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Weihnachten kam immer näher, auf den Weihnachtsmärkten musste immer wieder die Polizei ausrücken und laut Wetterbericht war für die nächste Woche kein Schnee in Sicht. Insgesamt war die Stimmung genauso betrübt, wie der trügerische Winterhimmel. Man konnte fast nicht sagen, ob er weiß oder doch eher hellgrau war, aber er schaffte es immer wieder, Hoffnung auf auch nur eine Handvoll Schneeflocken in den Weihnachtsbesessenen New Yorkern zu regen. Während Melli seit gestern dem Winterblues verfallen war und nur noch seufzend auf dem Bett lag, oder sogenannte „Schneetänze" aufführte, um dem Himmel doch ein wenig des weißen Glücks zu entlocken – natürlich hatte sie damit bisher keinen Erfolg gehabt, doch wann immer man ihr das sagte, begann sie einfach, einen zu ignorieren – begann ich immer mehr Verständnis für Mr. Scrooge und den Grinch zu empfinden. Ich hatte weder meine Familie, meine beste Freundin, noch irgendwelche neuen Freunde vorzuweisen, mit denen ich dieses Weihnachten verbringen konnte. Immer wieder sprach Melli davon, dass sie und Luna dringend noch Weihnachtsgeschenke einkaufen gehen mussten und den einzigen Vorteil den ich darin sah, dass ich das dieses Jahr wohl nicht tun müsste, war, dass ich ein paar Dollar sparen würden. Aber eigentlich schenkte ich anderen gerne etwas und ich fand auch, dass ich ziemlich gut im Beschenken war. Einmal hatte ich meinen Eltern Karten für eine Weinverkostung, inklusive einer Nacht in einem drei Sterne Hotel, geschenkt und Lilly bekam jedes Jahr zum Geburtstag Konzertkarten, das war so Tradition. Doch dieses Jahr war das Weihnachtsshopping so ziemlich unmöglich. Meine Eltern und meine Schwester würden über die Festtage nicht einmal zuhause sein und ein nachträgliches Weihnachtsgeschenk im Januar war eben nicht das Gleiche.
Das Melli zu den Last-Minute-Einkäufern gehörte, hatte ich mir schon gedacht und zwei Tage vor Weihnachten stand sie vor mir – ich war mittlerweile fast durch mit Hundert Jahre Einsamkeit und hatte den Nachmittag damit verplant, die letzten 20 Seiten zu lesen – und wippte fröhlich hinterher. Sie hatte den Winterblues wohl überstanden.
„Ich geh jetzt mit Luna Weihnachtsgeschenke kaufen. Willst du mitkommen?"
Ich war mir nicht sicher, ob ich es mir bloß einbildete, doch ich meinte, in Mellis Augen Mitleid aufgeblitzt haben zu sehen. Sie war noch immer fest davon überzeugt, dass ich absolut todunglücklich war und nie wieder das Zimmer verlassen wollte und das sah ich ihr an.
Kurz warf ich einen Blick auf die Seitenzahl in der unteren, rechten Buchecke, bevor ich mit einem entschuldigenden Lächeln zu ihr hochsah.
„Ich muss doch gar keine kaufen. Außerdem bin ich hiermit fast durch. Geht lieber alleine."
Melli grunzte augenverdrehend und ich zog verwundert die Augenbrauen hoch.
„Was soll das, Liv?"
Ich legte fragend den Kopf schief.
„Was meinst du"?
„Du wirst Weihnachten natürlich mit uns verbringen! Dieses Jahr feiern wir bei Ryan und Ole, also wird's super gemütlich. Und deswegen sollest du auch Geschenke kaufen, sonst sind die beiden ganz böse auf dich."
Ich seufzte leise und schloss mein Buch. Jack würde da sein. Und Kathy. Ich schüttelte den Kopf. Nein, das würde nur in einer Katastrophe enden, ob sie jetzt nun von den beiden oder von mir heraufbeschworen werden würde. Ich wollte den anderen auf keinen Fall das Fest verderben.
Seufzend strich ich mir über die Stirn, während ich die Beine über die Bettkante schwang und meine Zehen in dem weißen Flauscheteppich vergrub.
„Das geht nicht."
„Warum nicht?"
Ja, warum eigentlich nicht? Natürlich, für mich war klar, warum es nicht ging, ich hatte ja immerhin auch einen triftigen Grund. Doch Melli wusste von all dem nichts. Jedenfalls hoffte ich das. Öfters schon hatte ich darüber nachgedacht, es ihr vielleicht einfach zu erzählen, dann müsste ich auch nicht ständig Ausreden erfinden, warum ich mich nicht mit den anderen treffen konnte, doch irgendwie konnte ich nicht. Außerdem erzählte sie mir auch nicht von ihrer Beziehung zu meinem Professor, also schienen wir ja eh nicht wirklich 100 Prozent ehrlich zueinander sein zu wollen. Während ich also nach einer logischen Erklärung suchte, verschränkte Melli abwartend und mit spöttisch hochgezogener Augenbraue die Arme vor der Brust. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie mir keine von den Lügen abkaufen würde, die ich ihr auftischte. Frustriert warf ich die Arme hoch, schüttelte den Kopf und seufzte einmal.
