25
Es regnete. Wie passend. Mein Blick war starr und leer. Das dreckige Wasser der Pfützen durch die ich schlurfte spritze gegen meine Hosenbeine, doch es war mir egal. Alles was ich denken konnte war, dass Jack offen gestanden hatte, dass er sich nach mir verzehrte. Und dass ich einfach abgehauen war, wie ein Feigling. Es war so merkwürdig. Ich war zu ihm gekommen und hatte ihn gesehen und dieses warme, ziehende Gefühl im Magen gehabt, doch als er mir seine Gefühle offenbart hatte, war alles weg gewesen. Hatte ich mich gerade entliebt? War das möglich? Ich war völlig durchnässt, doch selbst das kam nicht richtig bei mir an. Ich war in einer gefühlslosen Taubheit gefangen, die meinen ganzen Körper und meine Gefühle gefangen hielt. Wieso war ich nicht glücklich? Wieso hatte ich Jacks Geständnis so schrecklich gefunden? Lag es daran, dass mich noch nie ein Mann begehrt hatte? Dass ich nie eine richtige Beziehung hatte? Oder war ich schlichtweg einfach verklemmt? Ich hatte keine Ahnung. Vielleicht befand ich mich ja in einer Art Schockstarre. Das würde zumindest die Taubheit erklären. Ich blieb mitten auf dem Gehweg stehen, um mir die Tränen aus den Augen zu wischen und einmal tief durchzuatmen. Es war lächerlich in so einem Moment zu weinen. Um mich herum wurde geschwatzt, gelacht, telefoniert und geschrien und von der Straße kam stetiges Hupen und das Brummen von Motoren. Und doch stand alles irgendwie still. Taub. Träge. Einfach still.
*
Die nächsten Tage waren eine Qual. Es dauerte lange, bis ich wieder begann etwas zu fühlen. Nicht einmal Melli war in dieser Zeit zu mir durchgedrungen. Immer wieder hatte ich sie vertröstet und ihr gesagt, dass ich mich nur ein wenig kränklich fühlen würde. Und irgendwie war das nicht mal so abwegig. Ich bekam gar nicht richtig mit, wie ich zu den Vorlesungen ging und hatte alles was Melli mir erzählte sofort wieder vergessen. Ich war eine schreckliche Freundin. Gerne hätte ich mir ihre Probleme und Geschichten angehört und ihr von meinen erzählt, doch alles was in meinem Kopf herumschwirrte waren Jacks Worte. Ich will dich, Liv. Und das schlimmste war, dass ich ihn auch wollte. Nachdem der Schock vorüber gegangen war, hatte mich diese Erkenntnis wie eine Flut überrollt. Natürlich wollte ich ihn! Wie konnte ich nur daran zweifeln?! Auf dem Dach des Empire State Buildings hatte ich es mir endlich eingestanden, doch eigentlich wollte ich ihn schon viel länger. Vielleicht seitdem wir mit diesen Ausflügen angefangen hatten. Vielleicht aber auch erst, seitdem Ryan im Krankenhaus gelandet war. Und jetzt? Jetzt saß ich in Mellis und meinem Zimmer und realisierte, dass ich verkackt hatte. Meine Reaktion auf Jacks Geständnis war vielleicht für mich verständlich gewesen, doch ganz sicher nicht für ihn. Er war auf diesem Gebiet nicht so neu wie ich es war. Und jetzt befürchtete ich, dass ich meine einzige Chance vertan hatte. Die ganze Woche über begleitete ich Melli nicht in die Bar, aus Angst auf Jack zu treffen. Denn ich wusste, ich würde es ihm nicht sagen können. Es fiel mir ja sogar schwer, es mir selbst einzugestehen. Wann immer ich alleine war versuchte ich es laut auszusprechen. Jack wollte mich, ich wollte ihn und ich wollte, dass ich sein und er mein war. Eigentlich eine ganz einfache Aussage. Ich schrieb alles was ich fühlte auf. Das fiel mir leichter als darüber zu sprechen, doch irgendwie reichte es nicht. Ich wollte Jack unbedingt sagen, was ich für ihn empfand und wie dankbar ich ihm für seine Ehrlichkeit war, doch irgendetwas hielt mich zurück. Ich war einfach zu vorsichtig. Und das hasste ich.
