29
Ich wachte mit einem pochenden Schmerz hinter den Augen auf. Hinter meinen geschlossenen Lidern war es gleißend hell. Stöhnend fasste ich mir an den Kopf und versuchte die rotierende Schwärze in meinem Kopf anzuhalten. Meine Kehle fühlte sich so trocken an, wie die Sahara. Eins. Zwei. Drei. Vorsichtig öffnete ich die Augen einen Spalt weit, doch alles was ich sah, war verschwommen. Stöhnend schloss ich die Augen wieder, bevor ich einen weiteren Versuch wagte und sie mit einem Mal weit aufriss. Ich schrie auf und versuchte den stechenden Sonnenstrahlen zu entfliehen. Wie ein Vampir rollte ich mich auf die dunkle Seite des Bettes und atmete erleichtert auf, als mein Körper aufhörte zu brennen. Bis mir einfiel, dass ich gar kein Doppelbett besaß. Erschrocken fuhr ich auf, der Schmerz in meinem Kopf wurde stärker und ich hielt mir jammernd die Stirn. Wo war ich? Was war passiert? Reiß dich zusammen, Olivia. Ich atmete tief durch, bevor ich anfing, mich im Zimmer umzusehen, doch ich wusste nicht, ob ich erleichtert, oder besorgt sein sollte, als ich erkannte wo ich war. Es sah noch genauso aus wie beim letzten Mal als ich hier aufgewacht war. Die hellgrauen Laken waren unordentlich über meinen Körper geworfen, auf dem Teppich lag ein schwarzer Hoodie und unter dem Fenster stand das elektronische Klavier. Fast schon etwas ängstlich schaute ich an meinem Körper herunter, nur um festzustellen, dass ich abgesehen von einem riesigen, weißen Shirt nichts trug. Ein fetter, schmerzhafter Kloß setzte sich in meinem Hals fest und rasch presste ich mir die Hände auf den Mund, um den Schluchzer zu dämpfen, der mir über die Lippen rollte. Ruhig bleiben, Oliva. Ruhig bleiben. Ich wiederholte dies wie ein Mantra in meinem Kopf, als ich krampfhaft versuchte, mich an den gestrigen Abend zu erinnern. Melli und ich waren losgezogen, um die anderen zum Feiern abzuholen. Jack und Kathy. Und dann – nichts mehr. Ich versuchte tief durchzuatmen, um meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen, doch sonderlich gut funktionierte dies nicht. Wild warf ich den Kopf umher, trat die Laken von mir und drehte die Kissen um, auf der Suche nach meinem Handy. Wo waren nur die anderen? Der Atem stockte in meiner Kehle, als die Schlafzimmertür sich langsam mit einem leisen Knarren öffnete. Wie eingefroren blieb ich in der Mitte des Bettes sitzen, die Finger fest in den Saum des Shirts vergraben, um meine nackten Oberschenkel zu verdecken. Ich traute mich nicht ihn anzusehen. Immer wieder kam es in mir hoch. Das Bild von Jack in Kathys Wohnung und seinem ertappten Gesichtsausdruck hatte sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Und plötzlich wusste ich genau, was passiert war.
„Liv."
Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen und auf einmal spürte ich, wie kalt es eigentlich im Raum war. Noch immer schaute ich ihn nicht an. Selbst wenn ich wollte, mein Körper wehrte sich dagegen an. Ich hörte die vom Teppich gedämpften Schritte, die in meine Richtung wanderten. Fest kniff ich die Augen zusammen. Vielleicht war das alles ja nur ein Traum. Aufwachen! Aufwachen! Eine warme Hand umschlang meinen Oberarm. Sofort riss ich die Augen wieder auf und zog mit einem heftigen Ruck meinen Arm aus seinem Griff.
„Fass mich nicht an.", zischte ich, mein Blick auf die Laken vor mir geheftet, suchend nach dem letzten bisschen meiner Würde, dass darin verloren gegangen war. Ich wusste es. Es war zu einfach gewesen. Eine heiße Wut formte sich in meinem Magen, als ich an die vergangenen Monate dachte. An all die verschwendeten Stunden und Worte. Da waren sie nun. Verloren. Zusammen mit meiner Unschuld, zwischen den Laken eines verdammten Players.
„Wie lange hast du das alles schon geplant?", fragte ich, seltsam ruhig und beherrscht. Jack zögerte. Langsam wandte ich ihm den Kopf zu und als ich sein schönes Gesicht sah, spürte ich wieder diesen Kloß im Hals.
„Liv, bitte. Lass es mich erklären."
Das reichte. Das war Antwort genug. Mir war zum Heulen zu Mute, doch ich würde ihm nicht die Genugtuung geben, mich weinen zu sehen. Ich wusste nicht, auf wen ich wütender war. Auf ihn, weil er mich so in die Irre geführt hatte, oder auf mich selbst, weil ich so dumm gewesen war, wie eine Maus in seine Falle zu tappen.
