21
Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete war das erste, was ich sah, eine nackte Männerbrust. Ich war viel zu müde, um wirklich zu verstehen, was los war. Alles was ich wusste war, dass es viel zu früh und die warme Haut so unglaublich angenehm unter meiner Wange war. Wohlig seufzend rutschte ich noch ein wenig näher an den Körper neben mir, was eigentlich so gut wie unmöglich war, da ich bereites halb auf ihm drauf lag. Aber es war einfach so schrecklich gemütlich. Ich ignorierte das Sonnenlicht, das durch das Fenster auf das große Doppelbett schien, sondern schloss wieder die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen, die meinen Körper angenehm wärmten. Bis ich plötzlich eine tiefe, kratzige Stimme hörte.
„Liv."
Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich hoch und starrte auf Jack runter, der mit verwuschelten Haaren und geschlossen Augen zwischen den grauen Laken lag.
„Oh mein Gott.", hauchte ich und kraxelte zurück auf die andere Seite des Bettes, auf der ich in der Nacht eigentlich eingeschlafen war. War ich tatsächlich zu ihm rübergerutscht, als ich geschlafen hatte? Denn ich konnte mich absolut nicht daran erinnern, mich an ihn gekuschelt zu haben. Grummelnd vergrub ich mein Gesicht in den Händen und ließ währenddessen die Beine von der Bettkante baumeln. Ich hörte, wie Jack sich hinter mir bewegte. Die Decke raschelte und dann hob sich die Matratze ein wenig an, als er aufstand. Neugierig drehte ich den Kopf und lugte hinter meinen Fingern hervor. Auf der anderen Seite des Bettes stand Jack und als er sich brummend streckte, konnte ich beobachten, wie sich seine Rückenmuskeln sinnlich bewegten. Dann wandte er sich in meine Richtung und blitzschnell drehte ich meinen Kopf wieder weg, doch spürte die Hitze in meinen Wangen, als ich ihn tief lachen hörte. Natürlich hatte er mich erwischt. Der Teppich verschluckte seine Schritte, als er aus dem Raum tapste und erleichtert ließ ich die Hände sinken, bevor ich einmal tief durchatmete. Was sollte ich nun machen? Ich hatte keine Ahnung, wo genau sich Jacks Wohnung befand und wie ich zum Wohnheim zurückfinden würde. Meine Augen wurden groß, als ich mich schreckhaft daran erinnerte, dass Melli keine Ahnung hatte, wo ich war und sich ganz bestimmt Sorgen machte. Fluchend sprang ich auf, stolperte dabei beinahe über den weiten Stoff der Schlafanzughose, die viel zu groß war und suchte nun hellwach meine Klamotten zusammen. Schnaufend sprang ich auf der Stelle, um meinen Arsch in die schwarze Skinny Jeans zu bekommen. Es dauerte eine Weile, aber schließlich hatte ich es geschafft und warf Jacks T-Shirt aufs Bett, bevor ich überhaupt den Reisverschluss oder den Knopf der Hose geschlossen hatte. Beinahe hatte ich mein Oberteil verkehrt herum angezogen, doch nach einer Weile war ich tatsächlich angezogen. Ich pustete mir eine verknotete Haarsträhne aus dem Gesicht, während ich meine Hose schloss und mich dann den Kopf hin und her werfend nach meinen Schuhen umsah. Überfordert raufte ich mir die Haare, als ich sie nicht zwischen dem Chaos auf dem Schlafzimmerboden entdecken konnte und ließ mich kurzerhand auf die Knie fallen, um unterm Bett nachzusehen. Tatsächlich entdeckte ich die schwarzen Boots, musste aber halb unters Bett krabbeln, um überhaupt dran zu kommen. Fluchend versuchte ich den Absatz des linken Schuhs zwischen die Finger zu kriegen, streckte und reckte mich so sehr, dass mein Gesicht und mein Oberkörper schon flach auf dem Boden lagen, während mein Hinterteil hoch in die Luft gestreckt war. Endlich hatte ich den zweiten Schuh erwischt und schleuderte ihn an mir vorbei ins Freie.
„Was machst du da?"