*
Genau eine Woche später, als ich mal wieder in Mellis und meinem Zimmer saß und an meiner Kolumne arbeitete, die übrigens bald erscheinen sollte und ich nach draußen auf den Campus starrte, da hatte ich plötzlich genug. Es war affig einfach nur hier rumzusitzen, mich zu isolieren und allem aus dem Weg zu gehen. Melli war mal wieder bei Mr. Abrahams, mittlerweile hatte ich durchschaut, wann sie die Wahrheit sagte und wann sie über ihren Aufenthalt log und ich hatte eben erst mit Lilly telefoniert, die sich heute ein Brautkleid gekauft hatte. Beide waren unglaublich glücklich und verliebt und dann war da ich. Stand ich meinem eigenen Glück im Weg? Erschrocken zuckte ich zusammen, als die Tür schwungvoll aufgestoßen wurde und eine breit grinsende Melli im Türrahmen stand. Abwartend zog ich eine Augenbraue hoch.
„Zieh dich an, wir treffen uns mit den anderen zum Essen."
Zweifelnd kaute ich auf meiner Unterlippe herum und schloss meinen Laptop.
„Aber es ist schweinekalt draußen und es wird langsam dunkel.", versuchte ich mich rauszureden, doch Melli schnaubte nur.
„Wie alt bist du, zehn? Jetzt zieh dich an!"
Seufzend sah ich erneut aus dem Fenster. Jack würde da sein. Und Kathy. Es würde sicher total absurd und merkwürdig werden. Und doch wollte ich ihn sehen. Auch wenn ich meine Chance vertan hatte, ich wollte ihn sehen.
„Leihst du mir deine Boots?", fragte ich, als ich vom Bett rutschte und Melli riss triumphierend eine Faust in die Höhe.
Es war mehr als nur schweinekalt draußen. Die Hände tief in die Taschen meiner Winterjacke geschoben beobachtete ich, wie mein Atem weiße Wölkchen bildete. Ich zitterte am ganzen Körper, als ich Melli folgte, die mit langen Schritten vorauseilte und mir kaum Beachtung schenkte. In dieser Hinsicht war sie ganz wie ihr Bruder. Wir waren allerdings nicht lange unterwegs, schon nach zehn Minuten öffnete Melli die Tür zu einer kleinen Pizzeria und fröstelnd schlüpfte ich hinter ihr ins Warme. Es war nicht viel los, nur ein paar Tische waren besetzt, aber man hörte reges Stimmengewirr und Gelächter und die Luft war erfüllt von Pizza- und Pastageruch.
„Die anderen sind dahinten.", hörte ich Melli sagen, während sie mit dem Finger auf einen Tisch in der hintersten Ecke zeigte. Abwesend nickte ich und folgte ihr durch das kleine Restaurant. In Gedanken war ich nicht hier. In Gedanken war ich an einem komplett anderen Ort, doch ich musste mich jetzt zusammenreißen, damit nicht auffiel, dass etwas zwischen Jack und mir vorgefallen war.
„Hi!", begrüßte Melli die anderen fröhlich und zum ersten Mal seitdem wir das Restaurant betreten hatten, hob ich den Kopf um zu sehen, wer eigentlich alles hier war. Überrascht stellte ich fest, dass es lediglich Jack und Kathy waren, doch genau das war der Moment in dem mir das Blut in den Adern gefror. Kathys Blick lag böse und giftig auf mir und die Art wie sie ihre Hand über Jacks Oberarm wandern ließ, war provozierend und sorgte dafür, dass mir schlecht wurde. Und noch viel schlimmer war, dass Jack mich keines Blickes würdigte. Ich schluckte schwer und ließ mich wortlos auf den Stuhl gegenüber von Jack fallen, da Melli den anderen beschlagnahmt hatte. Diese begann irgendetwas zu erzählen, doch ich schaffte es nicht, ihr meine Aufmerksamkeit zu schenken. Mit zusammengeschobenen Augenbrauen starrte ich auf die flackernde Flamme auf dem Tisch und versuchte so unsichtbar zu sein wie möglich. Das gelang mir anscheinend aber nicht sehr gut, denn aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jacks Blick auf mir ruhte. Melli und Kathy waren mittlerweile in ein angeregtes Gespräch über das Haarefärben vertieft und so wagte ich es, Jacks Blick zu erwidern. Doch sofort fiel mir wieder Kathys Hand auf, die mittlerweile nicht mehr auf seinem Arm lag, sondern runter auf seinen Oberschenkel gerutscht war. Ich konnte nicht verhindern, dass mein Blick ärgerlich wurde. In meiner Magengegend spürte ich wieder dieses unangenehme Ziehen, doch dazu gesellte sich gerade eine geballte Wut, die mich beinahe überwältigte. Jacks Blick war inzwischen so intensiv, dass ich nicht anders konnte, als ihm direkt ins Gesicht zu schauen. Plötzlich sah ich, wie er eine auffordernde Kopfbewegung machte und in seinen Augen lag etwas Flehendes. Verwirrt legte ich den Kopf schief, woraufhin Jacks Geste nur noch auffälliger wurde. Ich wollte gerade den Mund aufmachen und mich vom Tisch entschuldigen, als plötzlich der Kellner neben mir stand, um die Bestellung aufzunehmen. Ich sah Jacks frustrierten Gesichtsausdruck und konnte diesen sehr gut nachempfinden. Es war eine Chance gewesen, zu reden und alles zu klären, denn anscheinend wollte er das auch, doch jetzt befürchtete ich, dass das Schicksal sich uns in den Weg gestellt hatte. Ich hatte nie ans Schicksal geglaubt, jedenfalls nicht in einer so obsessiven Art wie andere Menschen, doch in diesem Moment schrieb ich es dem Schicksal zu, dass Jack und mir eine Chance auf ein klärendes Gespräch verwehrt worden war.