„Das brauchst du nicht. Ich will nichts hören." Ich war überrascht, dass sich meine Stimme überhaupt nicht weinerlich anhörte. Ich schluckte schwer, bevor ich vom Bett rutschte und begann, meine Kleidung vom Fußboden zusammenzusuchen. Still beobachtete der Dunkelhaarige mich, wie ich in Unterwäsche und Jeans schlüpfte, bevor ich ihm den Rücken zudrehte, das Shirt über meinen Kopf zog und mir seelenruhig meinen BH anzog. Zumindest hoffte ich, dass es nach außen hin seelenruhig wirkte. Endlich war ich vollständig angezogen und während ich mich wieder zu Jack umdrehte, knüllte ich sein Shirt zu einem Ball zusammen und schmetterte ihm es dann so hart ich konnte gegen die nackte Brust.
„Ich wusste es. Ich wusste, dass du kein guter Mensch bist. Wie dumm von mir, an dich geglaubt zu haben."
Für eine Sekunde glaubte ich, so etwas ähnliches wie Schmerz in seinen Augen aufgeblitzt haben zu sehen, doch das war genauso schnell vergangen, wie es gekommen war. Sein Blick war wieder kalt und gleichgültig, ein Ausdruck, von dem ich für kurze Zeit gedacht hatte, er wäre nur eine Fassade. Die ganze Zeit hatte ich sein wahres Gesicht aufdecken wollen und nun da ich dies geschafft hatte, war es nur viel böser und ekliger als ich angenommen hatte.
„Wirklich dumm.", bestätigte er und ich ballte die Hände an meinen Seiten zu Fäusten. Oh wie gerne ich sie ihm doch ins Gesicht geschleudert hätte. Oder in den Magen. Oder zwischen seine Beine. Ich machte ein paar Schritte in Richtung Tür, doch blieb noch einmal auf Jacks Höhe stehen.
„Dafür wirst du bezahlen.", zischte ich drohend, dann verschwand ich, ließ Jack alleine mit seinem Gewissen und hoffte, es würde ihm ordentlich zu schaffen machen.
Es war mir vollkommen egal, dass ich weinend durch New York wanderte. In meiner Brust hatte sich ein beißender Schmerz festgesetzt, der mich immer wieder an meine eigene Dummheit erinnerte. Ganz plötzlich hatte ich schreckliches Heimweh. Ich sehnte mich nach meinen Eltern, nach Lilly und dass mich jemand in den Arm nahm und mir sagte, dass alles wieder gut werden würde. Ich wollte nach Hause. Schniefend wischte ich mit dem Handrücken die Tränen aus meinen Augen. Ich war nur hergekommen, um zu studieren und meinem großen Traum näherzukommen, doch jetzt fühlte es sich an, als wäre alles dahin. Sobald ich in den Flieger gestiegen war, hatte ich die Kontrolle über mein Leben verloren. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich sie wiederkriegen würde.
Die Gänge des Wohnheims waren wie leergefegt, mein Schniefen hallte an den kahlen Wänden wieder und ich war froh, dass mich keiner so sah. Ich hasste es schwach zu sein, doch seitdem ich in New York angekommen war, war ich nur das gewesen. Schwach. Ich brauchte ein paar Anläufe, um meinen Schlüssel ins Schlüsselloch zu kriegen, doch irgendwann hatte ich es geschafft und als ich Mellis und mein Zimmer betrat, fing ich bitterlich zu schluchzen an.
„Oh mein Gott, Liv! Was ist passiert?", hörte ich Melli besorgt fragen. Durch dicke Tränen sah ich sie an. Es war zu viel. Zu lange hatte ich mich verschlossen, verhindert, meine Gefühle zu offenbaren und alles in mich hineingefressen. Ich war am Ende meiner Kräfte angekommen. Und das sagte ich Melli auch.
„Ich kann nicht mehr. Ich bin fertig.", schluchzte und schniefte ich und sank kraftlos auf Mellis Bett zusammen. Sofort schlangen sich ihre schlanken Arme fest um meinen Körper, wiegten mich sanft hin und her, während ich weinte und weinte und weinte.
„Willst du mir erzählen, was passiert ist?"
Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Langsam schüttelte ich den Kopf. Nein, dafür war ich noch nicht bereit. Fürs erste wollte ich einfach nur hier in Mellis Armen liegen und solange weinen, bis keine Tränen mehr übrig waren.