Erschrocken fuhr mein Kopf hoch und knallte mit einem dumpfen Geräusch gegen den Rahmen des Bettes. Fluchend kam ich unterm Bett hervor und vermied es, Jack anzusehen, während ich mir mit vor Schmerz verzogenem Gesicht den Kopf rieb. Er war aber auch wirklich im schlechtesten Moment reingekommen. Der Dunkelhaarige lachte schadenfroh und ich konnte nicht anders, als ihm einen giftigen Blick zu zuwerfen, der allerdings nicht mal ansatzweise wirkungsvoll war, da Jacks Lachen nur noch lauter wurde. Mit zu Schlitzen verengten Augen musterte ich ihn und konnte nicht verhindern, dass meine Augen runter zu seinem nackten Oberkörper wanderten. Unter der leicht gebräunten Haut zeichneten sich deutliche Brustmuskeln ab und auch der Ansatz eines Sixpacks war zu erkennen. Doch was wirklich faszinierend war, waren seine Tattoos. Auf der Brust stand das mir schon bekannte Tempus Fugit, doch was ich bisher nicht wusste war, dass fast sein ganzer Oberkörper, sowie seine Arme in dunkle Tattoos gekleidet waren. Doch mir blieb keine Zeit, sie ausgiebig zu betrachten, auch wenn ich das schrecklich gerne getan hätte, denn mittlerweile hatte Jack zu lachen aufgehört und blickte mich nachdenklich an. Rasch fuhr ich aus meiner hockenden Position auf und ließ mich auf die Bettkante fallen, während ich in meine Schuhe schlüpfte und seinem Blick auswich. Es war mir in diesem Moment sogar egal, dass er mich beim Starren beobachtet hatte. Ich wollte einfach nur ganz dringend nach Hause. Endlich hatte ich meine Schuhe an und schaute mich suchend nach meiner Lederjacke um. Schließlich entdeckte ich sie auf dem elektronischen Klavier unter dem Fenster. Ich schob mich an Jack vorbei, der noch immer vor der Bettkante stand und mich nachdenklich musterte – Konnte der mal damit aufhören? So langsam machte er mich echt nervös. – und griff nach meiner Jacke. Langsam strichen meine Finger über die weißen Tasten und ein kleines Lächeln legte sich auf meine Lippen. Ich hatte schon so lange nicht mehr gespielt. Meine Eltern hatten im Wohnzimmer ein Piano stehen, auf dem ich ständig gespielt hatte, aber hier in New York war für so etwas kein Platz. Nicht mal ein Keyboard würde in Mellis und mein Zimmer passen.
„Kannst du spielen?", fragte ich Jack neugierig und schaute über die Schulter zu ihm zurück, wobei mir auffiel, dass er mich noch immer intensiv beobachtete. Doch bevor ich ihm die Chance ließ zu antworten, wandte ich meinen Blick wieder dem Klavier zu und erzählte: „Ich spiele seitdem ich zehn Jahre alt war. Meine Eltern haben einen großen Flügel, aber seit dem Umzug habe ich nicht einmal ein Klavier anfassen können."
Es war kurz still, als ich meine Finger weiter über die Tasten wandern ließ und erst dachte ich, Jack würde mir gar nicht mehr antworten, hatte vielleicht sogar schon längst das Zimmer verlassen.
„Nein."
Seine Stimme war kalt, gelangweilt, wie immer und langsam nickend zog ich meine Finger zurück. Die Stimmung zwischen uns war merkwürdig geworden und ich räusperte mich, während ich in meine Jacke schlüpfte.
„Ich sollte dann mal gehen.", teilte ich ihm mit und sah, wie er langsam nickte. Dann herrschte Stille und wir standen einfach nur so da, zwei oder drei Meter voneinander entfernt, schauten uns wortlos an und wussten nicht, was wir nun sagen sollten.
„Wenn du willst, kann ich dir mal zeigen, wie man spielt.", bot ich als eine Art Dankeschön an, aber Jack sagte nichts, schaute mich weiterhin einfach nur emotionslos an. Er stand einfach so da, wie eine Statue und das Sonnenlicht schien durch das Fenster direkt auf seine nackte Haut, beleuchtete die Tattoos und ließ seinen Lippenring funkeln und ich schluckte schwer. Im Licht sahen seine Haare und seine Augen aus wie pure Schokolade und auf einmal wurde mir überall ganz warm. Erneut räusperte ich und riss mich von seinem Anblick los, bevor ich ohne ein weiteres Wort das Zimmer verließ. Im Wohnzimmer sah ich Sabrina auf der kleinen Kommode neben der Wohnungstür sitzen und ich lächelte, als ich ihr vorsichtig den Kopf kraulte.
„Hoffentlich sehen wir uns bald mal wieder.", flüsterte ich ihr leise zu, bevor ich einen letzten Blick in Richtung Schlafzimmer warf, doch Jack war mir nicht gefolgt. Seufzend öffnete ich die Wohnungstür, wank Sabrina noch einmal kurz zu und verließ dann Jacks Wohnung.
Mithilfe von Google Maps hatte ich es eine Stunde später tatsächlich geschafft, vor meiner und Mellis Zimmertür zu stehen und erleichtert atmete ich durch, bevor ich klopfte. Ich hatte gar keine Zeit, mir eine Erklärung auszudenken, da hatte Melli auch schon die Tür weit aufgerissen, mich am Arm gepackt und kräftig ins Zimmer gezogen. Überrascht stolperte ich durch die Tür, welche meine Freundin kurz darauf schwungvoll ins Schloss warf und mich dann mit beiden Händen an den Oberarmen packte.
