23

Das leise Ticken der antiken Wanduhr über Mellis Bett würde mich noch verrückt machen. Mit enttäuschtem Schmollmund beobachtete ich, wie der Minutenzeiger der sechs immer näherkam. 30 Minuten. Cole war bereits 30 Minuten zu spät. Seufzend ließ ich mich zurück in die weichen Laken fallen und starrte hoch an die weiße Decke über mir. Seit fast 40 Minuten saß ich jetzt schon auf meinem Bett, Schuhe und Jacke schon angezogen, geschminkt und sogar meine Haare hatte ich leicht gelockt. Nur um dann versetzt zu werden? Ich warf einen erneuten hoffnungsvollen Blick auf mein Handy, doch wie auch schon vor fünf Minuten, hatte ich keinen verpassten Anruf und keine neue Nachricht. Keine Ahnung wo Cole war, oder was er hiermit erreichen wollte, doch ganz sicher war, dass er mich versetzt hatte. Grummelnd richtete ich mich wieder auf und bückte mich, um aus den Boots zu schlüpfen, die ich mir von Melli ausgeliehen hatte, doch hielt inne, als ich bereits einen Absatz gegriffen hatte. Nein, ich würde jetzt nicht Trübsal blasend im Zimmer hocken und meinen Freitagabend alleine, armselig und versetzt verbringen. Wenn Cole sich wirklich dazu entschieden hatte, ein Arsch zu sein, dann sollte mich das nicht weiter kümmern. Ich war eh nicht besonders scharf auf dieses Date gewesen. Einen allerletzten Blick warf ich jedoch noch auf mein Handy. Nichts. Schnaubend griff ich nach meiner kleinen, schwarzen Umhängetasche, schrieb Melli auf einen Zettel, wo ich hingehen würde und verließ erhobenen Hauptes das Zimmer.
Draußen angekommen beobachtete ich zuerst eine Weile lang frustriert, wie mein Atem kleine Wölkchen in der trüben Luft bildete. Melli war vor einer Stunde abgehauen, offiziell wusste ich nichts, doch mir war natürlich klar, dass sie bei Mr. Abrahams war. Luna war nie zu erreichen, Ryan und Ole wollte ich nicht stören und bei Kathy anzurufen traute ich mich nicht. Und zu Jack konnte ich erstrecht nicht. Schon traurig, dass das alle waren, die ich in dieser Stadt kannte. Es blieb nur ein Ort übrig, an den es mich gerade zog. Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe und je länger ich einfach nur herumstand, desto stärker zitterte ich. Ich schüttelte den Gedanken daran, dass ich versetzt wurde, ab und langsam begann ich in Richtung U-Bahn zu laufen, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben und der Blick fest auf den Boden unter mir gerichtet. Ich machte mich auf den Weg zur Redaktion und als ich das Drehkreuz der riesigen Eingangshalle passiert hatte, schämte ich mich, dass ich schon so lange nicht mehr hier gewesen war. Ich war überrascht, dass auf der Etage der Redaktion noch so viel los war. Zwar hatte ich bei meinen spärlichen Besuchen durchaus mitbekommen, dass Überstunden hier beinahe schon Pflicht waren, doch dass selbst an einem Freitagabend um 20 Uhr noch Betrieb war, dass hatte ich nicht erwartet. Ich begrüßte die Mitarbeiter, die geschäftig an mir vorbei eilten, doch wurde meistens ignoriert, was ich gewohnt war. Keiner hatte Zeit für einen kleinen Möchtegern wie mich. Sehnsüchtig beobachtete ich, wie hinter einer riesigen Glaswand die Weihnachtsedition geplant wurde und fühlte mich plötzlich unglaublich schlecht. Ich hatte in letzter Zeit kaum einen Gedanken an den Journalismus und meinen Traum verschwendet und selbst die Vorlesungen kamen mir immer qualvoller vor. Wann hatte ich mein großes Ziel bloß aus den Augen verloren? Und warum? Entschlossen nahm ich mir vor, mich von jetzt an nicht mehr ablenken zu lassen. Ich durfte nicht vergessen, dass ich mich nur mit den Freunden traf, um meinen Blog mit Tratsch und Geheimnissen füllen zu können. In meinem kleinen Büro war es stickig und gleichzeitig eiskalt und ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich das Fenster öffnen, oder die Heizung aufdrehen sollte. Ich entschied mich für letzteres und ließ mich dann seufzend an meinem Schreibtisch nieder, der mit Notizzetteln, Blöcken und losen Blättern überhäuft war. Zum ersten Mal fiel mir so richtig auf, was ich in den letzten Monaten alles erlebt hatte. Jetzt müsste ich nur noch etwas Brauchbares daraus machen.