„Okay, meinetwegen! Feiern wir Weihnachten bei Ryan und Ole!"
Mir entging Mellis triumphierendes Strahlen nicht, während ich in meine Schuhe schlüpfte, doch ich beschloss es einfach zu ignorieren. Wäre mir doch nur rechtzeitig eine gute Ausrede eingefallen.

Die ganze Stadt war verrückt geworden. Überall fröhliche Menschen, durch jeden erdenklichen Lautsprecher schallte Weihnachtsmusik und plötzlich waren alle freundlich zueinander. Und verliebt. Anfangs hatte ich noch gezählt, wie vielen Pärchen Luna, Melli und ich über den Weg liefen, aber nach einem Dutzend hatte ich aufgehört. Ich tat mir damit letztendlich keinen Gefallen. Plötzlich musste alles Zimt- oder Zuckerstangengeschmack haben und rot, grün oder weiß sein, die Mannequin in den Schaufenstern trugen alle Weihnachtsmützen und mittendrin in dem ganzen festlich-fröhlichem Weihnachtschaos war ich. Ständig schweiften meine Gedanken ab zu dem Abend vor ein paar Tagen. Wie Jack uns nach Hause gefahren hatte und wie sich unsere Blicke im Rückspiegel getroffen hatten. Ich bekam das Bild seiner eindringlichen, klaren Augen und seinem schwach beleuchteten, so mysteriös wirkendem Gesicht einfach nicht mehr aus dem Kopf.
Trostlos schlurfte ich hinter Melli und Luna her, gab Oh's und Ah's von mir, wenn sie mir von ihren Ideen für Weihnachtsgeschenke erzählten und hörte eigentlich gar nicht richtig zu.
„Geht's dir gut?"
Luna hatte mich am Arm zurückgehalten, als ich Melli gerade in ein Kleidergeschäft folgen wollte. Ihr besorgter Blick kotzte mich an. Er war von so viel Mitleid erfüllt, dass ich darin hätte ertrinken können. Und doch konnte ich ihr nicht böse sein. Sie meinte es nur gut. Ich seufzte leise und schenkte ihr ein schmales Lächeln, von welchem ich hoffte, dass es nicht allzu aufgesetzt wirkte.
„Es geht schon.", antwortete ich einigermaßen wahrheitsgemäß, doch Luna sah mich immer noch mit diesen mitleidigen Welpenaugen an.
„Wir haben alle doch mal schlechte Phasen.", fügte ich hinzu und das brachte sie dazu, nachdenklich zu nicken.
„In deinem Horoskop stand, dass sich gerade emotional viel bei dir verändert und dass das zu einem stimmlichen Tief führen kann."
Das Lächeln auf meinen Lippen wurde etwas größer und auch ein wenig aufrichtiger, als ich ihren aufmunternden Blick sah.
„Und weißt du was noch drinstand?"
Fast schon verschwörerisch streckte sie sich, um an mein Ohr heranzukommen.
„Du wirst bald schon eine große, alles verzehrende Liebe erleben."
Überrascht weiteten sich meine Augen. Das hatte ganz sicher nicht in meinem Horoskop gestanden. Ob sie irgendetwas wusste?

„Wie kannst du diese Brühe nur trinken?" Fassungslos musterte Melli den schwarzen Kaffee in meiner Tasse, den die Kellnerin gerade vor mir abgestellt hatte. Ich zuckte nur mit den Schultern. Wir waren endlich mit dem Shoppen fertig und hatten uns in ein kleines Café in der Nähe gesetzt, um unseren schmerzenden Füßen eine Verschnaufpause zu gönnen und als ich durch das kleine Fenster, unter welchem wir saßen, nach draußen sah, fröstelte ich ein wenig. Man sah New York die Kälte förmlich an, doch auch heute Nachmittag hatte es nicht geschneit. Mir war das relativ egal, ich hatte eh nicht viel für das weiße Zeug übrig, doch Melli war noch immer total traurig und schwor immer wieder, dass sie nie wieder eine Schneeballschlacht veranstalten oder einen Schneemann bauen würde, wenn es keine weiße Weihnachten gab.
Luna seufzte leise und rührte in ihrem Ingwertee, sodass der kleine Metalllöffel das Porzellan zum Klirren brachte.
„Ich bin froh, dass wir unsere Weihnachtseinkäufe endlich hinter uns gebracht haben. Shoppen vor Weihnachten ist immer so stressig, dass es fast keinen Spaß macht."
Zustimmend nickte ich, doch Melli protestierte schnaubend.
„Shoppen macht immer Spaß! Besonders wenn du das perfekte Kleid für Weihnachten findest."
Sie warf einen fast schon liebevollen Blick in Richtung der Tüte mit dem roten Kleid, welches sie extra für die Weihnachtsfeier mit den Freuden gekauft hatte.