„Wo hat er dich hingebracht? Habt ihr miteinander geschlafen? Habt ihr verhütet? Oh mein Gott, sag mir bitte, dass du nicht schwanger bist!"
Überfordert ließ ich mich von der Lilahaarigen durchschütteln und konnte nicht anders, als nach ihrem kleinen Ausbruch laut loszulachen. Überfordert beobachtete Melli, wie ich mich aus ihrem Griff wand und dann auf mein Bett plumpsen ließ.
„Was ist denn jetzt?", harkte sie ungeduldig nach und ließ sich mir gegenüber auf ihrem Bett nieder. Ich schüttelte belustigt den Kopf, als ich aus den Schuhen schlüpfte und sie Melli reichte, da diese ja eigentlich ihr gehörten. Dann zog ich meine Jacke aus und fuhr mir einmal durch die langsam fettenden Haare, genoss, wie Melli vor Neugier beinahe platzte.
„Ich würde niemals, wirklich niemals mit deinem Bruder schlafen, Melli. Nicht einmal, wenn er und ich die letzten Menschen auf der Erde wären und die gesamte Zukunft der Menschheit auf dem Spiel stehen würde.", beruhigte ich sie und wanderte rüber zu meinem Schrank, um mir frische Kleidung zusammen zu suchen.
„Oh."
Melli schien beinahe enttäuscht von meiner Antwort zu sein und fragend hob ich eine Augenbraue hoch.
„Schlecht für dich, gut für Kathy.", sagte sie dann mit einem Schulterzucken und ich bildete mir ein, dass sie verschmitzt grinste, als sie sich von mir abwandte. Ein kleiner Stich wanderte durch meine Brust, als ich an den letzten Abend dachte und wie die beiden miteinander tanzten. Ich wusste, worauf Melli anspielte. Ich war mir mittlerweile ziemlich sicher, dass die Braunhaarige etwas für Jack empfand und wenn man mal bedachte, dass die beiden schon länger miteinander schliefen, schienen ihre Chance auch gar nicht mal so klein zu sein. Heftig schüttelte ich den Kopf, um den Gedanken an Kathy und Jack loszuwerden und verschwand dann im Bad, um eine heiße Dusche zu nehmen.
*
Als ich am Nachmittag in meinem Journalismusseminar saß, konnte ich mich nur mit viel Mühe auf die Worte meiner Professorin konzentrieren. Das Bild von Jack, wie sein nackter Oberkörper in der Sonne geleuchtet hatte, hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt und es kam immer wieder hoch. Seine Augen, die wie flüssige Schokolade in meine geschaut hatten und das Funkeln des kleinen Metallrings an seinen rosigen Lippen. Frustriert vergrub ich mein Gesicht in den Händen, doch als ich die Augen schloss, wurde das Bild nur noch klarer. Das Spiel seiner Muskeln, das schiefe Schmunzeln auf seinen Lippen und ganz plötzlich stellte ich mir vor, wie mein nackter Oberkörper dicht an seinen gepresst war und wie seine weiche Haut meine berührte. Mit hochroten Wangen fuhr mein Kopf hoch und meine Oberschenkel knallten schmerzhaft gegen die Tischplatte, als ich ruckartig hochfuhr. Ein paar wenige Blicke lagen auf mir, doch ich schnappte nur hastig meine Tasche und eilte dann aus der Tür am hinteren Ende des Raumes, neben der ich gesessen hatte und so war mein überstürzter Abgang beinahe unbemerkt. Genervt stöhnte ich auf, als ich durch die leeren Gänge stürmte. Ich wusste nicht einmal, wo genau ich hinwollte, aber ich hatte es keine Sekunde länger in dem kleinen Klassenraum ausgehalten. Immer wieder drängten sich Bilder von Jack in meine Gedanken. Wie er heute zwischen den unordentlichen Laken gelegen hatte. Wie sich mein Körper über seinen beugte, meine Finger seine Tattoos nachfuhren und die Muskeln unter seine Haut spürten. Auch wenn all dies nie wirklich passiert war, fühlte es sich erschreckend echt an und als ich es endlich aus dem Gebäude geschafft hatte, musste ich aufgrund der unangenehm hellen Sonne die Augen zusammenkneifen. Schwer atmend reckte ich mein Gesicht in die Höhe, genoss, wie die Sonne meine eh schon erhitzten Wangen wärmte und hoffte, sie könnte die Bilder aus meinem Kopf brennen. Erst als sich mein Atem langsam beruhigte, öffnete ich wieder die Augen und ließ meinen Blick über den überfüllten Campus werfen. Ich blieb einfach an Ort und Stelle stehen und suchte die Menge krampfhaft nach einem ganz bestimmten Gesicht ab. Ich wusste, es konnte und durfte so einfach nicht weitergehen. Erleichterung machte sich in mir breit, als ich den Mann entdeckte, nach dem ich gesucht hatte und ohne wirklich über meinen nächsten Schritt nachzudenken, rannte ich über den Campus direkt auf ihn zu.
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