33
Ich war Ryan unglaublich dankbar. Wir standen auf dem kalten Dach, hoch über den Straßen New Yorks und waren endlich Freunde geworden. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich nicht mehr alleine. Zu wissen, dass Ryan manchmal genauso fühlte wie ich war gleichermaßen beruhigend wie auch traurig. Doch dass wir uns einander anvertrauen konnten machte alles ein bisschen leichter.
„Wir sollten langsam wieder runter gehen. Es gibt noch Geschenke. Mal sehen, wer uns gezogen hat."
Aufmunternd tätschelte Ryan meinen Rücken und ich nickte zustimmend, während ich schniefend meine Arme von ihm nahm.
„Danke. Für alles.", murmelte ich und wischte mir mit dem Handrücken an der Nase entlang. Mir war es egal, dass er mich so verletzlich sah. Stark zu wirken war auf Dauer einfach zu anstrengend und ich war wirklich froh, dass es Ryan war, der mich so sehr und keiner der anderen. Ich hatte das Gefühl, ich könne ihm vertrauen. Während ich einen letzten Zug an meiner Zigarette machte und sie anschließend auf den Boden warf und mit meiner Fußspitze zerdrückte, öffnete Ryan die Dachterrassentür und wartete, bis ich zu ihm herüberkam. Ich schlang die Lederjacke enger um meinen Körper und huschte an ihm vorbei ins warme Treppenhaus. Als wir vor seiner und Oles Wohnung standen, spürte ich, wie Ryan aufmunternd meine Schulter drückte und ich schenkte ihm ein letztes dankbares Lächeln, bevor er uns die Wohnungstür aufschloss. Wenn er wüsste, was er eben auf dem Dach für mich getan hatte.
Als wir uns wieder zu den anderen gesellten schien es, als hätte niemand wirklich bemerkt, dass wir weg gewesen waren. Nur Ole schaute uns neugierig an, während er die Arme ausstreckte und Ryan mit einem verliebten Lächeln zu sich auf die kleine Couch zog. Seufzend ließ ich mich neben Melli fallen, Luna hockte vorm Radio und versuchte ihr Handy zu verbinden, während Jack und Kathy finster vor sich hin starrten. Irgendwie schien es, als wäre die Stimmung im Keller.
Schnuppernd lehnte Melli sich zu mir rüber und drückte die Nase in den Ärmel meines Kleides. Angewidert verzog sie das Gesicht.
„Du stinkst nach Rauch."
„Ja, ich habe oben eine geraucht. Keine Sorge, ich bring das Kleid für dich zur Reinigung."
Mir gegenüber im Sessel schoss plötzlich Jacks Kopf hoch. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, dass er die Augenbrauen zusammenzog und die Kiefer aufeinanderpresste. War er etwa wütend?
„Darum geht es mir nicht. Seit wann rauchst du denn?", hakte Melli noch und ich zuckte mit den Schultern.
„Ich brauchte nur eine zum Entspannen."
Ich hoffte, Melli würde nun das Thema fallen lassen. Es war mir unangenehm darüber zu sprechen, besonders vor den anderen. Glücklicher Weise klatschte Ole genau in diesem Moment einmal in die Hände und rief lautstark: „Geschenke!"
Vielleicht war es ein Versuch die Stimmung wieder anzuheben, wenn es so war, war es auf jeden Fall nicht sehr erfolgreich, denn Kathys und Jacks Mienen blieben dunkel und mürrisch. Nur Luna sprang auf Oles Ablenkungsversuch ein und sprang auf.
„Ich spiele Weihnachtsmann!", rief sie aufgeregt und taperte auf ihren Socken zum Weihnachtsbaum. So langsam kam wieder Leben in die Truppe, Melli schenkte uns noch Wein ein und Ole eilte in die Küche.
„Kekse.", antwortete Ryan mir auf meinen fragenden Blick und ich nickte bestätigend, bevor ich an meinem Wein nippte. Dann beobachtete ich Luna dabei, wie sie die Geschenke verteilte. Ich murmelte ein leises „Danke.", als sie mir ein kleines, hellblaues, quadratisches Päckchen reichte. Wir warteten noch kurz, bis jeder sein Geschenk hatte und als auch Ole wieder zurückgekommen war und neugierig sein Geschenk schüttelte, schien Melli es nicht weiter abwarten zu können.
„Auf die Plätze, fertig, los!", rief sie übermütig und sofort flogen bunte Geschenkpapierfetzen durch die Luft und rieselten auf den dunklen Teppichboden. Letztendlich schneite es also doch noch. Es waren kleine Ohs und Ahs zuhören, leises Gekicher aus Lunas Ecke und während alle in verzücktes Gemurmel ausbrachen, starrte ich fassungslos und mit vor Schock aufgerissenem Mund auf den Inhalt der kleinen, hellblauen Box in meiner Handfläche. Um mich herum begannen die Freunde begeistert ihre Geschenke vorzuzeigen, doch ich konnte mich noch immer nicht regen. Vorsichtig griff ich nach der kleinen, filigranen Silberkette und ließ die Schachtel auf meinen Schoß fallen, um das Schmuckstück näher zu betrachten. Sofort erkannte ich die Gravur in der Mitte des kleinen, silbernen Herzens.
