzte. Zwei Wochen, in denen ich nicht vor die Tür gegangen war. Noch nicht einmal um Lilly zu sehen. Sie wusste noch nichts von meiner Rückkehr. Sie würde mich umbringen.
Ein leises Klopfen riss mich aus meinem Starren.
„Darf ich reinkommen?" Die Stimme meines Vaters klang dumpf durch das dicke Holz der Zimmertür, doch war es nicht schwer die Besorgnis in ihr herauszuhören. Obwohl ich nicht antwortete öffnete er langsam die Tür und als er sein Gesicht zuerst ins Zimmer streckte, seufzte ich leise. Mit leerem Blick schlang ich die Arme um meine Knie und presste meine Wange gegen die kalte Haut meiner nackten Beine, während ich aus dem Augenwinkel beobachtete, wie mein Vater leise die Tür hinter sich schloss und durchs Zimmer auf mich zuwanderte. Das Bett knarzte leise, als er sich auf der Bettkante niederließ. Eine Weile lang saßen wir nebeneinander, schweigend und mit den Blicken auf den Teppich gerichtet.
„Möchtest du darüber reden?"
„Nicht wirklich.", gab ich murmelnd zurück, während ich den Kopf hob und ihm ein entschuldigendes Lächeln schenkte, von welchem ich hoffte, dass es überzeugend war. Doch mein Vater sah mich nur zweifelnd an. Ich wollte mit ihm eigentlich nicht über mein Liebesleben reden, dass hatte ich noch nie gemusst und wollte es auch nie tun müssen.
„Zu viele Details, das Ganze ist einfach zu kompliziert."
„Dann solltest du wirklich einmal mit jemanden darüber sprechen.", beharrte mein Vater jedoch und schob nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Ich seufzte, drehte meinen Körper in seine Richtung, wobei meine dicke Bettdecke laut raschelte und fuhr mir ein paar Mal mit den Händen durchs Gesicht.
„Ich dachte ich hätte in New York Freunde gefunden, doch es stellte sich heraus, dass sie mich alle nur belogen hatten."
Überrascht legte Dad den Kopf schräg. Aufmerksam lag sein Blick auf mir und als er keine Absicht zeigte, mich zu unterbrechen, atmete ich einmal tief durch.
„Meine Mitbewohnerin hat einen Bruder und irgendwie haben er und ich irgendwann angefangen uns zu mögen.", begann ich. Meine Stimme wurde zum Ende des Satzes hin immer leiser und ich war froh, dass Dad meinen zögerlichen Ton nicht weiter kommentierte. Noch einmal atmete ich tief durch und beschloss dann, ihm nur die Kurzfassung zu geben. Er musste nicht alle schmutzigen Details wissen.
„Stellt sich heraus, dass er mit einem anderen Mädchen gewettet hat, dass er mich verführen könnte und seine Schwester – von der ich wirklich dachte, dass sie eine gute Freundin war – alles wusste, mir aber kein Wort gesagt hat."
„Oh." Dads Augen wurden groß. Räuspernd senkte er den Blick auf seine Hände.
„Das tut mir leid mein Schatz.", murmelte er aufrichtig und legte eine Hand auf meinem Knie ab.
„Das schlimmste ist, er hat es geschafft.", gestand ich schließlich leise und vergrub beschämt mein Gesicht in den Handflächen. Doch das ließ mich leider nicht an Ort und Stelle verschwinden. Ich konnte noch immer dieses unangenehme Schamgefühl spüren. Aufmunternd drückte Dad mein Knie, doch ich wagte es noch nicht ihm ins Gesicht zu sehen.
„Wenn du nen Auftragsmörder brauchst, ich hab doch so meine Kontakte.", witzelte Dad plötzlich und überrascht hob ich den Kopf. Ein schiefes, mitleidiges Grinsen umspielte seine Lippen und zum ersten Mal störte es mich nicht, dass man mir offen Mitleid zeigte. In diesem Moment brauchte ich genau das. Nun zuckte es auch um meine Mundwinkel. Mit einem Seufzen ließ Dad seine Hand von meinem Knie rutschen und schlang daraufhin den Arm um meine Schultern.
„Ich wünschte, ich könnte dir einen besseren Rat geben, aber dazu müsste ich diesen Jungen und seine Schwester kennen. Alles was ich dir sagen kann ist, dass sie es nun sicher sehr bereuen, weil sie jetzt bemerken, wie sehr du ihnen fehlst."
Tröstend drückte er mich an sich, sein Parfüm stieg in meine Nase und sofort schloss ich wohlig die Augen. Dieser Geruch, er roch nach Zuhause. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie sehr er mir in den letzten Monaten gefehlt hatte.
„Danke, Dad.", hauchte ich mit dünner Stimme und presste die Augen fest aufeinander, um zu verhindern, dass ich sein hellblaues Hemd mit Tränen durchnässte. In diesem Moment, in seinen Armen, hatte mein Herz endlich ein wenig Zeit, sich auszuruhen. Dad hatte ein wenig der Last von mir genommen und ich war einfach froh, sie nicht mehr alleine tragen zu müssen. Vielleicht würde ja doch alles wieder gut werden. Oder zumindest ein bisschen besser.

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