Nachdem wir unser Essen bestellt hatten bot sich keine Gelegenheit mehr, dass Jack und ich unter vier Augen sprechen konnten. Kathy hing an ihm wie eine Klette und einmal meinte ich sogar ein genervtes Augenrollen bei Jack gesehen zu haben, als sie ihm an den Oberarm packte. Wenn es stimmte, dass er sich nur mit ihr abgab, weil sie so eine Zicke war, wie er es in seinem Geständnis zu verstehen gegeben hatte, dann tat er mir ehrlich leid. Nach einer Weile schien er es nicht mehr auszuhalten. Ruckartig stand er auf und griff nach seiner Jacke.
„Ich gehe eine rauchen.", war alles was er sagte, dann stürmte er davon und ich war mir nicht sicher, ob ihm folgen sollte. Doch bevor ich das entscheiden konnte, hörte ich Kathy genervt seufzen.
„Hat er dir schon erzählt, dass er sich an der NYU bewerben will? Anscheinend will er das schon, seitdem die Jacksonville University ihn abgelehnt hat, worüber ich nebenbei bemerkt unglaublich froh bin. So bleibt er wenigstens in unserer Nähe."
Ich schnaufte und mir rutschte ein ironisches Lachen heraus, woraufhin Kathys Blick direkt in meine Richtung schoss. Es war mir einfach so herausgerutscht, doch jetzt war es zu spät um so zu tun, als wäre nichts vorgefallen. Kathys Aussage war einfach von Grund auf verkehrt.
„Die Jacksonville war sein Traum und du lachst dir ins Fäustchen, weil sie ihn nicht aufgenommen hat. Siehst du nicht, wie unglaublich egoistisch das ist?", platzte es aus mir heraus und ich spürte Mellis überraschten Blick auf mir. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie Kathy zustimmte. Das wäre einfach nur ekelhaft. Kathy verzog die Lippen und musterte mich mit einem so abwertenden Blick, dass sich auf meinen Armen eine Gänsehaut bildete.
„Was weißt du schon, wovon er träumt? Er würde alleine doch gar nicht klarkommen. Hier sind seine Freunde und seine Schwester. Und hier bin vor allem ich."
Ich rollte mit den Augen und versuchte es nicht mal zu verstecken.
„Selbstsüchtige Ziege!", fauchte ich sie an und stand in aller Ruhe auf.
„Wo willst du hin?", fragte Melli überfordert, ein besorgter Ausdruck auf ihrem Gesicht. Es tat mir leid, dass ich ihre beste Freundin angegriffen hatte, doch sie war tatsächlich ganz einfach eine selbstsüchtige Ziege.
„Ich leiste Jack Gesellschaft, eine Zigarette ist jetzt genau das Richtige." Dann tat ich es Jack gleich, griff nach meiner Jacke und verließ fluchtartig und mit erhobenem Kopf das Restaurant. Ich war so unglaublich wütend auf die dunkelhaarige Zicke, dass ich es nicht länger mit ihr in einem Raum, geschweige denn am gleichen Tisch aushielt. Kraftvoll stieß ich die Glastür auf und genoss die kalte Abendluft, die mein erhitztes Gesicht angenehm kühlte. Suchend sah ich mich nach Jack um und machte ein paar Schritte den Gehweg runter, bis ich ihn in einer kleinen Gasse an eine dreckige Backsteinmauer angelehnt fand. Ich sah seinen überraschten Blick, als ich plötzlich direkt vor ihm stand, ihm dann einfach die Zigarette aus der Hand nahm und einen kräftigen Zug tat. Der Rauch brannte sich in meine Lunge und hustend beugte ich mich etwas vor.