„Oh wow, die ist ja wunderschön!", rief Melli neben mir aus und lehnte sich über meine Schulter, um die Kette näher zu betrachten.
„Und auch noch von Tiffanys!"
„Was echt?" Kathys Blick war überrascht, als sie sich über den Tisch hinweg zu mir herüberlehnte und an meiner Hand riss, um die Kette eingehend betrachten zu können. Genervt verdrehte ich die Augen. Klar, jetzt existierte ich plötzlich.
„Tatsächlich.", murmelte sie fassungslos und während ich meine Hand wieder zurückzog meinte ich zu erkennen, wie sie Jack einen wütenden Blick zuwarf. Ich konnte mich natürlich auch irren, schließlich war ihr Blick von Natur aus finster und ich war noch immer vom Silber der kleinen Herzkette geblendet. Doch als ich hörte, wie sie etwas in Jacks Richtung zischte, war ich mir fast schon sicher, dass sie sich über mich beschwerte. Warum konnte ich mir allerdings nicht erklären.
„Soll ich sie dir ummachen?", fragte Ryan und bevor ich überhaupt hätte antworten können, beugte er sich über die Rückenlehne der Couch und nahm mir vorsichtig das teure Schmuckstück aus der Hand. Kühl schmiegte sich das Silber an meine leicht erhitzte Haut und zärtlich legte ich meine Finger auf das kleine Herz, welches sich zwischen meine Schlüsselbeine kuschelte. Ryans Finger in meinem Nacken waren rau, als er die Kette schloss und ich murmelte ein leises „Danke.", bevor ich an mir heruntersah. Ich konnte nicht fassen, dass mir einer der Freunde so ein teures Geschenk gemacht hatte. Prüfend sah ich in die Runde, doch entweder kam die Kette vom Weihnachtsmann persönlich, oder jeder einzelne von ihnen hatte einfach ein perfektes Pokerface.
„Danke. Wer auch immer mir das geschenkt hat. Ich habe noch nie so etwas Wunderschönes geschenkt bekommen. Danke." Ein gerührtes Lächeln umspielte meine Lippen und wenn ich gewusst hätte, von wem das kleine, silberne Herz kam, hätte ich denjenigen ganz fest gedrückt. Und während ein kleiner Teil von mir hoffte, dass die teure Kette tatsächlich von Jack kam, versuchte der rationale Teil meines Gehirns krampfhaft dagegen anzukämpfen. Doch was würde es bedeuten, wenn ich es unterbewusst tatsächlich wusste?
*
Die Weihnachtsfeiertage gingen so schnell vorüber, dass sie mir fast vorkamen, wie ein kleiner Traum. Einzig das kleine, silberne Herz, welches seit einigen Tagen in der Kuhle zwischen meinen Schlüsselbeinen ruhte, erinnerte mich daran, dass der Abend bei Ryan und Ole durchaus real gewesen war. Noch immer wusste ich nicht, von wem die Kette kam und selbst Ryan, mit dem ich seit kurzem regelmäßig schrieb, hatte eine Ahnung.
Es war ein regnerischer Nachmittag, ich war gerade von einem kleinen Schläfchen aufgewacht und lag nun in einem riesigen Sweater und Pyjama-Shorts bäuchlings auf meinem Bett, während ich mein Notizbuch vollkritzelte. In letzter Zeit fiel es mir merkwürdig schwer an meinem Blog zu arbeiten. Lilly, die ich erst gestern angerufen hatte, um mit ihr die neusten Neuigkeiten auszutauschen, behauptete, ich hätte ein schlechtes Gewissen. Sie sagte, ich würde unterbewusst endlich realisieren, dass das was ich tat nicht richtig war. Doch wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht, was sie damit meinte. Es war meine Arbeit, die ich nur zur vollen Zufriedenheit meiner Chefin erledigen wollte. Wieso sollte ich mich also schlecht fühlen. Zusammenfassend hatte Lillys und mein Telefonat nicht gut geendet. Wir hatten sogar ein wenig miteinander gestritten, was ich eigentlich gar nicht von uns kannte. Seufzend nahm ich den Kugelschreiber zwischen die Zähne und kaute auf dem Plastik herum. Ich machte mir schreckliche Sorgen um unsere Freundschaft. Irgendwie hatte ich es ja kommen sehen. Distanz war der größte Feind einer Freundschaft, ich hatte schon viele Freunde so auseinandergehen sehen, doch irgendwie war ich immer davon ausgegangen, dass es uns nicht passieren würde. Das wir anders waren. Anscheinend hatte ich mich geirrt. Frustriert schlug ich das Notizbuch zu, genau als Melli die Tür aufschloss. Mein Kopf ertrank zwischen meinen Decken, doch gedämpft konnte ich zwei Stimmen ausmachen. Überrascht hob ich den Kopf und fuhr mir mit der Hand durch meine zerzausten Haare.
