27

Ich fühlte mich elend. Ich konnte weder mit Melli, noch mit Lilly über meine Befürchtungen sprechen. Beide wussten nichts von Jack und mir. Lilly wollte ich einfach nur noch nicht die Genugtuung geben, dass sie sagen könnte „Ich hab's dir doch gesagt!", denn wow, sie hatte es mir gesagt. Draußen regnete es. Der November neigte sich dem Ende zu und während in der Uni langsam die Semesterferien eingeläutet wurden, war ich so gar nicht in Weihnachtsstimmung. Heute Abend würde sich die ganze Clique seit Ewigkeiten mal wieder im Grande Seven treffen und wenn ich von der ganzen Clique sprach, dann meinte ich auch die ganze verdammt Clique. Ich war froh, dass es Ryan wieder besser ging. Ole hatte uns nicht in seine Nähe gelassen, aber jetzt wo er offiziell wieder die Wohnung verlassen durfte, kamen die beiden heute Abend auch zum Treffen der Freunde. Erst hatte ich mich gefreut, denn ich hatte die beiden und auch Luna schon lange nicht mehr gesehen, doch dann fiel mir ein, dass auch Kathy da sein würde. Seitdem Jack im Wohnheim war, hatte ich weder mit ihm geschrieben, noch ihn gesehen. Okay, es waren nur vier Tage gewesen, doch mir kam es viel länger vor. Noch immer konnte ich mir nicht sicher über seine Absichten sein, doch immer wieder erwischte ich mich kurz davor, einfach meinen Stolz runterzuschlucken und zu ihm zu gehen. Schließlich würde ich es nie erfahren, wenn ich mich vor ihm versteckte. Doch da war immer noch diese Angst. Ich hatte Angst, die Wahrheit zu hören, wenn sie bedeutete, dass Jack nicht gut für mich war. Wenn es bedeutete, dass ich ihm eigentlich ziemlich egal war. Und deswegen fürchtete ich mich so vor diesem Treffen.

„Ich hätte zuhause bleiben sollen.", murmelte ich leise vor mich hin, während ich Melli ins Grande Seven folgte. Ich sah, wie sie mir einen kurzen, belustigten Blick zuwarf und den Kopf schüttelte.
„Du hast seit Tagen nicht das Zimmer verlassen."
Ich zuckte nur mit den Schultern. Wozu auch? Ich hatte ja keinen Grund. Ich hatte zu keiner Vorlesung gemusst und zwischen mir und Jack herrschte Funkstille. Und das nach nicht einmal einer Woche.
Nervös wischte ich mir meine schwitzigen Hände an der Hose trocken und folgte Melli zur kleinen Ledercouch, auf welcher ich bereits aus der Entfernung Ryans dunklen Haarschopf ausmachen konnte.
„Hey, schön dass du wieder unter den Lebenden weilst!", begrüßte Melli den lang vermissten Freund und ich musste lächeln, als ich sah, wie gut er mittlerweile wieder aussah. Er hatte noch zwar ein, zwei Schrammen im Gesicht, die allerdings gut am Abheilen waren, aber er war nicht mehr so blass wie das letzte Mal als ich ihn gesehen hatte.
„Sei vorsichtig!", schimpfte Ole mit meiner Mitbewohnerin, als diese Ryan in eine enge Umarmung zog, doch Ryan lachte nur rau.
„Keine Sorge, Ole. Ich werde schon nicht durchbrechen."
Doch Ole sah nicht wirklich beruhigt aus.
„Schön, dass es dir wieder gut geht.", hieß auch ich Ryan willkommen und legte vorsichtig einen Arm um seine Schultern, um mir Oles Zorn zu ersparen.
„Schön, wieder hier zu sein."
Ich lächelte ihn aufmunternd an, drückte dann kurz Luna und schließlich ließ ich mich seufzend auf den freien Platz auf der Couch fallen und sah einmal in die Runde. Ryan und Ole teilten sich, wie immer, den Sessel und Luna, Melli und ich hatten uns auf die Couch gequetscht. Doch ich konnte nirgendwo Kathy oder Jack ausmachen. Verwirrt reckte ich mich, um in Richtung Bar sehen zu können, doch dort saß Kathy auch nicht. Was ich allerdings sah war Jack, mit mürrischem Blick am Gläser polieren. Mein Herz setzte für einen Moment aus, als ich seine angespannte Haltung sah. Er wirkte noch mieser gelaunt als sonst und ich konnte nicht verhindern, dass ich mich kurz fragte, ob es an mir lag. Irgendwie hegte ich insgeheim den Wunsch, dass dies so war und innerlich musste ich mir für mein egoistisches Denke eine Ohrfeige verpassen. Doch dann schwirrte mir nur ein einziger Gedanke durch den Kopf. Kathy war nicht hier. Das war meine Chance. Ich würde mit Jack reden können, ohne dass sie uns störte, ohne dass ihr Einfluss Jacks Meinung vergiftete und vielleicht, vielleicht konnten wir sogar schon jetzt alles klären. Ich atmete einmal tief durch, sog Mut in mich auf und fragte dann in die Runde, den Blick noch immer auf Jack gerichtet: „Will noch jemand was zu trinken?"