„Müssen wir uns wirklich so schick machen? Wir sind doch nur unter uns." Zweifelnd zog ich die Augenbraue hoch, doch sofort stieß meine Frage auf Schock. Wirklich, Mellis und Lunas Unterkiefer schnellten so rasant in Richtung Boden, dass ich beinahe über den Tisch hinweglangte und sie auffing. Plötzlich fühlte ich mich, als müsse ich mich verteidigen und hob mit großen Augen die Hände.
„Schon gut, schon gut."
Melli seufzte, schüttelte den Kopf und stocherte mit der Gabel in ihrem Brownie rum.
„Du kannst dir was von mir leihen, wenn du nicht extra etwas kaufen möchtest.", versprach sie dann und sofort schenkte ich ihr ein dankbares Lächeln. Wenn ich schon unbedingt zu dieser Feier gehen musste, dann wenigstens ohne noch extra Geld auszugeben.
Plötzlich haute Melli mit der geballten Faust auf den Tisch, sodass das Geschirr unter dem leichten Beben erzitterte und sich die wenigen anderen Gäste verwirrt und erschrocken in unsere Richtung drehten.
„Also Ladys, kommen wir mal zu den wirklich wichtigen Themen!"
Ich sah sie nur fragend an, doch konnte beobachten, wie Luna zustimmend nickte, während sie mit ihrer Gabel ein wenig Kruste von meinem Käsekuchen abkratzte und dann genüsslich von den metallenen Zinken leckte. Sie schien von Mellis plötzlicher Lautstärke gar nicht überrascht zu sein.
„Beziehungen."
Es war nur ein einziges Wort, doch über mir hing es wie eine fette, graue Regenwolke. Das war wirklich das allerletzte Thema über das ich mich gerade unterhalten wollte.
„Bei mir gibt's nichts zu erzählen. Ich habe kein Interesse an einem Mann, der einfach nur meinen Hormonhaushalt komplett durcheinanderbringt, bevor er mich für eine andere sitzen lässt."
Melli stimmte mit einem ernsten Nicken zu.
„Verständlich." Es war ein leicht amüsierter Unterton zu erkennen und wenn ich es mir nicht einfach nur einbildete, sah ich sogar den Anflug eines schiefen Grinsens auf Mellis vollen Lippen.
„Wieso fragst du überhaupt? Hast du etwas zu erzählen?", erkundigte ich mich unschuldig, zumindest hoffte ich, dass ich mich nicht zu herausfordernd anhörte. Natürlich wusste ich von ihr und Mr. Abrahams, doch das konnte ich ihr nicht sagen. Sie wäre schrecklich sauer auf mich, auch wenn ich ihnen eigentlich gar nicht hinterherspioniert hatte, sondern nur aus Zufall von ihrer kleinen Affäre wusste.
„Ne, eben nicht. Wenn bei mir schon nichts läuft, will ich wenigstens eure Geschichten hören. Und zwar jedes schmutzige Detail."
Sie hatte mir eiskalt ins Gesicht gelogen und es schien ihr nicht einmal leid zu tun. Beeindruckend, wie leicht es ihr fiel, mich, vor allem aber Luna, einfach so anzulügen.
„Tja, ich hab auch nichts zu erzählen, sorry."
Was sie konnte, konnte ich schon lange. Es war zwar schade, denn eigentlich hatte ich gedacht, Melli und ich wären langsam in dem Stadium unserer Freundschaft angekommen, in dem wir begannen uns Geheimnisse zu erzählen, doch da hatte ich mich wohl geirrt. Und so lange sie nicht den ersten Schritt tat, würde ich es nicht wagen. Nachher überschritt ich noch irgendeine Grenze von der ich gar nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt existierte.
„Du hockst ja in letzter Zeit auch nur bei uns im Zimmer rum, vielleicht solltest du einfach mal rausgehen und ein paar neue Leute kennenlernen."
Ich schnaubte nur, hatte nicht wirklich Lust mit ihr weiter über mein nicht vorhandenes Liebesleben zu diskutieren und stopfte mir stattdessen eine Gabel Käsekuchen in den Mund. Melli warf mir einen triumphierenden Blick zu.
„Traurig, dass bei uns nichts läuft, während sogar Jack sich verknallt hat."
Erschrocken spuckte ich den Käsekuchen wieder aus. Das fluffige Gebäck klatschte mit einem verheißungsvollen Matschen auf den Teller zurück und bekam von Luna einen mitleidigen Blick zugeworfen. Doch so sehr ich Käsekuchen auch liebte – und das war wirklich ziemlich doll – hatte ich gerade keinen Gedanken für meinen Lieblingskuchen übrig. Jack hatte sich verknallt?
„Isst du das noch?" Luna zeigte mit fragend hochgezogenen Augenbrauen auf das halb aufgegessene Stück Kuchen auf meinem Teller und geistesabwesend schob ich ihn zu ihr herüber. Plötzlich war mir der Appetit vergangen. cnch

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