*
Von da an war alles irgendwie anders, wenngleich auch alles wie immerwar. Ich brachte meine letzte Klausur hinter mich und meldete mich wieder beimeinen Eltern. Ich ließ mich von Lilly über die Hochzeitsvorbereitungenzuquatschen und verbrachte die meisten meiner Nachmittage in der Redaktion. Dieersten zwei Artikel für meine Kolumne waren fertig und lagen Mrs. Smith vor,die nicht lange brauchte, um ihre Zustimmung zu geben. Ich wurde gelobt und manplante, den ersten Artikel in der zweiten Januarwoche zu veröffentlichen. DieTage vergingen, Weihnachten rückte immer näher und ich begab mich auf die Suchenach einem Job, um mir die Zeit zu vertreiben und ein wenig Geld zu verdienen.Ich fasste einen Beschluss. Nie wieder würde ich mich von einem Kerl so in dieIrre führen und ausnutzen lassen. Nach all dem was hier in New York passiertwar, trauerte ich wirklich meinem alten Ich nach und setzte alles daran, dieswiederzubekommen. Niemals hätte sie sich einfach so dem Alkohol hingegeben, nurum dann ihre Unschuld an einen fiesen, unterbemittelten Barkeeper zu verlierenund sich das Herz brechen zu lassen. Zum ersten Mal seit Langem dachte ichwieder an Max. Mein Retter in der Not. Heute war ich unglaublich froh, dasssich unsere Wege getrennt hatten, bevor ich auch ihm verfallen wäre. Es stelltesich also heraus, dass ich absolut kein Glück hatte, was Männer anging. Alsobeschloss ich, keinen Menschen mit einem Y-Chromosom mehr an michheranzulassen. Es war zwei Wochen vor Weihnachten, als ich meine erste Schichtantrat. Eine ältere Dame hatte Hilfe in ihrem Café gesucht, da ihre Enkelinschwanger war und Unterstützung beim Kellnern brauchte.
Es war ein verregneter Montagmorgen, kalt, doch zu kalt, als dass es hätteschneien können, als ich mir die Schürze umband. Ich seufzte leise, als ichnach Block und Kugelschreiber griff und hoffte, dass dieser Job meine Gedankenvon meiner unendlichen Dummheit wegführte. Jack hatte ich seit der verlorenenNacht – ich hatte begonnen sie so zu nennen, da ich nicht wusste, was genaupassiert war und sie eigentlich sowieso am liebsten für immer vergessen würde –nicht mehr gesehen und ich war unglaublich erleichtert deswegen. Zwar hatte ichMelli nicht gesagt, warum ich an diesem Morgen so aufgelöst in ihren Armengelandet war, doch sie war schlau und hatte schnell verstanden, dass es etwasmit der vorhergegangenen Nacht zu tun hatte. Wann immer sie und die anderenFreunde etwas unternahmen, fragte sie nicht, ob ich mitkommen wollte, sondernwarf die Möglichkeit sie zu begleiten lieber offen in den Raum. Ich war nichtmehr mitgekommen. Ich schämte mich so sehr, dass ich mich nicht traute, obwohlich Luna, Ole und Ryan gerne wiedersehen würde. Aber ich könnte weder Jack nochKathy, die ganz offensichtlich nicht ganz Unschuldig in dieser ganzen Sachewar, unter die Augen treten. Dazu war ich einfach nicht bereit und ich war mirziemlich sicher, dass es auch noch lange nicht dazu kommen würde.
Der Job war einfach, ruhig und brachte mich tatsächlich auf andere Gedanken.Während ich Kaffee und Kuchen servierte, überlegte ich sogar, ob ich nicht dochnoch spontan einen Last-Minute-Flug nach Jacksonville buchen sollte, umWeihnachten mit meiner Familie und Lilly verbringen zu können. Doch als ich inmeiner Mittagspause mit meinen Eltern telefonierte, um diese Idee mit ihnen zubesprechen, erfuhr ich, dass diese sich nächste Woche auf in die Karibikmachten und Vanessa mit ein paar Freunden einen Skiurlaub geplant hatte. Lillywürde Weihnachten mit Alessio feiern und da wollte ich auf keinen FallStörenfried spielen, also musste ich wohl oder über mit der Tatsacheklarkommen, Weihnachten alleine in der großen Stadt zu feiern. Ohne Familie undohne Freunde.
„Wir planen nichts Großes, aber du bist uns herzlich willkommen!", hatte Mellibeteuert, als wir am Abend über unsere Feiertagspläne sprachen, doch ichschüttelte nur ablehnend den Kopf. Ich würde mich nur wie ein Außenseiterfühlen. Seitdem ich nicht mehr bei den regelmäßigen Treffen der Freundeauftauchte, wurde mir immer mehr bewusst, dass ich nicht zu ihnen gehörte. Ichwar kein richtiges Mitglied der Gruppe und war es auch nie gewesen. Und so kamWeihnachten immer näher, während ich im Café und an meiner Kolumne arbeiteteund das Wohnheim nur noch verließ, um entweder arbeiten, oder in die Redaktionzu gehen. Zum ersten Mal seit meinem Umzug wurde mir bewusst, wie groß dieStadt und wie klein ich doch war.
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