Ich war bereits aufgestanden, hörte Melli nur noch „Tequila!", hinter mir jubeln und machte mich auf den Weg zu Jack. Und mit jedem Schritt den ich tat, sackte mir das Herz ein Stückchen mehr in die Hose. War ich wirklich mutig genug? Doch ich hatte nicht mehr viel Zeit, mir die Antwort zu dieser Frage zu überlegen, denn plötzlich stand ich am Tresen, die Handflächen auf der hölzernen Oberfläche abgelegt und sagte emotionslos: „Eine Runde Tequilashots."
Jacks Blick fuhr hoch, doch auf seinem Gesicht zeigte sich keine Regung als er mich erkannte. Nervös biss ich mir auf die Unterlippe. Plötzlich kam ich mir unglaublich dumm vor. Jack starrte mich einfach nur an und fast hätte ich mich einfach wieder umgedreht, als er sich dann doch endlich dazu entschied, mit mir zu reden.
„Was machst du hier?"
Ich schluckte. Das Ganze fühlte sich an wie ein Deja Vú. Was sollte ich antworten? In meinem Kopf ploppten mehrere Möglichkeiten auf, doch ich bekam kein Wort heraus. Ich stöhnte genervt, schaute mich vorsichtig zu den Freunden um, die allerdings alle zu sehr mit Ryan und Ole beschäftigt waren und versuchten, verlorene Zeit wieder aufzuholen. Ich sah Jacks überraschten und vielleicht auch etwas geschockten Blick, als ich plötzlich über die Theke kletterte und auf seiner Seite der Bar neben ihm auf dem Boden aufkam. Ich sah ihm an, dass er meckern wollte, doch ich ließ ihm keine Gelegenheit auch nur ein Wort zu sagen. Jetzt war ich dran. Wenn ich nicht endlich fragte, würde ich niemals Antworten kriegen. Ich packte ihn am Saum seines T-Shirts und nachdem ich mit dem Ellbogen schwungvoll die Tür zum Mitarbeiterzimmer aufgestoßen hatte – es tat ehrlich gesagt ein bisschen weh – zerrte ich den völlig verdutzten Mann hinter mir in den kleinen Raum.
„Was hast du denn auf einmal?", beschwerte er sich, als die Tür hinter uns zugefallen war und richtete den Kragen seines Shirts. Sein Blick war irgendwie böse, doch gleichzeitig glaubte ich auch noch etwas anderes zu sehen. Schmerz? Während ich mir meine Worte sorgsam zusammenlegte, wanderte ich zu hintersten Ecke des quadratischen Raumes und lehnte mich an den hohen Holztisch, der dort unter einem kleinen Fenster stand. Ich wollte gerade anfangen, Jack eine ausgeklügelte Rede zu halten, als mein Blick auf seinen traf. Und schon warf ich jegliche Art von Vernunft über Bord.
„Ich will dich auch, Jack."
Überrascht weiteten sich seine Augen und er holte gerade Luft, um etwas zu sagen, doch ich redete einfach weiter. Ich war noch lange nicht fertig.
„Ich will dich so sehr, dass es fast schon wehtut. Aber nicht nur auf die Art und Weise, auf die du mich willst. Ich will nicht einfach nur dein Betthäschen sein. Ich will alles für dich sein. Dein erster Gedanke am Morgen und das letzte was du siehst, bevor du abends die Augen schließt. Ich will diejenige sein, die dein Herz zum Rasen bringt und die dich dazu bringt bei der Arbeit, wie ein verliebter Trottel vor dich her zu grinsen. Und es ist mir völlig egal, wenn das jetzt egoistisch oder überheblich klingt. Ich habe das verdient! Ich verdiene jemanden, der mich wertschätzt und für den ich etwas Besonderes bin. Das tust du auch. Bitte lass mich dieser jemand für dich sein."