Es war schon ziemlich spät, als ich das nächste Mal auf die Uhr schaute. Halb zehn. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie lange ich schon vor dem Computer gehockt hatte, doch jetzt bemerkte ich die Schmerzen in meinem Rücken und das leichte Pochen hinter meinen Schläfen. Rasch speicherte ich meine Arbeit und fuhr dann den PC herunter. Als ich zurück zum Aufzug lief, gruselte ich mich ein bisschen vor der gähnenden Leere, die mich umgab. Nur dem Hausmeister und der Sekretärin begegnete ich, ansonsten war die Redaktion wie leergefegt. Ein paar Leute waren noch in der Eingangshalle unterwegs, die meisten verließen das Gebäude schon. Draußen war es noch kälter als vor zwei Stunden und fluchend zog ich die Schultern hoch und duckte den Kopf, damit mir nicht die Ohren abfroren. Als ich wieder auf dem Gehweg angekommen war, rannte ich deswegen beinahe in jemand anderes herein, doch bevor dies passieren konnte, hörte ich, wie dieser jemand meinen Namen sagte. Überrascht blickte ich hoch und konnte unter der schwarzen Beanie einen braunen Lockenkopf erkennen.
„Jack? Was machst du hier?", fragte ich verwundert.
„Melli hat mir gesagt, dass du hier bist."
Das beantwortete nicht meine Frage. Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen und sah zu, wie Jack die Hände aus den Taschen seiner Jackentasche zog und sich die Handschuhe von den Händen streifte.
„Hier.", war alles was er sagte, als er sie mir in die Hand drückte. Leise bedankte ich mich und seufzte wohlig, als ich den weichen Stoff meine Finger wärmen spürte.
„Bereit?"
„Bereit wofür?"
„Für ein Abenteuer."

Verstohlen sah der Dunkelhaarige sich um, bevor er einen großen Schritt zur Seite machte und mich an der Hand hinter sich herzog. Die Kameratasche an seiner Seite baumelte dabei fröhlich hin und her. Jack hatte uns zum Empire State Building geführt, doch anstatt mit ein paar anderen Touristen mit dem Fahrstuhl in die oberste Etage zu fahren, waren wir schon früher ausgestiegen. Rasch joggte er in Richtung einer grauen Tür, auf der Betreten verboten stand und ungeschickt stolperte ich ihm hinterher.
„Wohin-", doch ein genervtes „Shh" unterbrach mich.
„Wir können da nicht rein! Das ist verboten!", versuchte ich erneut, als ich sah, wie er die graue Tür öffnete und in das Treppenhaus dahinter schaute.
„Natürlich können wir da rein. Nur weil wir es nicht dürfen, heißt das nicht, das wir nicht können."
Zweifelnd legte ich den Kopf schief und kaute nervös auf meiner Unterlippe. Jack schaute mich herausfordernd an, doch ich sah mich ängstlich um. Ich fühlte mich hierbei gar nicht wohl.
„Was wenn man uns erwischt?"
„Es wird uns keiner erwischen."
Und dabei klang er so überzeugt und sein Blick war so intensiv und aufregend und abenteuerlustig, dass ich einmal tief seufzte und dann an ihm vorbei ins Treppenhaus huschte.
„Dank dir bin ich eine Gesetzesbrecherin.", grummelte ich im Vorbeigehen und konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie sich ein schiefes Grinsen auf seine Lippen legte.