„Scheiße, ist das widerlich.", krächzte ich und schüttelte angewidert den Kopf, während Jack mir lachend auf den Rücken klopfte.
„Was ist denn mit dir los?", fragte er und es war das erste Mal an diesem Abend, dass er mit mir sprach. Seine Stimme war tief und kratzig und als ich mich endlich von meinem Hustenanfall erholt hatte und wieder aufgerichtet hatte, machte mein Herz einen kleinen Sprung, als ich seinen Blick auf mir sah. Es fiel mir nur ein Wort ein, um diesen Blick zu beschreiben. Liebevoll. Meine Hände zitterten leicht, als ich einen weiteren Zug nahm und dieses Mal nur ein kleines Husten ausstieß.
„Kathy ist ne Bitch.", sagte ich zusammenhanglos und Jack nickte bestätigend.
„Was fandest du an ihr?", fragte ich dann und schüttelte ungläubig den Kopf. Der Dunkelhaarige vor mir seufzte leise und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Sie waren etwas kürzer als vor einer Woche und ich musste zugeben, dass er, wenn möglich, noch besser aussah.
„Keine Ahnung. Bevor du kamst war sie viel netter."
Ich nickte langsam und starrte auf meine Füße herunter.
„Sie hasst mich.", murmelte ich zerknirscht. Wenn sie es nicht schon vorher getan hatte, dann tat sie es spätestens jetzt.
„Na und?", hörte ich Jack sagen und als ich den Kopf hob, sah ich ihn unbeteiligt mit den Schultern zucken. Ich seufzte und hob die Hand an, um noch einmal an der Zigarette zu ziehen, doch plötzlich hatte Jack sie mir blitzschnell aus der Hand geschnappt.
„Hey!", protestierte ich mit zusammengeschobenen Augenbrauen und machte einen Schritt nach vorne, sodass mein rechtes Bein von Jacks Beinen eingeschlossen wurde, um so wieder an den Glimmstängel zu kommen. Vielleicht war es aber auch nur ein Vorwand, um ihm nahe zu sein.
„Lass das, das ist nicht gut für dich.", sagte er einem ernsthaften Ton, doch auf seinen Lippen lag ein schiefes Grinsen. Auf seinen wunderschönen, zarten Lippen. Wenn ich mutiger wäre, dann hätte ich ihn jetzt geküsst. Doch ich war alles andere als mutig. Schmollend wollte ich wieder einen Schritt zurück machen, wenn es mir auch widerstrebte, doch ich wollte ihn nicht belästigen. Aber plötzlich spürte ich Jacks Arm, der sich einmal komplett um meinen unteren Rücken schlang und mich fest an Ort und Stelle hielt. Unsere Beine rieben sich schamlos aneinander und meine Hand war auf seiner breiten Brust abgelegt, weil ich sonst das Gleichgewicht verloren hätte. Sofort wurde ich knallrot.
„Es tut mir so leid, dass ich letztens einfach weggerannt bin. Ich hatte einfach nicht erwartet-", platzte es aus mir heraus, doch Jack unterbrach mich mit einem sanften „Shh."
„Schon gut. Ich habe dich überrumpelt. Und jetzt bist du ja da, wo du hingehörst."
Seine Stimme war leise und weich, doch zugleich auch rau und mir rann ein wohliger Schauer über den Rücken, als ich spürte, wie seine Finger willkürliche Muster durch den Stoff meiner Jacke zeichneten. Ich schluckte hart und musterte nachdenklich sein Gesicht. Ich hatte ihm nie gesagt, wie ich fühlte, doch gerade wurde mir klar, dass er es schon die ganze Zeit über gewusst hatte. Plötzlich wurde mir ganz warm und ein zufriedenes Lächeln legte sich auf meine Lippen. Jack hatte mir gerade bewiesen, dass das was zwischen uns war, richtig war. In diesem Moment waren Worte überflüssig. Jack konnte in mein Herz sehen und ich endlich auch in seins. Genau in diesem Augenblick waren wir offen und ehrlich und zeigten einander unsere Gefühle und es war das Schönste, was ich jemals empfunden hatte. Wir standen in dieser Gasse, ich in seinen Armen und zum ersten Mal war ich ohne Ausnahme voll und ganz glücklich.
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