Mir wurde erst klar, was ich da gerade von mir gegeben hatte, als mir auffiel, wie kalt es eigentlich in dem kleinen Zimmer war und dass Jack mich wie ein verschrecktes Kaninchen anstarrte. Frustriert stöhnend vergrub ich den Kopf in den Händen. Ich war zu weit gegangen. Ich wusste ja nicht einmal selbst, wo das gerade hergekommen war. Vielleicht hatte es schon eine Weile unter der Oberfläche gebrodelt, doch jetzt war es zu spät, um es zurückzunehmen oder ungeschehen zu machen.
„Okay."
Überrascht fuhr ich hoch.
„Was?", meine Stimme war viel mehr ein Hauchen.
Auf Jacks Lippen bildete sich ein leichtes Lächeln und er machte ein paar Schritte auf mich zu, während ich wie am Boden festgewachsen darauf wartete, dass er mich erreichte.
„Ich habe dir letztens schon gesagt, wie schlecht ich in solchen Dingen bin und deswegen ist das was ich von dir will vielleicht ein bisschen falsch rübergekommen. Ich kann das mit dem ganzen Liebeskram nicht.", begann er mit ruhiger Stimme zu erklären und meine Augen wurden groß. Er blieb nur wenige Zentimeter vor mir stehen, schaute mit sanftem Blick auf mich herunter und in meinem Körper breitete sich eine prickelnde, angenehme Wärme aus.
„Ich will auch, dass du dieser jemand für mich bist."
Mein Magen schlug mittlerweile Purzelbäume. Seine Lippen waren meinen mittlerweile so nah und gleichzeitig immer noch meilenweit entfernt. Meine Augen hatten sich fest in den seinen verharkt, schokoladenbraun schauten sie in meine und überrascht stellte ich fest, dass jegliche Kälte aus ihnen verschwunden war. Stattdessen waren sie rein und tief und weich und wohlig warm.
„Gib mir nur ein bisschen Zeit.", hauchte er und als sich seine Lippen bewegten, strichen sie fast unwillkürlich über meine. Ich war bereit ihm diese Zeit zu geben. Mir war nun bewusst, dass dieser ganze „Liebeskram", wie Jack es nannte, nicht nur für mich, sondern auch für ihn neu war. Und das war okay. In mir bildete sich ein Funken Hoffnung. Ich hoffte, dass wir es von nun an schaffen würden. Meine Augenlider flatterten und ich befürchtete, dass meine Beine jeden Moment nachgeben würden. Langsam und zärtlich legten sich seine großen Hände auf meiner Taille ab und ich schluckte schwer, bevor ich murmelte: „Gut, dass wir das so schnell klären konnten."
Jack brummte nur leise zustimmend, seine Stirn lag auf meiner und ich konnte seinen Atem auf meinen Lippen spüren und verdammt noch mal, er sollte mich endlich küssen!
„Darf ich dich jetzt küssen?"
Doch ich antwortete ihm nicht. Meiner Meinung nach hatten wir fürs erste genug gesagt. Meine Hand legte sich in seinen Nacken und mit einer schnellen, gierigen Bewegung hatte ich seine Lippen endlich mit meinen vereint.
Lilly sagte mir einmal, dass bei einem richtig guten Kuss ein Feuerwerk in deinem Bauch explodiert. Doch so war es bei diesem Kuss nicht. Nein, stattdessen startete eine ganze Rakete in meinem Magen. Jacks Griff war fest und leidenschaftlich, als er meinen Körper dicht an seinen presste. Seine Lippen waren, jetzt wo ich sie endlich auf meinen spürte, viel weicher als sie immer ausgesehen hatten. Ich seufzte in den Kuss hinein, schmolz beinahe in seinen Armen und genoss den Geschmack von Alkohol und Minze, der in meinem Mund explodierte.
„Jack.", murmelte ich gegen seine weichen, himmlischen Lippen, als sich unsere Lippen immer gieriger, immer leidenschaftlicher aufeinander bewegten. Er summte und die Vibrationen jagten einen Schauer durch jede entflammte Faser meines Körpers. Die Kante des Tisches hinter mir presste sich hart in meinen Rücken, als Jack mich ein paar Schritte nach hinten drängte, allerdings ohne den Kuss zu unterbrechen. Diesen wunderbaren, perfekten Kuss. Mein Oberkörper schmiegte sich perfekt an seine breite Brust, meine Arme schlangen sich wie von alleine um seinen Nacken, seine Hände strichen an meiner Hüfte zärtlich hoch und runter und in mehr brauchte es nicht, um den Rest der Welt zu vergessen.

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