„Gib zu, du liebst das Gefühl."
Ich antwortete ihm nicht.
Schweratmend kamen wir ein paar Minuten später an einer weiteren grauen Tür an und Jack legte die Hand auf der Klinke ab, drehte sich aber noch einmal zu mir um. Mit bebender Brust, teilweise von der Anstrengung, aber auch wegen des Nervenkitzels, nickte ich ihm zu. Jetzt wollte ich auch verdammt noch mal sehen, wofür ich da gerade das Gesetz gebrochen hatte. Kalte Luft strömte mir entgegen, als Jack die Tür öffnete und bevor ich es überhaupt realisieren konnte, stand vor mir bunt und laut und lebendig die Stadt. Und ich befand mich ganz oben auf dem Empire State Building. Ich konnte nicht verbergen, wie beeindruckt ich von der atemberaubenden Aussicht war, die sich vor mir erstreckte und stieß ein atemloses „Wow!" aus. Hinter mir schob Jack einen Holzkeil zwischen Tür und Rahmen, damit sie einen Spalt offenblieb, dann folgte er mir zum Rand der Plattform. Von allen Seiten sah ich nur Lichter und hörte nur Hupen und das leise Brummen der Autos unter uns, doch über mir spannte sich ein wolkenloses, sternengesprenkeltes Himmelszelt.
„Es ist wunderschön."
Neben mir nickte Jack zustimmend. Dann war es eine Weile still, als wir nebeneinander stehend die Stadt genossen und in den Himmel starrten. Es war wirklich wunderschön. Mittlerweile hatte ich sogar ganz vergessen, dass wir gar nicht hier oben sein durften und war froh, dass Jack mich hierhergebracht hatte. Der schoss übrigens ein Foto nach dem anderen und bemerkte nicht, wie ich ihn gedankenverloren dabei beobachtete.
„Vor dir liegt eine ganze, bunte Großstadt unter einem riesigen Sternenhimmel und du guckst mich an?"
Okay, vielleicht bemerkte er es doch. Sofort schoss mir das Blut in die Wangen und ich zuckte nur beschämt mit den Schultern, als Jack die Kamera senkte und sich in meine Richtung drehte.
„Bleib so.", sagte er und bevor ich protestieren konnte, hatte er ein Foto von mir vor der wunderschönen Aussicht geschossen.
„Ey!", beschwerte ich mich, doch Jack beachtete meinen Protest gar nicht. Wie so oft. Mit den Augen rollend drehte ich mich weg und lehnte mich an die hohe Mauer, die mich vom tödlichen Abgrund trennte. Wenn sich so ein Abenteuer anfühlte, dann wollte ich von jetzt an nur noch Abenteuer erleben.
„Ich weiß es."
Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen wandte ich den Kopf in Jacks Richtung, der mittlerweile neben mir stand und sich mit den Unterarmen auf der Mauer abstützte.
„Cole. Dass er dich versetzt hat."
Ich sagte nichts, wich einfach seinem Blick aus und starrte wieder die Lichter vor mir an.
„Ist egal.", antwortete ich schließlich und lächelte leicht.
„Mit ihm wäre der Abend nie so schön geworden."
Jacks linker Arm streifte meinen, als er sich in meine Richtung drehte und seitlich an die Mauer lehnte. Ich konnte sehen, wie sein nachdenklicher Blick auf mir ruhte. Doch es war mir gar nicht mehr unangenehm. Nicht so wie sonst.
„Er verdient dich auch gar nicht. Du bist zu gut für ihn. Für jeden."
Es kam ganz plötzlich. Wie eine Welle überkam es mich. Man sagt, das Herz würde vor Aufregung rasen und man bekam Schmetterlinge im Bauch. Doch ich fühlte nur eine angenehme, wohlige Wärme, die durch meinen ganzen Körper flutete. Und ich glaube das war der Moment, in dem ich mich ein klitzekleines bisschen in Jack Parker verliebte. Aber wenn mich jemand jemals danach fragen würde, würde ich das natürlich niemals zugeben.

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