„Oh, hey. Wolltest du nicht mit deinem Bruder eure Eltern besuchen?", fragte ich sie, während sie eintrat. Belustigt guckte Melli auf ihr Handy.
„Das war vor vier Stunden, Liv. Wir sind schon wieder zurück. Willst du was trinken, Jack?"
Jack war hier? Meine Augen wurden groß, als der Dunkelhaarige hinter seiner kleinen Schwester die Tür schloss und als er mich so zwischen den Laken liegen sah, konnte ich auch in seinem Blick ein wenig Überraschung erkennen. Es war merkwürdig still. Er antwortete nicht einmal auf Mellis Frage, die mittlerweile mit skeptischem Blick zwischen uns beiden hin und her sah. Doch Jack und ich starrten einander nur an. Die Luft wurde plötzlich trocken und ich unterbrach das Starren mit einer kleinen Hustenattacke.
„Elegant.", hörte ich Melli murmeln. Ich warf ihr einen bitteren Blick zu. Sie brauchte die Situation nicht noch peinlicher machen als sie eh schon war.
„Wir wollten gleich was essen gehen. Willst du mitkommen? Auf dem Weg könnt ihr beiden mir ja erzählen, warum es zwischen euch seit Wochen so komisch ist."
Oh wow, sie hatte es tatsächlich geschafft.
„Nein, danke." Mit zu Schlitzen verengten Augen starrte ich sie wütend nieder, doch das schien sie nicht groß zu beeindrucken.
„Was? Zum Essen oder zum Reden?"
„Zu beiden.", fauchte ich. Verwirrt runzelte Melli die Stirn. Nicht einmal ich konnte ihr erklären, warum ich plötzlich so zickig war.
„Wir können ja auch was bestellen, wenn du keine Lust hast-"
„Melli.", unterbrach ich sie mit einem kleinen Jammern und warf ihr einen eindringlichen Blick zu. Ich hoffte einfach mal, sie konnte Gedanken lesen. Verwirrt legte sie den Kopf schief und ich seufzte verzweifelt. Wie sollte ich ihr auch schon sagen, dass ich Jacks Nähe einfach nicht ertragen konnte? Mehr oder weniger unauffällig machte ich eine ruckartige Kopfbewegung in Richtung Jack, der daraufhin nur schnaufte.
„Sie will mich nicht sehen, Mel. Lass uns einfach ohne sie gehen, sie verdirbt uns eh alles."
Ouch. Das tat weh. Ich schluckte schwer und starrte auf meine unordentlich zusammengeknüllte Bettdecke zwischen meinen nackten Waden.
„Oh mein Gott, es reicht jetzt!"
Erschrocken von Mellis lautem Ausbruch zuckte ich zusammen und schaute sie aus großen, verschreckten Augen an. Man sah ihr an, wie genervt sie war.
„Ihr beide geht mir so auf den Sack, ehrlich jetzt! Wenn ihr schon nicht mit mir reden wollt, werdet wenigstens ihr beide euch jetzt verdammt noch mal aussprechen!"
„Melli, was-" Ich konnte meine Frage gar nicht beenden, da sah ich sie schon nach unseren Schlüsseln greifen und bevor auch nur einer von uns protestieren konnte, war sie aus dem Zimmer geschlüpft und hatte die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss geworfen.
„Melli, lass den Scheiß!", brüllte Jack, während er zwei lange Schritte in Richtung Tür machte, doch da hörte man auch schon, wie sie die Tür von außen abschloss.
„Was zur Hölle! Melli!" Mit geballter Faust schlug Jack gegen die Holztür, während er an der Klinke rüttelte. Doch es tat sich nichts. Melli war weg, hatte uns einfach alleine gelassen. Und die Tür war abgeschlossen. Geschockt beobachtete ich, wie Jack ein letztes Mal fest auf die Tür einschlug, bevor er sich langsam umdrehte. Doch sein Blick mied mich. Er schaute mich auch nicht an, als er durch das Zimmer schlurfte und sich mit einem lauten, genervten Seufzer auf Mellis Bettkante niederließ. Plötzlich wurde es unheimlich heißt und stickig in dem kleinen Raum. Ich wagte es nicht auch nur einen Ton von mir zu geben. So leise ich konnte drückte ich mich mit dem Rücken an die Wand und umschlang mit meinen Armen meine Knie. Ich legte meine heiße Wange auf meinen Knien ab und starrte das Kopfende meines Bettes an, um zu verhindern, dass mein Blick an Jack hängen blieb, der sich nun ebenfalls mit dem Rücken an die Wand gelehnt hatte. Es war so still, dass man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können. Nur unser leiser Atem war zu hören, der sich nach ein paar Minuten synchronisierte. Verzweifelt schloss ich die Augen, blendete das zerrende Gefühl in meiner Magengegend aus, welches mich in Jacks Richtung zog. Es versprach ein langer, langer Nachmittag zu werden.
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